Kapitalismus

1. Definition

Der Begriff „Kapitalismus“ beschreibt das vorherrschende System der wirtschaftlichen Beziehungen in der westlichen Welt nach der Auflösung des Feudalsystems im späten Mittelalter. Eine kontinuierliche kapitalistische Entwicklung in Europa geht bis ins 16. Jahrhundert zurück. Sie war Teil der sozialen Dynamik in den frühen Jahren der Täufer und Mennoniten, besonders in den Niederlanden, aber auch in der Schweiz, Deutschland und anderswo. Die folgenden 500 Jahre mennonitischer Geschichte fielen mit der Entwicklung und Herrschaft einer global-kapitalistischen Wirtschaftsform zusammen. Die Mennoniten mussten sich im Kontext dieser ökonomischen Realität mit ihren religiösen Überzeugungen und ihrem persönlichen Lebensunterhalt einen Weg bahnen.

Grundsätzlich wird kapitalistische Wirtschaft als eine Wirtschaftsform definiert, in der Arbeiter ihre Dienstleistungen an private Arbeitgeber für einen Lohn verkaufen. Die Arbeitgeber oder „Kapitalisten“ entscheiden über den Produktionsprozess, um privaten Gewinn zu erwirtschaften. Sie besitzen weitere Produktionsmittel (Ländereien, Bergwerke, Fabriken, Technologie, Werkzeuge, Maschinen usw.), die notwendig sind, um Produktivkraft herzustellen. Im Allgemeinen wird angenommen, dass Arbeiter in dem Sinne „frei“ sind, dass sie rechtlich nicht gezwungen werden können, für die Besitzer der Produktionsmittel zu arbeiten. Da sie aber kein eigenes Kapital besitzen, sind die Arbeiter aus wirtschaftlicher Not doch oft dazu gezwungen. Die daraus entstehenden Lohnvereinbarungen bestimmen, wie viel des Erwirtschafteten an die Arbeiterklasse geht und wie viel die Gruppe der kapitalistischen Unternehmer abschöpft (Dillard, 85). Einige Wirtschaftswissenschaftler sind der Ansicht, dass Kapitalismus zwingend ein Beschäftigungsverhältnis erfordert, was hieße, dass Kleinstbetriebe (d. h. ein einzelner Handwerker oder Kunsthandwerker oder ein kleiner landwirtschaftlicher Familienbetrieb) der Definition nach nicht kapitalistischer Natur sind. Außerhalb von Eigenproduktion mit niedrigen Stückzahlen beginnt bereits die„Ausbeutung“ von Lohnarbeitern. Ihnen werden, wie Kritiker des kapitalistischen Systems meinen, schlechte Arbeitsbedingungen auferlegt oder ungerechte Löhne gezahlt.

2. Die frühen Mennoniten und die Entstehung des Kapitalismus

Über die religiösen Erfahrungen und theologischen Interessen der frühen Mennoniten ist mehr bekannt als über ihre ökonomischen Rollen und Aktivitäten und insbesondere über die individuelle Verteilung des Reichtums innerhalb der Kirche. Cornelius Krahn hat festgestellt, dass die täuferisch-mennonitischen Bewegungen in erster Linie in größeren Städten der Schweiz, Süddeutschlands, Österreichs und der Benelux-Länder entstanden (Krahn, 6). Die städtischen Täuferbewegungen wurden jedoch bald durch politische Autoritäten vernichtet und überlebten nur in abgelegenen Gegenden. Die ländliche Isolation und kleinbäuerliche Landwirtschaft vieler europäischer Mennoniten an Berghängen und in Tälern trug dazu bei, sie vor dem starken Einfluss des Kapitalismus, der sich damals andernorts in Europa verbreitete, zu bewahren (Driedger und Kauffman, 270–275). Eine Ausnahme waren die Taufgesinnten in den Niederlanden, denen es gelang, in städtischen Gegenden zunächst im Untergrund zu überleben, sich dann als tolerierte Minderheit und schließlich als anerkannte religiöse Gruppe zu behaupten (Krahn, 92). Von allen frühen Mennoniten-Gruppierungen in Europa waren es die niederländischen Mennoniten, die sich am meisten an dem sich entwickelnden kapitalistischen System beteiligten, insbesondere an verschiedenen Formen von Industrie und Handel.

3. Die niederländischen Taufgesinnten und die kapitalistische Entwicklung

Mary S. Sprunger hat dokumentiert, wie die wirtschaftliche Aktivität während des allgemeinen Wohlstands im Goldenen Zeitalter der →Niederlande vom späten 16. bis zum späten 17. Jahrhundert in den Gemeinden der niederländischen Taufgesinnten zu Spannungen führte. Das kapitalistische System tendierte stark dazu, im Laufe der Zeit signifikante Wohlstandsunterschiede zwischen erfolgreichen Unternehmern und Arbeitern herzustellen. Dementsprechend war auch die Kirche mit zunehmender ökonomischer Ungleichheit innerhalb ihrer Reihen und Auseinandersetzungen über Konsumhaltung und Lebensstil konfrontiert. In diesem Kontext schrieb ein flämischer Mennoniten-Prediger, Jacob Pietersz, ein Buch mit Richtlinien zur christlichen Wirtschaftsethik. Darin wurden Unternehmer ermahnt, unkontrollierten kapitalistischen Wettbewerb zu meiden. Außerdem wurden beide, Arbeitgeber und Arbeitnehmer, auf ihre Verantwortung füreinander hingewiesen (Sprunger 1994, 26).

