Bewegungen, reformatorische

1. Begriff

Die frühe Reformationszeit in Deutschland war eine „bewegte Epoche“. Seit Martin →Luther sich 1517 mit seinen berühmten Thesen gegen den Ablasshandel gewandt hatte, überschlugen sich die Ereignisse und brachten Bewegung in die Kirchen, an die Fürstenhöfe, in die Ratsstuben, auf die Reichstage, in die Gassen und auf die Märkte, ebenso in die Dörfer auf der Landschaft. Predigt, Vorlesung und Disputation, Flugschriftenpropaganda und Agitation ergriffen die Gemüter und forderten zur Parteinahme heraus: entweder für oder gegen die Erneuerung der Kirche bzw. der Christenheit. In dieser Turbulenz nahm die →Reformation schnell Gestalt an. Allerdings stand nicht von Anfang an fest, was Reformation eigentlich sei, auf keinen Fall waren es evangelische Kirchen, auf die der Durchsetzungsprozess der Reformation von vornherein zielstrebig zugelaufen sei. Vieles spricht für das Bild wild durcheinander wachsender Versuche, Erneuerungsprozesse in Gang zu setzen. Um diese Turbulenz auf den Begriff zu bringen, hat sich der Bewegungsbegriff nahe gelegt. Bewegung war alles, was aufbrach, sich regte, vorwärts stürmte, sich von Altem losriss und zu neuen Ufern aufbrach: Ketzerbewegungen, Reichsritterbewegung, Antimonopolbewegung, Humanismusbewegung, Reformationsbewegung, religiöse, politische, soziale Bewegungen, bäuerliche, kommunale, revolutionäre Bewegungen, apokalyptische, antiklerikale, täuferische Bewegungen. Auf diese Weise wurde der Bewegungsbegriff umgangssprachlich und wenig differenziert gebraucht. Erst in neuerer Zeit wurde daran erinnert, dass der Bewegungsbegriff seinen Ursprung in der Zeit um die Französische Revolution hat und für die Verhältnisse im späten Mittelalter und in der Frühen Neuzeit nur bedingt aussagekräftig sei. Daraus ergeben sich zwei Möglichkeiten, mit diesem Begriff in Zukunft umzugehen: entweder wird er aufgegeben, weil er kaum etwas erklärt, oder es wird nach einem Modell gesucht, mit dem der Mechanismus sozialer Bewegung so beschrieben wird, dass er die Eigenart des turbulenten Durchsetzungsprozesses der Reformation genauer zu erfassen vermag.

Diskutiert wird in letzter Zeit ein enger, inhaltlich bestimmter und ein weiter, eher formal konzipierter Begriff sozialer Bewegung. Der engere, religionssoziologische Begriff, der den Bewegungscharakter von der Religion her bestimmt sieht, ist vor allem an Max →Webers Sektenbegriff orientiert und vor vornherein auf separatistische, an den Rand der Gesellschaft gedrängte Gemeinschaften fixiert. Der weitere sozialwissenschaftliche Begriff ist gegenüber den Inhalten, hier den religiösen, neutral und konzentriert sich auf den Aufbau und die Funktion von Bewegungen in einer fest gefügten Herrschaft- und Gesellschaftsordnung. Da im Aufbruch der Reformation nicht nur kirchliche, sondern zugleich politische, soziale und wirtschaftliche Verhältnisse einem Veränderungsdruck ausgesetzt waren, empfiehlt es sich, das weitere Bewegungsverständnis näher in Augenschein zu nehmen. Es vermag die ineinander übergehenden Entstehungs- und Handlungsräume von Bewegungen besser zu erfassen, als es einem inhaltlich eingegrenzten Bewegungsverständnis möglich wäre.

