Rechtfertigung

„Rechtfertigung“ war für viele Reformatoren „der Artikel, mit dem die Kirche steht oder fällt“ (articulus stantis et cadentis ecclesiae). Bis ins späte 20. Jahrhundert hinein war die Rechtfertigungslehre wohl auch das theologische Thema, das Katholiken und Protestanten voneinander trennte. 1999 kamen jedoch die Römisch-Katholische Kirche und der Lutherische Weltbund nach jahrzehntelangem Studium und intensiver Beratung überein, eine grundsätzliche Gemeinsame Erklärung zur Lehre von der Rechtfertigung offiziell zu verabschieden.

Mennonitische Theologen äußern sich heute nur selten zur Rechtfertigungslehre, so dass der Eindruck entsteht, es handele sich dabei um kein mennonitisches Thema. In einem frühen Versuch, eine täuferische Theologie für die Gegenwart zu entwerfen, meinte Robert Friedmann, dass diese Theologie sich auf die „Nachfolge“ konzentrieren sollte, während die traditionelle protestantische Theologie die Rechtfertigung in den Mittelpunkt ihrer Erörterungen gestellt habe, so dass die täuferischen Vorstellungen mit ihnen kollidierten.

Behauptungen, wie sie von Friedmann geäußert wurden, könnten den Gedanken nahe legen, dass die Rechtfertigungslehre von den Täufern selten in Betracht gezogen oder nur diskutiert wurde, um abgelehnt zu werden. Aber die meisten Täufer beschäftigten sich doch mit diesem in der Reformationszeit äußerst wichtigen Thema und äußerten sich auf vielfache Weise dazu. Einige Stimmen klangen evangelisch, andere katholisch und wieder andere weder evangelisch noch katholisch. Viele Historiker, so auch Friedmann, zogen daraus den Schluss, dass die Rechtfertigung für die Täufer eigentlich unwichtig gewesen sei – hauptsächlich wohl, weil sie diese nicht recht verstanden hätten. Könnten diese Radikalen, die von den gelehrten Diskussionen ausgeschlossen waren, aber nicht vielleicht doch Einsichten geäußert haben, die über die gängigen Gegensätze hinaus zu neuen Lösungen führten und zum theologischen und ökumenischen Dialog heute einen Beitrag leisten?

Biblische Texte, die für die Rechtfertigungslehre relevant sind, befassen sich mit der Gerechtigkeit Gottes und damit, wie sich einzelne Menschen und Gruppen, sogar die gesamte Schöpfung, darauf beziehen oder an ihr teilhaben können. Gottes Gerechtigkeit und Treue, der Frieden (Schalom), den Gott stiftet, sind letztlich eschatologisch zu verstehen. Sie werden endgültig offenbar und zur Geltung gebracht werden, wenn die Geschichte insgesamt vollendet sein wird.

1. Die Rechtfertigungsdiskussion im Lager der Reformatoren

In der Reformationszeit wurde das theologische Interesse an der Rechtfertigung auf die Frage eingeschränkt, wie jemand als gerecht gelten könne – in diesem, vor allem aber im nächsten Leben, wenn er vor dem Gericht Gottes stehen wird.

Da die Sünde den Menschen ganz und gar durchwirkt, schließt die Rechtfertigung die Vergebung der Sünden ein. Katholiken waren der Meinung, dass Vergebung der Sünden in einer „ersten Rechtfertigung“ gewährt werde, durch Taufe und Buße. Die abschließende, „zweite Rechtfertigung“ aber werde dem Menschen erst zuteil, wenn sein Verhalten und seine Taten nach ernstlicher Prüfung gerecht gesprochen würden. Dieser Rechtfertigungsprozess hatte bedeutsame ethische Implikationen. Er schloss das Bemühen des Menschen, gute Werke zu vollbringen, ein.

