Moderne

1. Zur Definition

Der Begriff „Moderne“ geht auf das lateinische Adjektiv „modernus“ zurück und bringt „Neues“ zum Ausdruck: ein neues Zeitalter, einen neuen Zustand der Gesellschaft, neue geistige Strömungen, ein neues Lebensgefühl. Damit ist dieser Begriff aber noch nicht genau bestimmt, denn Neues kann im Alten entstehen und Altes vermag im Neuen zu überleben. So gesehen können Altes und Neues nebeneinander bestehen und schließen sich nicht gegenseitig aus. Doch im Begriff der „Moderne“ steckt mehr, es ist etwas, das dem Neuen eine besondere Qualität verleiht, so dass das Alte abgewertet oder verdrängt wird, das Neue aber einen Siegeszug antritt und die Menschen in ihren wichtigsten Lebensbereichen zu beherrschen beginnt. Nicht zufällig wird gesagt, dass die „Mode“ den Ton angibt und jeden, der nicht mit der „Mode“ geht, angeblich „alt“ aussehen lässt. Eine besondere Qualität erhält der Begriff der „Moderne“ dadurch, dass sich mit ihm ein neues Verständnis der Zeit verbindet, die immer und immer wieder neue Zeit sein wird. Es ist die Zeit, die sich nicht mehr kreisförmig wiederholt, sondern die wie ein Pfeil in die Zukunft vorstößt. Das zirkuläre wird vom vektoralen Zeitverständnis abgelöst (Eliade, Kosmos und Geschichte, 1994; Goertz, Umgang mit Geschichte, 168 ff.). Das hat eine grundlegende Bedeutung für die Orientierung des Menschen in seiner Welt. Sein Verhältnis zur Welt, zu allem, was ist, zu Menschen, nichtmenschlichen Lebewesen, zur Natur, zu Institutionen, zum Denken, Fühlen und Glauben, hat sich verändert. Eine tiefe Kluft trennt ihn auf einmal von allem, was war, stellt ihn vor neue Horizonte. Was vergeht, kehrt nicht wieder, und was kommt, ist anders und immer wieder neu. Das war im Gang der Geschichte eine epochale Erfahrung des Menschen. Ihre besondere Qualität erhält die „Moderne“ dadurch, dass sich das Neue, das sie darstellt, mit der Erfahrung vektoraler Zeit verbindet. Reinhart Koselleck spricht von der „Verzeitlichung aller kategorialen Bedeutungsverhältnisse“ (Koselleck, Einleitung), d. h. mit dem neuen Zeitverständnis hat sich nicht nur dieses und jenes, sondern die Zeit selbst verändert. Auch sie kehrt nicht wieder, sondern schreitet voran und zieht alles, was ist, mit sich in eine noch nicht gesicherte Zukunft fort, indem sie allem eine neue Gestalt, einen neuen Inhalt und eine neue Deutung verleiht. So wird Moderne zu einem Prozess, in dem die Gegenwart von nachhaltiger Bindung an Vergangenheit und Tradition gelöst und alles immer wieder neu wird. Dieser Prozess lässt sich zeitlich nicht begrenzen und nicht auf eine Epoche, etwa auf das Zeitalter der Moderne, beschränken. Die Moderne ist mehr und anderes als eine historische Epoche, bedingt durch die Intensität, mit der sie auftritt, ist sie freilich auch das. So kann sie „rückwirkend auch eine Periode meinen, die insgesamt – gegenüber dem Mittelalter – als neu begriffen wird“ (Koselleck, „Neuzeit“, 310). Pathetisch ausgedrückt, sie ist zum Schicksal des Lebens, zu einer neuen Einsicht in die „conditio humana“, in die Bedingung menschlicher Existenz, geworden.