Während die niederländischen Taufgesinnten immer mehr Vertrauen in kommerzielle Geschäftsbeziehungen gewannen und sich in ihre soziale Umwelt integrierten, blieben Mennoniten, wo sie von ihrer Umgebung abgeschottet lebten, in ihrer ökonomischen Aktivität zurückhaltend. Arnold Snyder ist der Ansicht, dass „die Täufer generell äußerst misstrauisch gegenüber Handel und Kommerz als einem Mittel waren, den eigenen Lebensunterhalt zu verdienen“. Er erwähnt, dass die Schweizer Täufer in Hessen die Ansicht vertraten, dass Christen sich an „ehrlichem Handwerk“ beteiligen sollten; Handel zu treiben und Ähnliches jedoch zu vermeiden war (Snyder 1994, 8). Menno Simons selbst rechnete zwar mit „gottesfürchtige(n) Kaufmänner(n) und Einzelhändler(n)“, wähnte sie aber in großer Gefahr, von Geldgier ergriffen zu werden“ (Wenger 1956, 368–369). Wie andere Christen in jener Zeit setzten sich auch die Mennoniten, angesichts der biblischen Kritik am Wucher mit dem Zinsnehmen auseinander.

Während sich die soziale und ökonomische Entwicklung in Europa fortsetzte und Mennoniten an Orte in Preußen, Russland, Nordamerika und anderswo emigrierten, begegneten ihnen immer mehr kapitalistische Erwerbsmöglichkeiten. Vorhandene Daten lassen darauf schließen, dass mennonitische Gruppen sich im Allgemeinen nicht anders ins Wirtschaftsleben einbrachten als die Bevölkerung in ihrer Umgebung. Sie lebten jedoch bevorzugt in ländlicheren Regionen, wo kapitalistische Aktivitäten und Möglichkeiten nur in einem kleineren Ausmaß praktiziert wurden.

4. Erfahrungen der russischen Mennoniten

Für die Ansiedlungen der Mennoniten in der Ukraine ist eine kapitalistische Geschäftstätigkeit von ihrer Etablierung 1789 bis ins frühe 20. Jh. dokumentiert. Unter den wohlhabendsten Geschäftsleuten der Region waren erfolgreiche mennonitische Unternehmer, die allen industriellen Herausforderungen jener Zeit begegnen mussten; es gab sogar Arbeitsverhältnisse mit Mitgliedern der eigenen Gemeinde. Die Forschung über russische Mennoniten ergab, „dass es keinen Zweifel gibt, dass im Fall von mennonitischer Arbeit die mennonitischen Grundbesitzer nicht nur ungerechterweise ihre wirtschaftliche und politische Macht nutzten, sondern auch aktiv eine Schichtengesellschaft aufbauten, in der die Landbesitzer sowohl politische als auch wirtschaftliche Gewalt gegen ihre Glaubensbrüder und -schwestern ohne Grundbesitz ausübten“. (Loewen 1994, 55). Für die nicht-mennonitischen Arbeiter galt, dass die Arbeitgeber „sich weder bemühten, die Löhne der Arbeiter zu erhöhen, noch ihren Arbeitern bessere Arbeitsbedingungen boten“. Aber anders als die russischen Landbesitzer „arbeiteten die Mennoniten mit ihren Arbeitern auf den Feldern, und viele arbeiteten ebenso hart oder sogar härter als ihre Angestellten“ (Loewen, 55). Der wachsende Unmut über die ökonomische Überlegenheit der Mennoniten im Vergleich zur lokalen ukrainischen Bevölkerung förderte die Abwanderung vieler Mennoniten zwischen dem späten 19. und frühen 20. Jahrhundert aus Russland. Seit 1927 fanden viele russische Mennoniten Zuflucht in der entlegenen Chaco-Region in Paraguay, wo durch konzentrierte Entwicklungsanstrengungen erneut florierende privatkapitalistische Wirtschaftsunternehmen entstanden, die die wachsende mennonitische Bevölkerung der Kolonien versorgten. Darüber hinaus wird ein zunehmender Überschuss an landwirtschaftlichen und industriell verarbeiteten Lebensmitteln erarbeitet, mit dem ein Großteil Paraguays ernährt wird und der teilweise in den Export geht.

