Postmoderne

1. Begriffsbestimmung

Der Begriff „Postmoderne“ hat sich inzwischen eingebürgert, um die Kritik, das Unbehagen und den Verdruss an der →Moderne zum Ausdruck zu bringen. Wegweisend war die Losung vom „Ende der großen Erzählungen“, die der französische Sozialwissenschaftler Jean-Francois Lyotard 1979 ausgab (Lyotard, Das postmoderne Wissen, 1979, dt. 1999). Gemeint ist damit der Abschied von allen Versuchen, Philosophie, Gesellschaft und Kultur allgemein aus einem theoretischen Grundansatz heraus zu erklären (Aufklärung, Idealismus, Historismus, Marxismus) und alles auszublenden, was sich der Normativität dieser Ansätze nicht fügt. Lyotard setzt sich dafür ein, auch dem Abweichenden und Heterogenen, dem Partikularen, das sich nicht ins Universale fügt, zu seinem Recht zu verhelfen. Einseitige Perspektiven, aus denen heraus die Wirklichkeit gesehen wird, werden zugunsten einer multiperspektivischen Weltsicht erweitert, und das Wissen, das zur Orientierung des menschlichen Lebens notwendig ist, wird um Dimensionen bereichert, die unter dem Zwang theoretischer Letztbegründung des Denkens unterdrückt wurden. So gesehen wird postmodernes Denken als Befreiung von der Moderne verstanden. Postmodernes Denken ist nicht Programm, sondern Bewegung und Richtung eines Denkens, das die erkenntnistheoretischen Prämissen der Aufklärung, etwa auf objektive Wahrheitserkenntnis ausgerichteten Vernunftgebrauch, hinter sich lässt und neben Philosophie, Gesellschafts- und Kulturwissenschaften auch Literatur, Bildende Kunst, Architektur und Musik auf unterschiedliche Weise erfasst hat. So ist in der Geschichtswissenschaft das Konzept des „linguistic turn“ (das historische Urteil erscheint in Form einer Erzählung), der „Diskursanalyse“ (Ereignisse nehmen die Form eines Diskurses und nicht objektiver Tatsachen an) und der konstruktivistischen Darstellung (Geschichte ist Konstrukt und nicht Abbild des Gewesenen) entstanden (Goertz, Unsichere Geschichte, 2001).

Einige Autoren sehen in der „Postmoderne“ einen Begriff, der eine tiefe historische Zäsur markiert. Wie das Mittelalter von der Neuzeit abgelöst wurde, beginnt jetzt das Zeitalter der Moderne dem Zeitalter der Postmoderne zu weichen und alle Lebensbereiche mit neuem Denken und neuem Fühlen zu durchdringen: vor allem Religion und Kultur, Politik, Gesellschaft und Wirtschaft. Andere Autoren wehren sich gegen eine solche Periodisierung. Sie lehnen die Prämisse ab, die Moderne könne überwunden und das Leben in dieser Welt ohne die beherrschende Rolle der Vernunft erträglicher gestaltet werden. Postmoderne könne allenfalls als Vorsatz der Moderne verstanden, eigene Fehlentwicklungen zu korrigieren und neue Akzente zu setzen, um bisher Unbedachtes ins Zentrum wissenschaftlicher und künstlerischer Bemühungen zu rücken. So wird Postmoderne nicht zur Totalkritik der Moderne, was ja ihrem Protest gegen totalitären Zwang widersprechen müsste, sondern zur Selbstkritik der Moderne. Diese Bestimmung der „Postmoderne“ beginnt sich allenthalben durchzusetzen.