2. Beginn und Ambivalenz der Moderne

Umstritten ist, wann sich dieser epochale Einschnitt ereignete oder, falls das über einen längeren Zeitraum hinweg geschah, wann die Schwelle zur Moderne überschritten wurde. Einige Historiker verbinden den Begriff der Moderne mit dem Beginn der Neuzeit, auch wenn das mehr als problematisch ist, da die Moderne sich erst innerhalb und nicht zu Beginn der Neuzeit ausgebildet hat. Für sie beginnen die Veränderungen, die in Westeuropa zu einer neuen Zeit führen, als die Städte gegründet wurden und eine eigene Kultur entfalteten oder sich Territorial- und Nationalstaaten ausbildeten (vom 11. bis 13. Jahrhundert). Für zahlreiche Philosophiehistoriker und Ideengeschichtler bildete das erwachende kulturelle Leben in der Renaissance und im Humanismus eine epochale, auf die moderne Philosophie und auf die neuere Wissenschaft hinweisende Zäsur. Mit Nikolaus Kopernikus (1473–1543), Andreas Vesalius (1514–1664), Galileo Galilei (1564–1642), Isaac Newton (1643–1527) und Charles Darwin (1809–1892) vollzog sich der Aufstieg der Naturwissenschaften auf imponierende Weise. Sozial- und Wirtschaftshistoriker neigen dazu, diesen Einschnitt mit dem Geist des Kommunalismus, einer Revolte gegen die Herrschaft der oberen Stände, Klerus und Adel, oder mit der Reformation, der französischen Revolution, dem fortschreitenden Kapitalismus bzw. der Industriellen Revolution des 19. Jahrhunderts zu verbinden. Für Koselleck beginnt die Moderne im Zuge der →Aufklärung in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Er nennt diese Zeit die „Sattelzeit“, das Ende der mittelalterlichen Ständegesellschaft und den Aufbruch in moderne Zeiten. Dieser Aufbruch ist nicht plötzlich erfolgt, vielmehr hat er sich seit dem späten Mittelalter mit dem sogenannten „apokalyptischen Saeculum“, d. h. mit der vektoralen Ausrichtung der Zeit auf das Ende der Welt hin angedeutet (Peuckert, Die große Wende, 1966; Hans-Jürgen Goertz, Ende der Welt und Beginn der Neuzeit, 2002; Fried, Aufstieg aus dem Untergang, 2001). Es wurde zwar der Untergang der Christenheit im Weltgericht Gottes erwartet, tatsächlich eingestellt haben sich aber säkularisierende Staaten und Gesellschaften, die sich von den religiösen Institutionen zu emanzipieren begannen, ebenso Wissenschaft und Philosophie, die sich theologischer Bevormundung entzogen und kritischer Vernunft anvertrauten. Die Welt, wie sie ist, Welt sein zu lassen, war sicherlich eine Einsicht, die vom Glaubensverständnis der Reformation, wie Luther sie anstrebte, inspiriert wurde und zu eigener Aussage und Dynamik in der Aufklärung und den nachfolgenden Jahrhunderten fand. So wird die Säkularisierung die „notwendige und legitime Folge des christlichen Glaubens“ (Gogarten, Verhängnis und Hoffnung der Neuzeit, 2. Aufl. 1958, 143).

Die zivilisatorischen Errungenschaften, die sich mit der Moderne verbinden, sind enorm: Die Gesellschaft wurde in zahlreichen Ländern vom ständischen Aufbau des Mittelalters befreit, Staaten erhielten schrittweise eine demokratische Verfassung, Wissenschaft und Technik traten einen ungeahnten Siegeszug im Zeichen der „Vernunft“ an, die universale Geltung für sich beanspruchte, und sorgten für eine Verbesserung der Lebensverhältnisse. Die Verdienstmöglichkeiten auch der niedrigsten Bevölkerungsschichten verbesserten sich, Krankenversorgung und Hygiene wurden sicher gestellt, so dass auch die Lebenserwartung stieg. Das kulturelle Leben blieb nicht nur den oberen Schichten vorbehalten, Bildung sollte nun allen ermöglicht werden. Neben dieser positiven Bilanz der Moderne, die sich im Begriff des wissenschaftlichen und technologischen Fortschritts zusammenfassen lässt, steht allerdings auch eine negative. Wissenschaft und Technik wurden eingesetzt, um Vernichtungswaffen herzustellen, die in Kriegen von ungeheurem Ausmaß, vor allem im 20. Jahrhundert, eingesetzt wurden. Not und Elend, von Menschen erzeugt, haben sich auf schwindelerregende Weise vermehrt. Die Natur und ihre Kräfte sind so beherrschbar geworden, dass die Menschheit sich in die Lage versetzt hat, sich selbst zu zerstören. Mit diesen Möglichkeiten konnte die biologische, seelische und geistige Ausstattung des Menschen allerdings nicht mehr Schritt halten. Das ist das große ökologische Thema in den letzten Jahrzehnten. Der Philosoph Günther Anders sprach zwar im Hinblick auf die atomaren Vernichtungspotentiale von der „Antiquiertheit des Menschen“ (1956 und 1980), was jedoch für die globale Belastung der Umwelt nicht minder gilt. Die Ambivalenz von Kreativität und Destruktivität ist inzwischen zum Signum der Moderne geworden und von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno schon seit langem als „Dialektik der Aufklärung“ analysiert worden (1947). Veraltet ist diese Dialektik noch nicht. Sie wird wohl mit der Moderne in den vielfältigen Formen ihrer Erscheinungsweise verbunden bleiben.