2. Erklärungsmodell

Ein solches Erklärungsmodell hat Joachim Raschke in seinem historisch-systematischen Grundriss Soziale Bewegungen (1985) erarbeitet und eine Definition zur Diskussion gestellt, die soziale Bewegung als einen „kollektiven Akteur“ fasst, der das Ziel verfolgt, „grundlegenderen sozialen Wandel herbeizuführen, zu verhindern oder rückgängig zu machen“. Mit dem „kollektiven Akteur“ ist gemeint, dass mehrere Menschen in einem Handlungszusammenhang verbunden sind, der sich um Losungen, Parolen, Ideen oder Visionen gebildet hat und der in der Lage ist, das Bewegungskollektiv zu erweitern, indem er neue Anhänger mobilisiert, ihm beizutreten, sich an seinen verbalen und agitatorischen Praktiken zu beteiligen und aus ihren Erfahrungen, Bedürfnissen und Sehnsüchten heraus, Ziele anzustreben, die den jeweils gegenwärtigen gesamtgesellschaftlichen Zustand verändern. „Sozial“ meint in dieser Definition nicht, dass eine Bewegung bestimmten sozialen Forderungen verpflichtet ist, von denen her sie sich definiert. „Sozial“ meint vielmehr nur, dass Bewegung eine kollektive Form der Vergemeinschaftung ist. In diesem Fall ist es eine lose, sich oft schnell verändernde Organisationsform. Ihr Merkmal ist das „In-Bewegung-Bleiben“. Sie bindet die Anhänger an sich, indem sie ein Zugehörigkeits- und Solidaritätsgefühl zu wecken versteht. Sie lässt ihnen aber auch Freiheit, sich auf individuell verschiedene Weise an dem Bewegungshandeln zu beteiligen. In der Bewegung ist zwar für Kontinuität gesorgt, so dass sie nach innen und außen als solche erkennbar bleibt, aber doch ist es für Bewegung typisch, dass sie über einen längeren Zeitraum nicht dieselbe bleibt (das unterscheidet sie von einer Institution), sie verändert sich, passt sich an die Gegebenheiten an, eine Bewegung setzt eine andere aus sich heraus, so dass in kurzer Zeit eine Bewegungsvielfalt entsteht. Die Ziele der Bewegungen streben eine Veränderung an, aber nicht notwendigerweise eine Veränderung eines gesellschaftlichen Systems insgesamt. Es wird immer noch nach neuen Anlässen zur Veränderung, nach neuen Formen der Agitation und nach neuen Zielen gesucht. So mündet diese Definition in den sorgsam bedachten, auch für die Bewegungsvielfalt in der Reformationszeit bedeutsamen Satz: „Das Unfertige, der Suchcharakter ist Kennzeichen der meisten Bewegungen.“

3. Reformatorische Bewegungen

Im spätmittelalterlichen Milieu von Kleruskritik (→Antiklerikalismus) und im oftmals stockenden Bemühen, die Kirche an Haupt und Gliedern zu reformieren, mobilisierten reformatorische Einsichten, Losungen und Parolen Anhänger, die sich nicht nur unter die Kanzeln reformgesinnter Theologen drängten, sondern auch Flugschriften lasen, die in Wort und Bild zu reformerischem Handeln anstifteten, die Heilige Schrift selber in die Hand nahmen und sich von ihr belehren ließen. So entstanden Bewegungen, die der reformatorischen Grunderkenntnis vom Heil, das Menschen sich nicht erwerben, sondern das ihnen von Gott geschenkt wird, zum Durchbruch in allen Schichten der Bevölkerung, vor allem aber auch unter dem „gemeinen Mann“, verhalfen – mit den praktischen Konsequenzen für die Ausgestaltung des Lebens. Hier war es die Absage an den Ablass, dort die Abschaffung der Messe und die Neugestaltung des Gottesdienstes, hier die Verwirklichung des Göttlichen Rechts im bäuerlichen Alltag und die Beseitigung der Leibeigenschaft, dort die Forderung nach eigener Wahl der Pfarrer. Hier die Säuberung der Kirchen von religiösen Bildern und allerlei klerikalen Kultgegenständen. Die Akzente wurden unterschiedlich gesetzt, auch miteinander kombiniert oder vermischt. Anhänger Luthers oder Zwinglis, die sich eben noch für einen gemäßigten Gang der Reformen einsetzten, fanden sich auf einmal unter militanten Bauern wieder und gingen mit Spießen, Forken und Sensen gegen geistliche und weltliche Herrschaften vor. Für sie wurde die Botschaft von der Freiheit eines Christenmenschen zu rechtlicher Konsequenz in den alltäglichen Lebensbezügen. In solchen Bewegungen entstanden erste Umrisse einer neuen Kirche oder einer erneuerten Christenheit. Zunächst war noch alles im Fluss, experimentell und provisorisch. Solange noch alles in Bewegung war, hatten die reformatorischen Bewegungen ihr Ziel nicht erreicht. Noch rangen sie mit den Widerständen, d. h. mit ihren Gegnern, aber auch mit eigenen Gefährten, die gemäßigter oder radikaler vorgehen wollten. Das Ziel wurde erst mit der politischen Anerkennung und der Verrechtlichung dessen erreicht, was in den Bewegungen erkämpft worden war – mit ihrer Institutionalisierung. Bewegung ist die Form kollektiven Handelns, das außerhalb der üblichen Ordnung auf dem Wege eines Rechtsbruchs neues Recht und neue Institutionen schafft. Das macht die Radikalität reformatorischer Bewegungen aus.