2. Neues Wahrheits- und Wirklichkeitsverständnis

Mit den erwähnten Konzepten des „linguistic turn“, des „Konstruktivismus“ und der „Diskursanalyse“ ist angedeutet, dass der Zugang zur Vergangenheit, wie Historiker ihn gesucht haben, neu durchdacht werden muss. Die Erkenntnis des Vergangenen ist in höchstem Maße unsicher geworden, denn das historische Urteil, zu dem der Historiker sich nach mühevoller Quellenarbeit durchgerungen hat, ist eigentlich immer nur hypothetischer Natur. Zuviel Eigenes und Gegenwärtiges hat sich in die Entstehung dieses Urteils eingemischt, als dass noch von einer Objektivität historischer Erkenntnis gesprochen werden könnte. Die Wahrheit über eine vergangene Tatsache lässt sich nicht mehr ermitteln. Zwischen den historischen Gegenstand (Tatsache) und den Historiker schiebt sich die Sprache und verleiht den zu benennenden Gegebenheiten von Zeit zu Zeit wechselnden Sinngehalt – hier anders als dort, gestern anders als heute. Was erkannt wird, bleibt fragmentarisch und vorläufig. Gelegentlich wurde diesem Verständnis vorgeworfen, dass die Wahrheit der Beliebigkeit preisgegeben worden sei. Doch das ist so nicht der Fall. Dieses Verständnis fordert vielmehr dazu auf, die vorläufigen Ergebnisse in ganz unterschiedlichen Kommunikationszusammenhängen immer weiter zu beraten, sie im Gespräch zu halten und darin ihren eigentlichen Wahrheitssinn zu sehen. Die Wahrheit liegt nicht in einem vergangenen Geschehen, unabhängig vom nachgeborenen Betrachter, sondern in der Beziehung, die zwischen dem Vergangenen und dem Betrachter in der Gegenwart entstanden ist und, sich verändernd, immer wieder neu entsteht. Das aber heißt, dass die Wahrheit sich nicht im Vergangenen verwirklicht, sondern sich erst in der Aktualität der Gegenwart zu erkennen gibt – nie ganz und erschöpfend, sondern immer so, dass sie dazu beiträgt, das gegenwärtige Leben erträglich, freundlich und sogar beglückend zu gestalten. Die Wahrheit, die sich in der Beziehung zu Vergangenem heute einstellt, ist daran beteiligt, neue Wirklichkeiten entstehen zu lassen.

So gesehen ist das unsichere Verhältnis zur Geschichte kein Verlust herkömmlicher Sicherheiten in der Wahrheitsfindung, im Gegenteil, es deckt den illusionären Charakter objektiver Erkenntnisforderung auf und ist auf diese Weise eine selbstkritische Korrektur moderner Erkenntnistheorie.

3. Ambivalente Reaktion auf die Postmoderne im Mennonitentum

Auch in kirchlichen Zusammenhängen wird die Postmoderne begrüßt, sofern sie die kritischen Einwände gegen modernes Denken bestätigt und dem christlichen Glauben förderlicher ist als die Moderne mit ihrer zersetzenden Rationalität und ihrem überheblichen Individualismus, der nicht nur die Bindungen des Menschen an die Gemeinschaft allgemein zerrüttet und auflöst, sondern auch die religiösen Bindungen an Gott und sein Volk zerstört. Postmoderne fördert ein Denken, das nicht auf universalen Geltungsanspruch der Vernunft ausgerichtet ist und die Werte des Partikularen, des Regionalen und kleinräumig Gemeinschaftlichen wiederentdeckt hat. Vor allem die kleineren Kirchen, die Konfessionen und Denominationen, denen es verwehrt war, allgemeine Geltung in den Gesellschaften zu erlangen, fühlen sich im postmodernen Denken bestätigt. Sie müssen sich nicht mehr an den „großen Erzählungen“ orientieren, sie können vielmehr voll und ganz, selbstbewusst und guten Gewissens aus der Tradition leben, die in den Erzählungen ihrer eigenen Gemeinschaft wachgehalten wird. So lassen sich bereits erste Abhandlungen unter mennonitischen Autoren finden, die postmodernes Denken auf ihre eigene Weise aufnehmen: Carl S. Keener, Some Reflections on Mennonites and Postmodern Thought, 1993; Allain Epp Weaver, Options in Postmodern Mennonite Theology, 1993; Denny J. Weaver, Anabaptist Theology in Face of Postmodernity, 2000; Susan und Gerald Biesecker-Mast (Hg.), Anabaptists and Postmodernity, 2000. Postmodernes Denken wird im Mennonitentum aber auch mit gemischten Gefühlen aufgenommen, ja, abgelehnt, weil es einen unbändigen →Pluralismus an Meinungen und Lebenseinstellungen freisetzt und Wahrheitsansprüche in den Bereich des „Beliebigen“ verweist. Gerade in den heftigen Auseinandersetzungen um die „wahre“ Gemeinde im täuferischen Aufbruch des 16. Jahrhunderts, sind der mennonitischen Tradition Impulse eines exklusiven, allein richtigen Gemeindeverständnisses zugewachsen, so dass es vielen schwerfällt, sich mit einem pluralistischen Christentumsverständnis zu arrangieren. Eine Anfechtung dürfte das postmoderne Geschichtsverständnis auch für die am historischen Jesus orientierte Ethik der Mennoniten (John H. →Yoder oder evangelikale Theologen) darstellen, da es nicht mehr möglich ist, die Historizität Jesu so ungebrochen und naiv wie bisher als Kriterium für christliche Ethik und christliches Gemeindeverständnis zu veranschlagen. Wo von der „Politik Jesu“ die Rede ist, wie bei John H. Yoder, da muss die Historizität dieser Politik vorausgesetzt werden. Andererseits lässt der Akzent, den Yoder auf die Gemeinde legt, aus der heraus ethische Entscheidungen getroffen werden, die Möglichkeit zu, Yoders Theologie als postmodernes Denken zu kennzeichnen (Epp Weaver, Options in Postmodern Mennonite Theology, 65–69). Die Begegnung mit der postmodernen Herausforderung theologischen Denkens ist nicht nur in der Theologie Yoders, sondern im Mennonitentum selbst ambivalent.