3. Moderne in philosophischer und theologischer Diskussion heute

Diskutiert wird heute Segen und Fluch der Moderne, nicht nur in Philosophie und Wissenschaft, sondern auch in der Theologie. Die Wege, die beschritten werden, unterscheiden sich voneinander. Zum einen versuchen Philosophen und Theologen, die positiven Züge der Moderne zu durchdenken und zu stärken: so etwa Jürgen Habermas in „Moderne – ein unvollendetes Projekt“ (Habermas, Moderne, 32–54) und der mennonitische Theologe Gordon D. →Kaufman (Harvard University) in seinen systematischen Abhandlungen zur Theologie in historistischer Perspektive oder neuerdings in seinem Buch In Face of Mystery (1995). (Freilich gibt es auch Stimmen, die Gordon D. Kaufman als einen postmodernen Theologen zu verstehen versuchen: vgl. Allain Epp Weaver, Options in Postmodern Mennonite Theology, 1993). Zum anderen hat der kanadische Philosoph George Grant große Beachtung gefunden. Er unterzog das Konzept der Moderne einer grundlegenden Kritik und regte an, wieder vor die Moderne zurückzugreifen (Grant, Technology and Empire, 1969). Seine Ideen hat der mennonitische Theologe A. James Reimer aufgegriffen und die Bekenntnis- und Dogmenbildung der sogenannten klassischen Theologie (vor allem der Kirchenväter) für eine Explikation des Glaubens in modernen Zeiten nutzbar gemacht: „A pre-modern understanding of God is demanded to restrain the unlimited manipulation of nature, history and humans by humans“ (Reimer, Mennonites and Classical Theology, 2001, bes. das erste Kapitel: Theological Method, Modernity, and the Role of Tradition, 21–35, hier: 31). Oft ist die neuere Diskussion in das Problem vom „Ende der Moderne“ eingemündet, d. h. in die Auseinandersetzung mit dem Begriff der sogenannten →Postmoderne. Es wird mit der Frage gerungen, ob die Moderne überwunden werden könne (so schon Martin Heidegger, Verwindung der Moderne, 1949) oder ob es im Sinne Michel Foucaults möglich ist, den Weg in die Moderne noch einmal anders als bisher zu gehen (Goertz, Unsichere Geschichte, 68). Doch es gibt nicht nur diese Arbeit an den theologischen Problemen, die sich der Kirche mit der Moderne stellen. Zu erinnern ist auch an die Auseinandersetzungen um die Entmythologisierung der christlichen Botschaft (Rudolf Bultmann und seine Schule) und die Diskussionen um eine „Gott-ist-tot-Theologie“ (Robinson, Gott ist anders, 1963; Hamilton, Die Gestalt einer radikalen Theologie, 2003; Vahanian, Der Tod Gottes, 2003) auf der einen Seite und die apologetischen Versuche zumeist evangelikaler Kreise auf der anderen Seite, sich gegen den „Atheismus“, vor allem in der Theologie, zur Wehr zu setzen.

4. Reformation und Moderne

Auf dem Weg in die Moderne spielte die →Reformation eine wichtige, wenn auch kontrovers diskutierte Rolle. Zwar hat sich die Moderne in der Reformation noch nicht voll ausgebildet, sie war aber, vor allem in ihrem Aufbruch während der frühen zwanziger Jahre des 16. Jahrhunderts mit der Vielfalt reformatorischer →Bewegungen, eine wichtige Etappe auf dem Weg in diese Richtung. Besonders deutlich hat sich das zuletzt in den Diskussionen um die „Theorie der frühbürgerlichen Revolution“ gezeigt, aber auch schon in den Auseinandersetzungen um Max Webers Protestantische Ethik und den Geist des Kapitalismus (1906). Weber sah im veränderten Verhältnis des Menschen zu Gott und seiner Welt einen entscheidenden Impuls für die Entstehung des modernen →Kapitalismus. Zurückhaltender urteilte Ernst →Troeltsch. Er entdeckte im reformatorischen Aufbruch zwar Züge der Modernität, sah im sogenannten Altprotestantismus aber noch eine Welt, die mehr dem Mittelalter als der Moderne zugehörte (Troeltsch, Die Bedeutung des Protestantismus für die Entstehung der modernen Welt, 1911). Im Fahrwasser dieser Diskussionen hat zuletzt Heinz Schilling die mit der Reformation verbundene Modernitätszäsur abgemildert und von „Modernisierungsschüben“, die den weiten Bogen vom Mittelalter zur Aufklärung und zu den Revolutionen des 19. Jahrhunderts umspannen, oder auch von der „werdenden Neuzeit“ gesprochen (Schilling, Aufbruch und Krise, 1988; ders., Die neue Zeit, 1999). Ein besonderes Problem in der Frage nach dem Zusammenhang von Reformation und Moderne entsteht, wenn sich Theologen in diese Diskussion einmischen und stärker von der Theologie der Reformatoren her argumentieren als von der konkreten Gestalt, den die reformatorischen Gedanken im kirchlichen, sozialen und kulturellen Leben damals fanden. So sprach Heiko A. Oberman davon, dass die reformatorische Botschaft Martin →Luthers weder dem Mittelalter noch der Neuzeit angehört, sondern in ihrem Ringen zwischen „Gott und Teufel“ die Zeiten überspringt und weder dem Mittelalter noch der Neuzeit zuzurechnen ist. Oberman betont, dass Luther kein „Weltverbesserer“ war, der eine erfolgversprechende Offensive zur geistigen Aufrüstung der Neuzeit startete (…). Nicht die Neuzeit, sondern die Endzeit wird von Luther ausgerufen, zwar das Ende des Mittelalters, aber zugleich der Anfang vom Ende aller Zeiten“ (Oberman, Luther, 84 f.). Die historische Forschung wird diesen endzeitlichen Aspekt zwar respektieren, sie wird von ihm aber nicht das historische Verständnis der Quellen beherrschen lassen. Das gilt auch für die Erforschung des Täufertums, einer reformatorischen Bewegung, der ein besonderes Verhältnis zur Moderne nachgesagt wird. Die →Täufer waren davon überzeugt, die Lehre entdeckt zu haben, die über alle Zeiten hinweg „wahr“ sei, doch der Ausdruck, den diese Lehre fand, war ständiger Veränderung unterworfen, nicht nur in der eigenen Zeit, sondern über die Jahrhunderte hinweg. Besonders dieser Aspekt ist zu beachten, wenn nach dem Verhältnis von Täufertum und Moderne gefragt wird.