Katholiken fassten den Rechtfertigungsprozess oft in juridischen und quantitativen Begriffen. Unter Gottes Gerechtigkeit wurde gewöhnlich göttliche Vollkommenheit verstanden; und so wurde eine menschliche Gerechtigkeit angestrebt, die der göttlichen Forderung nach Vollkommenheit soweit wie möglich zu entsprechen versuchte. Das wurde durch gute Werke erreicht, denen das ewige Leben als „Belohnung“ winkte. „Zweite Rechtfertigung“ war Bestätigung und Erklärung Gottes, dass der Gerechtfertigte diese Belohnung schließlich auch verdient habe.

Doch nur wenige konnten, wie die großen Heiligen, genügend Verdienste in ihrem irdischen Leben vorweisen, um gerecht („iustus“) zu sein. Die meisten Menschen erwarteten einen längeren Reinigungsprozess im Fegefeuer, das schon der Hölle gleichkommt, bevor sie wirklich gerecht gesprochen werden.

Viele Christen, die schließlich den evangelischen Glauben annahmen, hatten sich zuvor, wie Martin Luther, darum bemüht, genügend fromme Werke vorzuweisen, um gerechtfertigt zu werden. Sie fürchteten aber zu versagen. Daraus schlossen die evangelischen Theologen, dass Menschen in Wirklichkeit ganz und gar unfähig seien, von sich aus Gerechtigkeit zu erlangen.

Trotzdem schätzten aber viele Menschen ihre eigene Frömmigkeit zu hoch ein und meinten, Gerechtigkeit von sich aus erlangen zu können. Andere wiederum erschraken aus Furcht vor dem Gericht darüber, das Ziel der Gerechtigkeit wohl letztlich nicht erreichen zu können. So wurden menschliche Werke entweder in der Selbstüberschätzung oder in der Furcht vor dem Gericht verankert. Mit ihnen war jedoch niemand in der Lage, Gerechtigkeit zu erlangen. Darum versuchten die evangelischen Reformatoren, die Menschen von oberflächlichem Optimismus, das Heil durch fromme Werke erreichen zu können, und von der Angst vor dem Strafgericht Gottes zu befreien.

Als die evangelische Kritik am katholischen Umgang mit den guten Werken unter den Menschen Resonanz gefunden hatte, beteuerte die römische Kirche, niemals eine Rechtfertigung gelehrt zu haben, die nur auf menschliche Werke gegründet sei. Das Konzil von Trient bestätigte 1545 noch einmal, dass Sünder sich Gott nur mit Hilfe der göttlichen Gnade zuwenden und rechtschaffene Werke vollbringen könnten. Rechtfertigung bedeutet, dass wir nur von der Gnade Gottes, die unsere guten Werke in Gang setzt und stärkt, gerechtfertigt werden. Dennoch spielen nach katholischer Lehre auch menschliche Werke eine gewisse Rolle, wenn auch sekundär, um eine „zweite“, die endgültige Rechtfertigung zu erlangen.

Die evangelischen Reformatoren widersetzten sich dem Bemühen, die Rechtfertigung als „Gerechtmachung“ des Menschen zu verstehen, weil damit die Priorität des göttlichen Handelns bzw. die Initiative Gottes im Rechtfertigungsgeschehen unterschätzt werde. Um die göttliche Initiative in diesem Geschehen jedoch zu unterstreichen, bestanden sie darauf, dass Gott den Sünder allein auf Grund des Erlösungswerkes Christi – ganz und gar unabhängig von den guten Werken des Menschen – für gerecht erklärt. Deshalb ist Rechtfertigung nicht „Gerechtmachung“, sondern „Gerechterklärung“ („imputatio“).

In diesem Sinne fassten die evangelischen Reformatoren die Rechtfertigung als einen rechtlichen Vorgang auf. Sie meinten, dass Gott den Sünder als Richter gerecht spricht und sich zu diesem Urteil bekennt, auch wenn der Sünder das nicht verdient hat. Anders als im katholischen Rechtfertigungsverständnis wurden mit dem evangelischen Verständnis keine Forderungen nach ethischer Vervollkommnung direkt verbunden. Nach Luther war der Gerechtfertigte „gerecht und Sünder zugleich“ (simul iustus et peccator).