Die neuere Täuferforschung hat sich – ohne auf postmodernes Denken direkt Bezug zu nehmen – in eine Richtung entwickelt, die eine Nähe zu postmodernen Einsichten aufweist. Sie betont die Heterogenität täuferischer Bewegungen und verzichtet darauf, nach der Normativität des täuferischen Propriums in einer dieser Bewegungen zu suchen, wie Harold S. →Bender es in seiner berühmten Abhandlung zur „Anabaptist Vision“ tat, anders: Biesecker-Mast, Towards a Radical Postmodern Anabaptist Vision, 1995). Außerdem hat sich die Täuferforschung inzwischen zu einer kulturgeschichtlichen Betrachtungsweise durchgerungen, die das Täufertum insgesamt in der Vielfalt seiner sozialen und kulturellen Ausprägungen und volksreligiösen Aspekte zur Darstellung bringt.

Literatur

Roger Behrens, Postmoderne, Hamburg 2004. - Harold S. Bender. Das täuferische Leitbild, in: Guy F. Hershberger, Das Täufertum – Erbe und Verpflichtung. Festschrift für Harold S. Bender, Stuttgart 1963, 31–54. - Susan und Gerald Biesecker-Mast (Hg.), Anabaptists and Postmodernity, Bluffton, Ohio, 2000. - Terry Eagleton, The Illusions of Postmodernism, Oxford 1996. - Hans-Jürgen Goertz, Unsichere Geschichte. Zur Theorie historischer Referentialität, Stuttgart 2001. - Ders., Postmoderne, in: ders., Bruchstücke radikaler Theologie heute. Eine Rechenschaft, Göttingen 2010, 29–34. - Charles Jencks, Die Sprache der postmodernen Architektur. Die Entstehung einer alternativen Tradition, Stuttgart 1978. - Peter Kamper (Hg.), Postmoderne oder Der Kampf um die Zukunft. Die Kontroverse in Wissenschaft, Kunst und Gesellschaft, Frankfurt/M. 1988. - Carl S. Keener, Some Reflections on Mennonites and Postmodern Thought, in: Conrad Grebel Review, Winter 1993, 47–61. - Ted Koontz, Mennonites and „Postmodernity“, in: Mennonite Quarterly Review 63, 1989, 401–427. - Jean-Francois Lyotard, Das postmoderne Wissen, Wien 1999. - James McClendon Jr. und Nancy Murphy, Distinguishing Modern and Postmodern Theologies, in: Modern Theology, 5, 1989, 191–214. - Allain Epp Weaver, Options in Postmodern Mennonite Theology, in: Conrad Grebel Review, Winter 1993, 63–76. - Denny J. Weaver, Anabaptist Theology in Face of Postmodernity, North Newton, Kans., 2000. - Wolfgang Welsch, Unsere Postmoderne Moderne, 6. Aufl., Berlin 2002. - Ders. (Hg.), Wege aus der Moderne. Schlüsseltexte der Postmoderne-Diskussion, Berlin 1994. - Richard Wollin, The Seduction of Unreason: The Intellectual Romance with Fascism from Nietzsche to Postmodernism, Princeton 2004.

Hans-Jürgen Goertz

 
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