5. Die Täufer auf dem Weg in die Moderne

Zunächst wurden spiritualistische Einzelgänger der Reformation, Dissidenten mit eigenständigen, über die Denkansätze ihrer Zeit hinausweisenden Meinungen als Vorboten der Moderne begrüßt: besonders Thomas Müntzer, Sebastian Franck Theophrast Paracelsus und Sozinianer bzw. Antitrinitarier. Unter dem Gesichtspunkt propagierter Trennung von Kirche und Staat und der Forderung nach Religionsfreiheit und Toleranz gehörten dazu auch die Täufer. So schrieb Wilhelm Dilthey, dass nicht Martin Luther, sondern den radikalen Forderungen, die „auf dem Grunde des echten Evangeliums von den Täufern, den revolutionären Bauern und den städtischen Spiritualisten erhoben wurden“, die Zukunft gehören sollte (Dilthey, Weltanschauung und Analyse des Menschen, 247). Stärker auf den kirchlichen bzw. konfessionellen Beitrag zur Moderne ausgerichtet, hat Roland →Bainton von den Forderungen der „Freiwilligkeitskirche, der Trennung von Kirche und Staat und Religionsfreiheit“ gesprochen, die vom Täufertum zwar nicht durchgesetzt, aber doch in Gang gesetzt wurden (Bainton, Der täuferische Beitrag zur Geschichte, 299). Entschiedener hat der mennonitische Historiker Harold S. →Bender formuliert: „Es ist keine Frage, daß die großen Prinzipien von Gewissensfreiheit, Trennung von Kirche und Staat und Freiwilligkeit in Religionsangelegenheiten letztlich von den Täufern herkommen, die sie erstmals klar herausstellten und die christliche Welt aufforderten, sie auch in die Tat umzusetzen“ (Bender, Das täuferische Leitbild, 32). Allerdings hat Bender darin nicht das besondere religiöse bzw. theologische Anliegen der Täufer gesehen. Das bestand in der Nachfolge Christi, der Liebesethik und der Gemeinde der Gläubigen als Bruderschaft und einer neuen Ethik der Liebe und Wehrlosigkeit. Da die Täufer sich der allgemeinen gesellschaftlichen Entwicklung gegenüber nicht verpflichtet fühlten, können die Forderungen nach modernen Entwicklungen nicht grundlegend für sie gewesen sein. „Aber so groß der täuferische Beitrag zur Entwicklung der Religionsfreiheit gewesen ist, so ist doch dieser Begriff nicht nur nicht erschöpfend, sondern läßt faktisch auch eine Definition des wahren Wesens des Täufertums vermissen. Die „Religionsfreiheit“ bleibt eine „rein formale Konzeption von sterilem Gehalt“ (S. 33). Die Täufer, die Bender im Auge hatte, wollten sich aber in der Nachfolge Christi bewähren, nicht nur als Einzelne, sondern auch als Gemeinschaft. Sie trugen sich überhaupt nicht mit der Absicht, gesellschaftliche Strukturen der Moderne zu erzwingen. Sie erhofften sich zwar eine „christliche Gesellschaft“, vorerst aber galt es, „der bestehenden Weltordnung zu trotzen“ (S. 50). Für eine theologische Deutung des Täufertums zählt bei Bender und seiner Schule allein die ureigene Intention der Täufer, nicht der Nebeneffekt, der in dieselbe Richtung wies, in der alle Kräfte, die über wirklichkeitsgestaltende Macht verfügten, nach einer kritischen, d. h. auch fortschrittlichen Veränderung der Existenzbedingungen zwischen Mittelalter und Neuzeit suchten. Das theologische Proprium aber stand nicht nur kritisch zu den Tendenzen der offiziellen Reformation, sondern auch der „Moderne“. Es wurde zum zeitübergreifenden Kriterium, an dem die Rechtmäßigkeit des Christentums (innerhalb und außerhalb des Mennonitentums) und einer gottgewollten Gesellschaft gemessen wurde.