Die Reformatoren verurteilten in der Regel die „Werke des Gesetzes“, wie sie die guten Werke nannten, die von der katholischen Kirche gefordert wurden. Gott gibt das „Gesetz“ nicht, so sagten sie, um die Menschen in der Illusion zu wiegen, sie könnten es auch erfüllen, sondern um sich ihre Unzulänglichkeit und Schuld einzugestehen. Das Gesetz soll unser Selbstvertrauen brechen, als könnten wir Gerechtigkeit von uns aus erlangen. Gerechtigkeit kann uns nur die „Gnade“ Gottes oder das „Evangelium“ gewähren. Die Gerechtigkeit kommt von Christus und kann nur im Glauben erlangt werden. Deshalb legten evangelische Reformatoren auch Wert darauf, im Glauben kein Werk des Menschen zu sehen, sondern das Heil, das Jesus Christus für uns erworben hat, nur schlicht anzuerkennen und anzunehmen. Um das zu unterstreichen, sprach Martin Luther von der Rechtfertigung aus „Glauben allein“ (sola fide).

Trotzdem meinten auch die Evangelischen, dass Christen gute Werke vollbringen sollten. Grundsätzlich unterschieden sie sich von den Katholiken aber dadurch, dass die Forderung nach guten Werken aus dem Konzept der Rechtfertigung selbst verbannt und in den Prozess der Heiligung verlagert wurde, um jeden Verdienst des Menschen an seinem Heil auch wirklich auszuschließen. Freilich lehrten die evangelischen Theologen, dass jeder wahrhaft Gerechtfertigte schließlich auch zu einer vom Glauben gewirkten Heiligung gelangen würde. Dennoch beklagten die Katholiken die strenge Unterscheidung zwischen Rechtfertigung und Heiligung, da sie zu deren Trennung in der Praxis führen müsste.

Unterschiedlich war zwischen Evangelischen und Katholiken letztlich die Grundbedeutung der Erlösung. Die Katholiken stellten das Ziel der Erlösung an erste Stelle: die den Menschen umgestaltende Gerechtigkeit, wie sie dem Bild Christi entspricht. Die Evangelischen dagegen stellten an erste Stelle, wovon wir erlöst werden bzw. was den Sünder vor dem Strafgericht Gottes bewahrt. Die Katholiken kritisierten, dass evangelische Reformatoren die Menschen mit der Rechtfertigungslehre verführen könnten, sich nur auf den Glauben zu berufen, aber keinerlei Anstalten zu treffen, mit einer gottgewollten Lebensführung zu beginnen.

2. Antworten der Täufer

Auch die Täufer erhoben diesen Einwand gegen das evangelische Rechtfertigungsverständnis. Obwohl sie die Kritik an den Autoritätsstrukturen und dem Sakramentalismus der römisch-katholischen Kirche mit den evangelischen Reformatoren teilten und sogar radikalisierten, stimmten sie doch mit der katholischen Meinung überein, dass die den Menschen umgestaltende Gerechtigkeit, wie sie dem Bild Christi entspricht, das Ziel eines christlichen Lebens sei. Selbst wenn Täufer und Mennoniten gewöhnlich dem evangelischen Lager zugerechnet werden, waren sie doch zutiefst auch Werten verpflichtet, wie dem Streben nach Heiligkeit und Gemeinschaft, die in der katholischen Spiritualität und im Mönchswesen besonders betont wurden.

Die Täufer brachten keine umfangreichen Abhandlungen zur Rechtfertigungslehre hervor. Ihre Aussagen zu diesem Thema waren oft recht unterschiedlich und mit anderen Themen verknüpft. Sie lassen sich am besten entschlüsseln, wenn wir zunächst darauf achten, was evangelischen und katholischen Auffassungen ähnlich ist. Diese Ähnlichkeiten werden uns über die traditionellen Gegensätze hinausführen und schließlich den typisch täuferischen Beitrag zur Rechtfertigungslehre erkennen lassen.