4. Täuferische Bewegungsvielfalt

Zur reformatorischen Bewegungsvielfalt, wie sie eben dargestellt wurde, gehören auch die Bewegungen der Täufer. Sie sind nicht als Reaktion auf bereits etablierte evangelische Kirchen zu verstehen, so dass sie aus diesem Grunde zu einer „coherent, gripping and dramatic unity“ (G. H. Williams) zusammengewachsen wären. Von einer Einheit des Täufertums kann keine Rede sein. Diese Bewegungen stehen auch nicht am Rande des reformatorischen Aufbruchs, sondern mittendrin. Sie gehören zum Urgestein der reformatorischen Bewegungsvielfalt und haben sich in der Dynamik reformatorischer Bewegungen entwickelt: in Mittel- und Oberdeutschland aus der von Thomas Müntzer ausgehenden Reformbewegung und den bäuerlichen Aufstandsbewegungen; in der Schweiz aus der reformatorischen, von Ulrich Zwingli angeregten Bewegung und der kommunalen Bewegung auf dem Lande; im niederdeutschen Sprachgebiet aus sakramentskritischen Bewegungen. So wird die Einsicht der neueren →Täuferforschung in die →Polygenese des Täufertums bestätigt. Bestätigt wird auch die Einsicht in den unfertigen, ja, unausgeglichenen Charakter täuferischer Anschauungen in der Anfangszeit: das Schillern zwischen einer gesamtkirchlichen Täuferreformation und dem Rückzug auf ein separatistisches Gemeindeverständnis, das Schwanken zwischen leidensbereiter Friedfertigkeit und revolutionärer Militanz. So erklärt sich auch die Schwierigkeit, im Täufertum des 16. Jahrhunderts eine einheitliche Theologie zu entdecken bzw. disparate theologische Anschauungen auf einen Nenner zu bringen. Ebenso erklärt sich aus dem Bewegungscharakter die schüttere Organisationsform täuferischer Gruppen, Sammlungen, Gemeinschaften und Gemeinden und das Erlöschen des Täufertums in einigen Regionen, einerseits der Bekennermut und andererseits die Neigung zum Widerruf, die Verheimlichung vor der Mitwelt (Nikodemismus) ebenso wie die Willfährigkeit gegenüber mancher Obrigkeit, die sie zur Ruhe kommen ließ. Das Unausgeglichene ist ein typisches Merkmal der täuferischen Bewegungsvielfalt, die noch differenzierter dargestellt werden könnte, als es hier geschehen ist. Nicht solche, von Turbulenz und nonkonformistischer Aggressivität des reformatorischen Aufbruchs geprägten Bewegungen, sondern kleine Gemeinden, die konfessionelle Züge ausgebildet hatten (→Täufer/Täuferische Konfessionalisierung), haben gegen die antitraditionellen Neigungen ihres Ursprungs eine →Tradition ausgebildet, die ihnen half, sich teilweise bis in die Gegenwart hinein zu erhalten.

Literatur

Peter Blickle, Unruhen in der ständischen Gesellschaft 1300 – 1800, München 1988. - Hans-Jürgen Goertz, Pfaffenhaß und Groß Geschrei. Die reformatorischen Bewegungen in Deutschland 1517 bis 1530, München 1987. - Ders., Religiöse Bewegungen in der Frühen Neuzeit. Enzyklopädie deutscher Geschichte, Bd. 20, München 1993. - Ders., Eine 'bewegte' Epoche. Zur Heterogenität reformatorischer Bewegungen, in: ders., Radikalität der Reformation. Aufsätze und Abhandlungen. Göttingen 2007, 23 – 53. - Adolf Laube, Reformation als soziale Bewegung, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, 33. Jg., 1985, 424 – 441. - Joachim Raschke, Soziale Bewegungen. Einhistorisch-systematischer Grundriß, Frankfurt/ M. 1985. - Eckart Pankoke, Sociale Bewegung – Scciale Frage – Sociale Politik. Grundlagen der deutschen 'Sozialwissenschaft' im 19. Jahrhundert, Stuttgart 1970. - Otthein Rammstedt, Soziale Bewegung, Frankfurt/M. 1978. - Ders, Sekte und soziale Bewegung. Soziologische Analyse der Täufer in Münster (1534/35), Köln und Opladen 1966. - Robert Scribner, The Reformation as a Social Movement, in: ders., Popular Culture and Popular Movements in Reformation Germany, London und Ronceverte 1987. - Winfried Schulze, Soziale Bewegungen als Phänomen des 16. Jahrhunderts, in: Heinz Angermeier (Hg.), Säkulare Aspekte der Reformationszeit, München und Wien 1983. - Günter Vogler, Revolutionäre Bewegung und frühbürgerliche Revolution, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, 22. Jg., 1974, 394 – 411.

Hans-Jürgen Goertz

 
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