Wird jedoch nicht zwischen dem unterschieden, was die Täufer wollten, und dem, was sie waren, sondern die Intention aus der konkreten Gestalt des Täufertums in seiner Zeit zu erkennen und zu deuten versucht, dann muss der Weg der Täufer in die Moderne noch einmal untersucht werden.

(1) Die Bewegungen der Täufer entstanden im antiklerikalen Milieu der frühen Reformationszeit (→Antiklerikalismus) und haben dazu beigetragen, dass ein Wandel von der Kleriker- zur Laienkultur vollzogen werden konnte. Sich von der Bevormundung durch den Klerus, den Repräsentanten der Religion zu befreien, war eine der wichtigsten Forderungen der beginnenden Aufklärung. Die „Bewegung zur Laisierung“ (Otto Brunner) war zugleich die Einleitung des sogenannten Säkularisierungsprozesses im westlichen Abendland. Die Täufer bewegten sich im Trend zur Säkularisierung, ihre Gemeinden selbst aber versuchten sie vor diesem Trend zu bewahren. Als Gemeinden „innerhalb der Vollkommenheit Christi“ (so z. B. die Schweizer Täufer, die Hutterischen Brüder oder Gemeinden der Mennoniten) wurden sie aus dem allgemeinen Lauf der Geschichte, in dem sich die gesamte Gesellschaft modernisierte, herausgenommen.

(2) Unter dem Eindruck der antiklerikalen Auseinandersetzungen betonten die Täufer mehr als die →Rechtfertigung des Sünders durch den Glauben allein (Luther), den Prozess der „Rechtfertigmachung“. Der sichtbare moralische Verfall des geistlichen Standes forderte einen ebenfalls sichtbaren Wandel des Menschen. Die Täufer teilten nicht Luthers pessimistisches Menschenbild, sondern leiteten aus der Rechtfertigung des Sünders die Möglichkeit ab, ein gottgefälliges Leben in der →Nachfolge Christi führen zu können. Nicht die lutherische Dialektik des „simul iustus simul peccator“ (Sünder und gerecht zugleich) wurde beibehalten, sondern eine Ethisierung des Glaubens auf der Grundlage des reformatorischen Rechtfertigungsverständnisses angestrebt. Hier ist die Tendenz zur aufklärerischen „Perfektibilität des Menschen“ angelegt und das Bewusstsein für die religiöse und moralische Individualität des Menschen erwacht, das vorher wohl nicht so stark ins einfache Volk eingedrungen war. In der praktischen Philosophie der Moderne wurde dann zwischen christlicher und profaner Moralität getrennt, einer vom Heiligen Geist gelenkten und einer säkular bestimmten Lebensführung. Doch das war keine Trennung aus dem Geist des Täufertums, sondern aus dem Geist säkularer Vernunft. So gesehen verdient der Inhalt täuferischer Moralität nicht die Auszeichnung, modern zu sein.