Die Mannigfaltigkeit täuferischer Positionen ging teilweise aus den Ursprüngen in verschiedenen geographischen Regionen hervor, besonders in der Schweiz, in Süddeutschland/Österreich und in den Niederlanden (→Täuferforschung). Anklänge an evangelische Reformatoren finden sich vor allem bei einem Täufer wie Balthasar →Hubmaier, bei den Täufern in der Schweiz und in Mähren, bei Pilgram →Marpeck, einem süddeutsch-österreichischen Täufer, und den beiden niederländischen Täufern Menno →Simons und Dirk →Philips.

Die vier prominenten Täufer, die hier angeführt wurden, erhoben die Forderung nach Buße und Umkehr, wie alle Täufer auch sonst, sie brachten diese Forderung aber im Rahmen einer Dialektik von Gesetz und Gnade zur Sprache. Hubmaier schrieb in der Summe eines ganzen christlichen Lebens: „Enderend oder besserend ewer leben vnd glaubend dem Euangelio. Nun zu der enndrung deß lebens gehört, das wyr yn vnns selbs gangen vnd erynneren vns vnsers thons vnnd laßsens. So befynden wir, das wyr thond wider Gott vnd lassen, das er vns hat beuolhen. Ja, wir befynden kayn gsundthayt in vns, sonder gyfft, verwundung vnd alle vnrainigkayt, die vns von anfang anhangt, wir seynd darinn entpfangen vnd geboren“ (Hubmaier, Schriften, 110). Menno Simons und Dirk Philips waren der Überzeugung, dass das Gesetz unsere Sünde so wirksam vernichtet, dass diejenigen, die das Gesetz befolgten, als würdig empfunden wurden, die Vergebung der Sünden zu empfangen, wie mit dem katholischen Verständnis von den guten Werken gelehrt wurde (Alvin Beachy). Allerdings könnte eine solche Deutung überzogen sein, denn das täuferische Schema von „Gesetz und Evangelium“ wies deutlich evangelische Züge auf, und beide, Gesetz und Evangelium, erschließen sich den Menschen nur im Glauben. Doch diese Unsicherheit zeigt, wie die Täufer evangelische und katholische Themen miteinander verbanden.

Rechtschaffenheit bzw. Gerechtigkeit wurden von den vier genannten Täuferführern gelegentlich als normative Forderung des göttlichen Gesetzes verstanden, die zwar kein Mensch erfüllen könne, die aber in der Gerechtigkeit Jesu Christi erfüllt wurde. Menno Simons und Dirk Philips konnten sagen, dass Gott uns diese Gerechtigkeit zuerkannte, ohne dass wir sie verdient hätten.

Andere Täufer aus dem süddeutsch-österreichischen Gebiet erklärten die zum Glauben Bekehrten als „gerecht“ (Hans Schlaffer) oder als „vollkommen“ (Hans →Denck), auch wenn die Unvollkommenheit im Leben dieser Bekehrten bestehen blieb. So sagte Hans →Hut, dass der Glaube, der dem gepredigten Wort antwortet, „wievol er nit volkommen ist und unbewaert, wirt er im doch zugerechnet fuer gerechtigkeit, bis er gerechtfertigt und probiert (ist), wie das gold im feuer“ (Müller, Glaubenszeugnisse I, 20). Diese Zuerkennung der Gerechtigkeit ging aber auf eine erste Rechtfertigung zurück, und darauf folgte die zweite Rechtfertigung, die (wie im Katholizismus) das Streben nach Vollkommenheit einschloss.