5. Mennoniten und die globale kapitalistische Wirtschaft heute

Eine kleine Minderheit von Mennoniten führt nach wie vor gemeinschaftlich ausgerichtete Wirtschaftsformen fort, die sie vor den Kräften der kapitalistischen Wirtschaft schützen sollen. Die Hutterer beispielsweise haben festgelegt, dass Eigentum und Produktion gemeinschaftlich genutzt werden und die Gemeinschaft als Ganzes das Vermögen besitzt und die Erträge der Arbeit verteilt (Snyder 1994, 7). Die meisten Mennoniten haben allerdings kaum eine andere Wahl, als ihren Platz innerhalb eines kapitalistischen Systems zu finden – wenige als kapitalistische Unternehmer, der Rest als Lohnarbeiter und Angestellte. Sogar in isolierten Gruppen wie den Amischen in USA oder Kanada arbeiten heute viele ortsansässige Mitglieder in lohngebundenen Arbeitsverhältnissen der Leichtindustrie. Meistens spiegeln die Mitglieder moderner Mennoniten-Gruppierungen die Wirtschaftstätigkeiten der allgemeinen Bevölkerung wider (Kauffman und Driedger, 33–41).

Die Mennoniten im 21. Jahrhundert stehen vor der Herausforderung, ein persönliches Wirtschaftsleben in einer in zunehmendem Maße globalen kapitalistischen Wirtschaft zu führen und gleichzeitig den kirchlichen Werten treu zu bleiben (→Globalisierung). Dies gilt insbesondere für mennonitische Unternehmer, die in der Geschäftswelt und Industrie tätig sind. Der Soziologe Calvin Redekop stellt fest, dass sie „vor der Herausforderung stehen, die Anhäufung von persönlichem Vermögen mit der Verantwortung gegenüber dem Gemeinwohl in Einklang zu bringen; vor der Herausforderung, die Autonomie und Eigeninteressen des Einzelnen mit der traditionellen Unterwerfung unter die Autorität der Gruppe zu vereinbaren; dem Kampf zwischen Individualismus und Verpflichtung“ (Redekop u. a., 1995, 4). Andere mennonitische Autoren haben sich darum bemüht, den Weg durch dieses Dilemma zu weisen und individuelle Geschichten mennonitischer Unternehmer zusammengestellt, die trotz ihres geschäftlichen Erfolges der Kirche treu bleiben wollen (Kreider, 1980; Redekop und Redekop, 1996). Eine nordamerikanische Organisation mit einer weltweit steigenden Mitgliederzahl, →Mennonite Economic Development Associates (MEDA), bietet Programme und Druckerzeugnisse zur Unterstützung des christlichen Unternehmertums an.

Bibliografie (Auswahl)

Dudley Dillard, Capitalism, in: Charles K. Wilber and Kenneth P. Jameson (Hg.), The Political Economy of Development and Underdevelopment, 5. Aufl., New York 1992, 85–93. - Leo J. Driedger und J. Howard Kauffman, Urbanization of Mennonites: Canadian and American Comparisons, in: Mennonite Quarterly Review 56, 1982, 269–290. - Kauffman, J. Howard Kauffman und Leo Driedger, The Mennonite Mosaic, Identity and Modernization, Scottdale, PA, 1991. - Cornelius Krahn, Dutch Mennonites Prospered in 'Golden Age', in: Mennonite Weekly Review 1980, 58: 6–8. - Ders., Dutch Anabaptism: Origin, Spread, Life, and Thought, Scottdale, PA, 1981. - Carl Kreider, The Christian Entrepreneur, Scottdale, PA, 1980. - Jacob A. Loewen, Russian Mennonite, Property and the Sword“ in: Calvin Redekop, Victor A. Krahn und Samuel J. Steiner (Hg.), Anabaptist/Mennonite Faith and Economics, Redekop, Krahn and Steiner (Hg.), 41–65. - Calvin Redekop, Victor A. Krahn und Samuel J. Steiner (Hg.), Anabaptist/Mennonite Faith and Economics, Lanham, MD, 1994. - Calvin Redekop, Stephen C. Ainlay und Robert Siemens (Hg.), Mennonite Entrepreneurs. Baltimore, MD, 1995. - Calvin W. Redekop und Benjamin W. Redekop, Entrepreneurs in the Faith Community: Profiles of Mennonites in Business. Scottdale, PA, 1996. - Arnold Snyder, Anabaptist Spirituality and Economics, in: Calvin Redekop u. a. (Hg.), Anabaptist/Mennonite Faith and Economics, 3–18. - Mary S. Sprunger, Dutch Mennonites and the Golden Age Economy: The Problem of Social Disparity in the Church, in: Calvin Redekop u. a. (Hg.), Anabaptist/Mennonite Faith and Economics, 19–40. - James Urry, Wealth and Poverty in the Mennonite Experience: Dilemmas and Challenges, in: Journal of Mennonite Studies 27, 2009, 11–40. - Max Weber, Protestantische Ethik und Geist des Kapitalismus, in: ders., Die protestantische Ethik, Bd. 1. Eine Aufsatzsammlung, hg. von Johannes Winckelmann, 2. Aufl., Hamburg 1972, 27-278.

James M. Harder

 
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