(3) Die Verbesserung der religiösen, sozialen und politischen Lebensverhältnisse wurde in der frühen Reformationszeit im Geist des „Kommunalismus“ angestrebt, der die „Gemeinde“ als „horizontales“ Ordnungsprinzip dem „vertikalen“ Herrschaftsprinzip entgegensetzte (Blickle, Reformation im Reich, 158). Die Reformatoren hatten der Gemeinde zwar zunächst eine theoretische Rechtfertigung gegeben, ihre Verwirklichung dann aber der immer noch vertikal ausgerichteten weltlichen Herrschaft anvertraut. In seiner staatlichen Form hätte der Kommunalismus zur Republik geführt und sich in einen Gegensatz zum Territorialfeudalismus des frühmodernen Staates gestellt. Wird bedacht, wie intensiv die Täufer in den kommunalen Befreiungskampf des „gemeinen Mannes“ verwickelt waren und sich die „Gemeinde“ als religiöse Gemeinschaftsform wählten, wird auch ihnen ein fester Platz im Kampf gegen den Territorialfeudalismus und die alteuropäische Ständeordnung eingeräumt werden müssen. Die religiöse Gemeindeordnung hatte eine unmittelbare, von ihr nicht zu trennende soziale Neuordnung ihrer Umwelt zur Folge und trug dazu bei, eine Pluralität kommunaler und republikanischer Gemeinwesen hervorzubringen. In diesem pluralistischen, normativ im Einzelnen nicht festgelegten Erscheinungsbild des Kommunalismus als Bewegung gegen das Fortbestehen vertikaler Herrschaftsordnung drückt sich seine Modernität aus. Diese Bewegung hat sich letztlich nicht durchsetzen können. Durchgesetzt hat sich ein territorialer und staatlicher Absolutismus. So ist den Täufern wie dem „gemeinen Mann“ dieser „kommunale“ Weg in die Moderne versagt geblieben. Je mehr die täuferischen Gemeinschaften sich von ihren Ursprüngen im antiklerikal-kommunalistischen Kampf der frühen Reformationszeit entfernten, um so mehr haben sie die Verbindung zum komplizierten Entwicklungsprozess der Moderne verloren und sind zu einem geduldeten oder privilegierten Anachronismus verkümmert, der die traditionelle Ständeordnung stabilisierte und nicht wie im reformatorischen Aufbruch zerrüttete.

Der „Weg der Täufer in die Moderne“ erscheint im Nachhinein in einem ambivalenten Licht. Einiges weist voraus, anderes bleibt zurück oder verläuft sich im Abseits apokalyptischer Phantasie und unzeitgemäßer Abgeschiedenheit.

Nach der Reformationszeit lassen sich zwei Trends feststellen. Während niederländische, nordwestdeutsche und preußische Nachfahren der Täufer einen Weg allmählicher Anpassung an die sie umgebende Gesellschaft (→Akkulturation) beschritten, wählten vor allem die vom schweizerischen Täufertum abstammenden Gruppierungen, aber auch mennonitische Gemeinden im Norden, den Weg der Absonderung und suchten sich Nischen in ihrer Umgebung, um ihren Glauben in aller Abgeschiedenheit leben und sich dem zivilisatorischen Trend der jeweiligen Zeit verschließen zu können. Besonders war das in den Gemeinden der →Amischen der Fall und der Hutterischen Brüder in →Mähren und Ungarn, vor allem aber auch in zahlreichen Mennonitengemeinden Nordamerikas: unter den Amischen, Old Order Mennonites, Old Mennonites und kleineren konservativen Gemeinschaften.

Nordamerika muss aber unter dem Gesichtspunkt der „Moderne“ noch aus einem anderen Grund erwähnt werden. Hier hat sich die im frühen Täufertum anklingende und im Puritanismus der nächsten Jahrhunderte verstärkende Forderung nach einer Trennung von Kirche und Staat so durchgesetzt, dass sie in die Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika aufgenommen wurde und fortan das Verhältnis zwischen den Kirchen und dem Staat und das Verhältnis der Kirchen zueinander bestimmt (→Denominationen). Dieser Verfassungsgrundsatz mit seinem staatsrechtlich garantierten kirchlichen →Pluralismus ist ein wesentlicher Grundzug der Moderne, wie sie oben beschrieben wurde. So gesehen nehmen auch die weltabgewandten, technik- bzw. modernisierungsfeindlichen religiösen Gemeinschaften Nordamerikas an einer grundlegenden Errungenschaft der Moderne teil. Sie sind weniger antimodern als vielmehr vormodern eingestellt. Antimodern sind jene Denominationen, die sich im Zuge des →Fundamentalismus gegen die Evolutionslehre Charles Darwins aussprechen und trotz aller naturwissenschaftlichen Bedenken an der biblischen Schöpfungslehre festhalten („Kreationismus“).