Während die meisten Täufer einige Züge der evangelischen Rechtfertigungslehre bestätigten, vermissten sie doch deren ethische Konsequenz in der Praxis des Glaubens. So klagte Konrad Grebel in der Schweiz schon sehr früh: „will iederman in glichsendem glauben selig sein, on fruecht dess glaubens (…), on liebe und hoffnung“ (Quellen zur Geschichte der Täufer in der Schweiz, Bd. 1, 13). Wie die Katholiken klagten auch die Täufer darüber, dass Luthers „simul iustus et peccator“ die Rechtfertigung zu einer Fiktion verflüchtigte, die das Gegenteil des Gerechtfertigten behauptete (peccator) und der Bedeutung der Gerechtigkeit (iustus) widersprach.

Die Täufer betonten zwar den Glauben, wiesen aber Luthers Losung vom „sola fide“ zurück. So meinte Hubmaier: „Der eynig glaub macht vns frumm (vor Gott)“, und fügte sogleich hinzu: „Solcher glaub mag nit müssig geen, sunder muß außbrechen gegen Gott in dancksagung vnd gegen den menschen in allerly werck brüderlicher liebe“ (Hubmaier, Schriften, 72). Die Täufer neigten dazu, keiner konzeptionellen oder praktischen Trennung der Früchte des Glaubens von der Rechtfertigung beizupflichten. Biblische „Gerechtigkeit“ und „Glaube“ müssten sich vielmehr über den inneren, spirituellen Bereich hinaus ausdehnen und das menschliche Handeln sowie die Welt verändern.

Sofern die Ausbildung eines gerechten Charakters als Ziel des christlichen Lebens angesehen wurde, benutzten die Täufer gelegentlich die katholische Terminologie der zweiten Rechtfertigung. Schlaffer erzählte seinen Lesern, wie Gott im Inneren des Menschen für dessen Rechtfertigung wirke und ihn auf sein Reich vorbereite, so dass der Mensch schließlich im Tod gerechtfertigt sein werde – einem Martyrium gleich. Aber Schlaffer erzählte ihnen auch, wie er von Luther gelernt habe, dass nicht Werke, sondern nur der Glaube rechtfertige.

Wenn ein Christ sündigt, meinte Hubmaier, müsse dieser „nach gestalt der Sunden siener göttlichen vnnd verletzten gerechtigkait Abtrag thue“ (Hubmaier, Schriften, S.470). Hubmaier begriff aber weder diesen „Abtrag“ noch ähnliche Bemühungen als adäquate Kompensation. Menno Simons und Dirk Philips lehrten eine Art doppelter Rechtfertigung. Doch die zweite Rechtfertigung wurde nicht auf gute Werke gegründet, da, wie Hubmaier auch lehrte, die Unvollkommenheit alle Werke beflecke, was dem Sünder aber dank der ursprünglichen Rechtfertigung nicht „angerechnet“ werde.

Denck, Hubmaier und Marpeck erwähnten zwar „Verdienste“ und „Belohnungen“, bestanden aber darauf, dass diese nicht von Menschen erworben werden könnten, sondern allein ein Geschenk der Gnade seien. Nur Hans →Hut und Melchior →Hoffman gründeten die zweite Rechtfertigung auf fromme Werke – der gesetzlichen Auffassung im Katholizismus nicht unähnlich.

3. Täuferische Unterscheidungen

Letztlich unterschieden sich die Täufer von den Evangelischen und Katholiken in ihrer Sprache, da die biblische Begrifflichkeit von „Gerechtigkeit“ und „Glaube“ für sie mehr als das Vokabular juridischer Definitionen war. „Gerechtigkeit“ trug nicht nur der Ethik Rechnung, wie die Katholiken meinten, sondern brachte auch Gottes rettende und verändernde Aktivität selbst zum Ausdruck. Wie Leonhard Schiemer, ein anderer Täufer in Österreich, forderte, kann und mag Rechtfertigung „nit geschehen ausserhalb Christo, der ist unser ghrechtigkait, durch sein Entpfencknus, geburt, todt, und urstend, ja, wen es in uns geschicht“ (Müller, Glaubenszeugnisse I, 66).

Außerdem wurde dem Glauben nicht nur eine Erklärung zuteil, dass der Sünder gerecht sei, sondern auch alles, was die konkreten Aktivitäten Jesu Christi beinhaltete. Nach Peter →Riedemann, dem Ältesten der hutterischen Brüder in Mähren, ergreift der Glaube den „unsichtbaren, einigen und allein mächtigen Gott (…), und machet uns ihm gemein und vertraut, ja er macht uns seiner Art und Natur, der nimmt hin alles Ungewisse und Zweifeln und macht unser Herz sicher, fest und steif an Gott halten, auch in aller Trübsal“ (Riedemann, Rechenschaft, 39). Darum ist dieser Glaube „eine wirkende Gotteskraft, der den Menschen erneuert und macht ihn nach Gott arten, lebendig in seiner Gerechtigkeit und feurig in der Liebe und Haltung seiner Gebote“ (Riedemann, Rechenschaft, 40). Die Täufer benutzten nur selten die Begrifflichkeit von „Gerechtigkeit“ und „Glaube“, ohne gleichzeitig zu bedenken, was sie konkret für das individuelle und das korporative Leben bedeuteten.

Im Glauben, so lehrte auch Pilgram →Marpeck, begegnen wir Gott und Gott begegnet uns, so dass der „glaub muss zeucknus, frucht und werck erzaigen“ (Marpeck, Clare Verantwortung, S. A VIII) und sich, wie auch Hubmaier meinte, selbst bewähren. Für Menno Simons und Dirk Philips verband der Glaube die Menschen mit Gottes Gerechtigkeit und brachte sie in den Genuss der verändernden Kraft Gottes. Dirk Philips sah in der Art, Gottes Priorität im Rechtfertigungsgeschehen zu bestätigen, keinen Widerspruch zu evangelischen Auffassungen: Wir sind „also gerechtueerdicht worden, door toeschrijuinghe ende mededeylinge zijnder gerechticheyt wt genade, op dat sy also herboren zijnde, tot een nieuwe leuen“ (Philips, in: Bibl. Ref. Neerlandica, Bd. X, 75).

Während die Täufer aber die Verwandlungen des Menschen betonten, die aus dem Glauben folgen, deuteten ihre evangelischen Gegner dies routinemäßig so, als ob die Täufer gute Werke in katholischem Sinn forderten: als rein menschliches Tun, das die Rechtfertigung herbeiführt und nicht aus ihr folgt. Die detaillierteste und oft auch nützliche Untersuchung zur Rechtfertigung im Täufertum, die Hans-Georg Tanneberger vorgelegt hat (1999), ist durchgängig dieser kritischen Sicht verpflichtet. Protestanten verneinten oder missverstanden den täuferischen Anspruch, dass eine dynamische, aktive Gerechtigkeit und eine Teilnahme am Rechtfertigungsprozess unverdiente Geschenke Gottes aus Gnade allein seien.

Um dieser Erlösungslehre Ausdruck zu verleihen, benutzten die Täufer organologische und vitalistische Begriffe, wie Zeugung, Geburt, neue Kreatur und Vergöttlichung (d. h. Verwandlung durch göttliche Kräfte, ohne Gott werden zu wollen). Deshalb stach die Sprache der Rechtfertigung, zumindest in den juridischen Konstruktionen, unter den Täufern auch nicht so stark hervor wie die übrigen Begriffe – aber nicht, weil die Rechtfertigung mit der Nachfolge Christi (Robert Friedmann) in Widerstreit geraten wäre oder weil die Täufer nicht in der Lage gewesen seien, sie richtig zu verstehen. Sie nutzten die Rechtfertigung vielmehr auf eigene kreative Weise, und ihre Nachfahren haben im 20. Jahrhundert damit begonnen, sie wieder zu beleben (Enns, Das Rechtfertigungsgeschehen, 155–176).