6. Moderne und Täuferforschung

Der Gesichtspunkt der Moderne hat schließlich noch eine geschichtswissenschaftliche Bedeutung für die Erforschung des Täufertums. Die historische Kluft, die mit der Moderne aufgerissen wurde, so dass zwischen Vormoderne und Moderne in jeder Hinsicht unterschieden werden muss (religiös, philosophisch, politisch, sozial und wirtschaftlich), lässt auch erkennen, dass die Beziehung zwischen dem vormodernen Täufertum und dem modernen Mennonitentum problematisch geworden ist. Die späteren Mennoniten können sich nicht mehr ungebrochen auf die Täufer berufen. Sie müssen die kulturelle Zäsur zwischen Vormoderne und Moderne mit bedenken. Am deutlichsten wird das an der Forderung, Kirche und Staat voneinander zu trennen. Wenn die Täufer eine Trennung ihrer Gemeinden von weltlicher Obrigkeit anstrebten, war das eine Obrigkeit, in der ihnen der Herrscher als Standesperson entgegentrat und sie in einen personalen Herrschaftsverband aufnahm. Der Herr hatte das Recht, Herrschaft über „Land und Leute“ (Otto Brunner) auszuüben, und er hatte die Pflicht, die Untertanen vor Feinden zu schützen und ihnen die Möglichkeit auskömmlicher Nahrung zu gewähren (Landleihe). Dafür mussten die Untertanen die Ernährung des Gemeinwesens sicherstellen und Naturalabgaben bzw. Geldabgaben an den Herrn abführen. In den Städten war der Rat die Obrigkeit, zu ihm standen die Bürger und übrigen Einwohner der Stadt in einer ähnlichen Beziehung. Diese Beziehung zur Obrigkeit hat sich mit der Moderne grundlegend geändert. In einem demokratisch verfassten Staat gab es keine ständische Differenzierung, und der Bürger war grundsätzlich Teil des Souveräns. Mit der politischen Partizipation war jeder Bürger an den Entscheidungen des Staates beteiligt. Es gab zwar eine Gewaltenteilung in Exekutive (Regierung) und Gesetzgebung (Judikative), hinzu kam die Rechtsprechung, aber der Urnengang des wahlberechtigten Bürgers entschied über die Organe des Staates. So waren die Belange, die der Staat regelte, die ureigenen Belange des Bürgers selbst. Um ein Beispiel zu nennen, das für Täufer und Mennoniten wichtig war: Wenn die Täufer der vormodernen Obrigkeit den Wehr- oder Kriegsdienst verweigerten, war das ein Verstoß gegen das Recht des Herrschers. Wurde der Wehr- und Kriegsdienst im modernen demokratischen Staat verweigert, wäre das eine Entscheidung gegen den Souverän gewesen, an dem die Mennoniten als Staatsbürger ja selbst beteiligt waren. In gewisser Weise hätten die Mennoniten sich gegen sich selbst entschieden bzw. wären in einen Selbstwiderspruch geraten. So hatte sich das Problem der täuferischen Kriegsdienstverweigerung als Merkmal einer religiösen Gemeinschaft von Grund auf verändert. Als Problem zwischen den Mennonitengemeinden und dem Staat musste es neu verhandelt bzw. in den Gemeinden selbst anders gelöst werden, als die Täufer es taten. Es wurde entweder dem Gewissen des Einzelnen überlassen, sich für oder gegen den Kriegsdienst zu entscheiden, oder ein beträchtlicher Teil der Gemeindeglieder entschied sich, den Kriegsdienst als Staatsbürgerpflicht an der Waffe zu übernehmen (→Wehrlosigkeit).

Am modernen Staatsverständnis zeigt sich, dass das Verhältnis der Täufer zur weltlichen Obrigkeit etwas anderes ist als das Verhältnis der Mennoniten zum modernen (demokratisch verfassten) Staat. Die historische Zäsur zwischen Vormoderne und Moderne hat die Inhalte des Obrigkeits- bzw. Staatsbegriffs grundlegend verändert: Obrigkeit ist etwas anderes als Staat. Deshalb hat die Täuferforschung darüber zu wachen, dass moderne Begriffe nicht die Vorstellungen und Einstellungen der Täufer zu den Institutionen ihrer Zeit entstellen oder verfremden, wie sie umgekehrt darauf zu achten hat, dass die theologischen Intentionen der Täufer nicht unbekümmert über die tiefe Kluft zwischen Vormoderne und Moderne in neuere Zeiten hinein getragen werden, um immer noch als Maßstab konfessioneller Identität zu dienen. Die tiefe Kluft zwischen Vormoderne und Moderne sorgt dafür, dass die Berechtigung des Mennonitentums nicht am Täufertum gemessen werden darf. Die Gemeinden der Mennoniten sind nach der „Sattelzeit“ konfessionelle Gemeinschaften aus eigenem Recht.