4. Die theologische Diskussion um die Rechtfertigung heute

In den vergangenen Jahren sind zahlreiche Gegensätze zwischen Evangelischen und Katholiken überwunden worden, vor allem mit Hilfe der Gemeinsamen Erklärung zur Lehre von der Rechtfertigung (1999). Auch wenn diese Erklärung die „Werke“ aus dem engeren Rechtfertigungskomplex ausschließt, wie die Lutheraner es getan haben, betont sie doch wiederholt, wie die Katholiken, dass der rechtfertigende Glaube aus sich heraus gute Werke vollbringt, stärker als Lutheraner es gewöhnlich betont haben. Das ist so, weil der Glaube uns mit dem lebendigen Christus verbindet, der selbst unsere Gerechtigkeit ist. So haben es die Täufer gemeint. „Verdienst“ wurde nur einmal genannt, und „Belohnungen“ wurden zweimal erwähnt, allerdings nur um zum Ausdruck zu bringen, dass Werke eine Gabe Gottes seien.

Dennoch ist die Gemeinsame Erklärung aus täuferischer Sicht unvollständig. Sie konzentriert sich noch zu sehr auf die Rechtfertigung der Individuen, und sie bringt Werke und Gerechtigkeit in äußerst allgemeiner Begrifflichkeit zur Sprache, ohne danach zu fragen, wie gerechtfertigte Werke eigentlich beschaffen seien. Sie erwähnt Lehre und Beispiel Jesu, die diese Auffassung konkretisieren könnten, nur ein einziges Mal und bezieht die Rechtfertigung doch nur auf den Tod und die Auferstehung Jesu (und einmal auch weit gefasst auf die Inkarnation). Jesu Leben aber wird ausgespart, sozial-ethische Themen erscheinen nur einmal – als ein Thema für zukünftige Gespräche.

Eine umfassende täuferische Behandlung der Rechtfertigung müsste breiter angelegt sein und Gottes Gerechtigkeit als Kraft im Menschen begreifen, die auch alle menschlichen Gruppen und die Schöpfung verändert und Frieden (Schalom) stiftet. Sie müsste auch konkreter von den verschiedenen Arten rechtschaffener Werke handeln, die in diese Richtung weisen. Das wurde auch von Fernando Enns bestätigt, der sich hauptsächlich aber auf eine Diskussion mit protestantischen Positionen im ökumenischen Gespräch beschränkt hat (s. Enns, Das Rechtfertigungsgeschehen, 155–176). Da die Rechtfertigung von Gott ausgeht, müsste der Glaube nicht (nur) als eine menschliche Tat aufgefasst werden, sondern als Treue Gottes, eng verbunden mit seiner Gerechtigkeit und seinem Schalom.

In der Tat, Gottes Gerechtigkeit wird durch Gottes Treue den Menschen und der gesamten Schöpfung offenbart. So haben verschiedene Ausleger der Heiligen Schrift gemeint, dass einige Texte die Rechtfertigung nicht mit dem „Glauben in Jesus Christus“ in Verbindung bringen, wie allgemein angenommen wird, sondern mit der „Treue Jesu Christi“. Wenn Gottes Gerechtigkeit eschatologisch zu verstehen ist, die in der Treue Jesu offenbart ist, dann müssen auch Jesu Leben und Lehre zum Rechtfertigungsgeschehen gehören. In anderen biblischen Texten ist der „Glaube in Jesus Christus“ jedoch der Weg, auf dem Rechtfertigung erlangt wird. Wenn unser Glaube eine Antwort auf Jesu Treue ist, dann muss sie auch Treue inmitten aller Schwierigkeiten des Lebens und über die Zeiten hinweg sein. Auf diese Weise wurde ‚Glaube‘, ‚Fülle des Glaubens', ‚göttlich‘ und ‚menschlich‘ gelegentlich von Hut, Schiemer, Schlaffer und Menno Simons beschrieben. Der Glaube kann nicht nur darin bestehen, die gnädige Zuwendung Gottes zum Sünder im Heilswerk Christi anzuerkennen, wie er gelegentlich im Protestantismus verstanden wurde. Er ist mehr: die verändernde Kraft Gottes in uns und wird von der Gnade Gottes und nicht menschlichen Bemühungen gewirkt und erhalten.