Literatur (in Auswahl)

Theodor Adorno und Max Horkheimer, Dialektik der Aufklärung, Frankfurt/M. 1969 (erstmals: New York 1944). - Günther Anders, Die Antiquiertheit des Menschen, 2 Bde., München 1956 und 1980. - Roland H. Bainton, Der täuferische Beitrag zur Geschichte, in: Guy F. Hershberger (Hg.), Das Täufertum. Erbe und Verpflichtung, Festschrift für Harold S. Bender, Stuttgart 1963, 299–308. - Harold S. Bender, Das täuferische Leitbild, in: Hershberger (Hg.), Täufertum, 31–54. Peter Blickle, Die Reformation im Reich, 2. Aufl., Stuttgart 1992. - Hans Blumenberg, Die Legitimität der Neuzeit, Frankfurt/M. 1966. - Otto Brunner, Land und Herrschaft. Grundfragen der territorialen Verfassungsgeschichte Österreichs im Mittelalter, 5. Aufl., Wien 1965. - Sheila Greeve Davaney (Hg.), Theology at the End of Modernity: Essays in Honor of Gordon D. Kaufman. Philadelphia, Pa., 1991. - Wilhelm Dilthey, Weltanschauung und Analyse des Menschen seit Renaissance und Reformation. Abhandlungen zur Geschichte der Philosophie und Religion, 3. Aufl., Leipzig 1923. - Mircea Eliade, Kosmos und Geschichte, Frankfurt/M. 1994. - Johannes Fried, Aufstieg aus dem Untergang. Apokalyptisches Denken und die Entstehung der modernen Naturwissenschaft. München 2001. - Hans-Jürgen Goertz, Umgang mit Geschichte. Eine Einführung in die Geschichtstheorie, Reinbek b. Hamburg 1995. - Ders., Das Täufertum – ein Weg in die Moderne? in: Ders., Das schwierige Erbe der Mennoniten, Leipzig 2002, 57–72. - Ders., Ende der Welt und Beginn der Neuzeit. Modernes Zeitverständnis im „apokalyptischen Saeculum": Thomas Müntzer und Martin Luther, Veröffentlichungen Nr. 3 der Thomas-Müntzer-Gesellschaft, Mühlhausen 2002. - Ders., Unsichere Geschichte. Zur Theorie historischer Referentialität, Stuttgart 2001. - Friedrich Gogarten, Verhängnis und Hoffnung der Neuzeit, 2. Aufl., Stuttgart 1958. - George Grant, Technology and Empire, Toronto 1969. - Mark Jantzen, Mary S. Sprunger und John D. Thiesen (Hg.), European Mennonites and the Challenge of Modernity over Five Centuries: Contributors, Detractors, and Adapters, North Newon, Kans., 2016. - Gordon D. Kaufman, In Face of Mystery. A Constructive Theology, Cambridge, Mass., und London (1993) 1995. - Jürgen Habermas, Die Moderne – ein unvollendetes Projekt, Philosophisch-politische Aufsätze 1977–1990, Leipzig 1990, 32–54 (ursprünglich 1980). - William Hamilton, Die Gestalt einer radikalen Theologie, in: Dean Peerman (Hg.), Theologie im Umbruch. Der Beitrag Amerikas zur gegenwärtigen Theologie. München 1968, 72–81. - Martin Heidegger, Einblick in das was ist (1949), Ges. Ausg. 1994). - Reinhart Koselleck, Einleitung, in: Otto Brunner, Werner Conze und Reinhart Koselleck (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 1, München 1972. - Ders., „Neuzeit“. Zur Semantik moderner Bewegungsbegriffe, in: Ders., Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. Frankfurt/M. 1985, 300–348. - Heiko A. Oberman, Luther. Mensch zwischen Gott und Teufel. Berlin 1981. - Will-Erich Peuckert, Die große Wende, 2 Bde., Darmstadt 1966. - A. James Reimer, Theological Method, Modernity, and the Role of Tradition, in: Ders., Mennonites and Classical Theology. Dogmatic Foundations for Christian Ethics. Kitchner, Ont., 2001, 21–35. - John A. T. Robinson, Gott ist anders, München 1965. - Heinz Schilling, Aufbruch und Krise. Deutschland 1517 – 1648, Berlin 1988. - Ders., Die neue Zeit: Vom Christeneuropa zum Europa der Staaten. 1250 – 1750, Berlin 1999. - Paul Toews, Mennonites in American Society, 1930-1970. Modernity and the Persistence of Religious Community, Harrisonburg, VA, 1996. - Ernst Troeltsch, Die Bedeutung des Protestantismus für die Entstehung der modernen Welt, in: Ernst Troeltsch Lesebuch, hg. von Friedemann Voigt, Tübingen 2003, 167–182. - Gabriel Vahanian, Der Tod Gottes und der christliche Glaube als Ikonoklasmus, in: D. Peerman (Hg.), Theologie im Umbruch, 195–204. - Alain Epp Weaver (Hg.), Mennonite Theology in Face of Modernity. Essays in Honor of Gordon D. Kaufman, North Newton, Kans., 1996. - Ders., Options in Postmodern Mennonite Theology, in: Conrad Grebel Review, Winter 1993, 63–76. - Max Weber, Protestantische Ethik und Geist des Kapitalismus, 3. Aufl., Hamburg 1973 (Tübingen 1920).

Hans-Jürgen Goertz

 
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