Aus täuferischer Sicht würde die Rechtfertigung zwar das Heil des Einzelnen meinen, vielleicht in dem Sinne, wie es in der Gemeinsamen Erklärung beschrieben wurde. Gleichzeitig aber würde auch der Horizont erweitert und die gesamte Schöpfung eingeschlossen werden.

Quellen (Auswahl)

Quellen zur Geschichte der Täufer in der Schweiz, Bd. 1, hg. von Leonhart v. Muralt und Walter Schmid, Zürich 1952, Neuaufl. 1974. - Balthasar Hubmaier, Schriften, hg. von Gunnar Westin und Torsten Bergsten (Hg.), Gütersloh 1962. - Lydia Müller (Hg.), Glaubenszeugnisse oberdeutscher Taufgesinnter, Bd. 1, Leipzig 1938. - Peter Riedemann, Rechenschaft unsrer Religion, Lehre und Glaubens, 3. Aufl., Cayley, Alberta, Kanada. 1974. - Pilgram Marpeck, Clare verantwurtung ettlicher Artickel/ so jetzt durch jrrige geyster schriftlich unnd mündtlich ausschweben, Straßburg 1531. - Die vollständigen Werke Menno Simnons´s, 2 Bde., Elkhart, Ind., 1876–1881. - Menno Simons, Dat Fundament des Christelycken Leers, hg. von H. W. Meihuizen, Den Haag 1967. - Dirk Philips, De geschriften van Dirk Philipsz, in: F. Pijper, Bibl. Reform. Neerlandica, Bd. X, Den Haag 1914. - Gemeinsame Erklärung zur Lehre von der Rechtfertigung des Lutherischen Weltbundes und der Katholischen Kirche, Frankfurt/M. 1999.

Literatur (Auswahl)

Peter Stuhlmacher, Gottes Gerechtigkeit bei Paulus, Göttingen 1965. - Ernst Käsemann, Gottesgerechtigkeit bei Paulus, in: Zeitschrift für Theologie und Kirche 58, 1967, 367–378. - Robert Friedmann, The Theology of Anabaptism, Scottdale, Pa., 1973. - Alvin Beachy, The Concept of Grace in the Radical Reformation, Nieuwkoop 1977. - John H. Yoder, Die Politik Jesu – der Weg des Kreuzes, Maxdorf 1981, 189–204. - Hans-Jürgen Goertz, Die Täufer. Geschichte und Deutung. 2. Aufl., München 1988, 67–75. - John Reumann, Righteousness in the New Testament, Philadelphia, Pa., und New York 1982. - Carl Braaten and Robert Jenson (Hg.), Union with Christ: the new Finnish Interpretation of Luther, Grand Rapids, MI, 1998. - Hans-Georg Tanneberger, Die Vorstellung der Täufer von der Rechtfertigung des Menschen, Stuttgart 1999. - Richard Hays, The Faith of Jesus Christ, 2 Aufl., Grand Rapids, MI 2002. - Thomas Finger, A Contemporary Anabaptist Theology, Downers Grove, IL, 2004, 109–156. - Veli-Matti Karkkainen, One with God: Salvation as Deification and Justification, Collegeville, PA, 2005. - Fernando Enns, Das Rechtfertigungsgeschehen in der Interpretation der Mennoniten, in: U. Swarat, J. Oeldemann und D. Heller (Hg.), Von Gott angenommen – in Christus verwandelt. Die Rechtfertigungslehre im multilateralen ökumenischen Dialog, Frankfurt/M. 2006, 155–176. - N. T. Wright, Justification, Downers Grove 2009.

Thomas Finger

 
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