Friedenstheologie

1. Von der Wehrlosigkeit zur Gewaltfreiheit – neue Akzente der Friedensdiskussion

Spätestens seit Mitte des 20. Jahrhunderts ist die Friedenstheologie unter Mennoniten zu dem entscheidenden, weil am stärksten Identität stiftenden Ausdruck theologischer Reflexion im Geist der Täuferbewegungen (→Täufer) geworden. Sie ist weder einheitlich, noch kann sie Normativität für sich beanspruchen. Sie ist vielmehr aus der traditionell starken Betonung der konsequenten →Nachfolge Jesu (Friedensethik) sowie ihrer Einbettung in die Glaubensgemeinschaft am Ort erwachsen (Friedenskirche). Stand zu Beginn noch die Frage der Wehrdienstverweigerung (→Wehrlosigkeit), das Verhältnis zum →Staat sowie das Selbstverständnis als deutlich abgegrenzte, bekennende Gemeinde im Vordergrund, so lässt sich beobachten, wie Gewaltfreiheit zunehmend auf alle theologischen Grundbegriffe hin entfaltet wird. Gewaltfreiheit ist viel mehr als eine ethische Wahlmöglichkeit, sie wird selbst zum inhaltlichen Steuerungselement theologischer Reflexion, dialogischer Methodik und Erkenntnis. Gewaltfreiheit ist zu einem „regulativen Prinzip“ der gesamten mennonitischen Theologie geworden (vgl. das „regulative Prinzip“ bei George Lindbeck, Christliche Lehre als Grammatik des Glaubens, 1994). Auch die wachsende Zahl differenzierter exegetischer Beiträge hat hierzu entscheidend beigetragen (Millard C. Lind, Perry Yoder, Willard Swartley, Moisés Mayordomo, Elaine Enns und Ched Myers).

Mindestens drei politische und kirchliche Entwicklungen während des 20. Jahrhunderts haben diesen fortwährenden, kreativen und zum Teil selbstkritischen Diskurs vorangetrieben: Dazu zählen erstens die großen gesellschaftlichen Verwerfungen während und nach zwei Weltkriegen, von denen vor allem Mennoniten in Europa, der ehemaligen Sowjetunion und in Nord- und Südamerika unmittelbar betroffen waren, sowie die anschließende Blockkonfrontation in der Zeit des „Kalten Krieges“, bis hin zur jüngeren Zeit „neuer Kriege“ (Herfried Münkler, Die neuen Kriege, 2003), sowie der Herausforderung durch den (auch religiösen) Pluralismus. Zweitens zählt hierzu die wachsende Assimilierung von Mennoniten in den entsprechenden Gesellschaften. Ausgehend von der Haltung absoluter Wehrlosigkeit einer „verfolgten Kirche“ und einem von außen geduldeten und von innen gewählten Separatismus (vgl. die Wirkungsgeschichte der Schleitheimer Artikel aus dem 16. Jahrhundert, →Bekenntnisse) über eine schleichende Preisgabe gerade dieses Identitätsmerkmals gegen Ende des 19. Jahrhunderts (vor allem unter Mennoniten in Deutschland) bis hin zur differenzierten Auseinandersetzung in den modernen Demokratien, die zur politischen Mitgestaltung herausfordern, verändert sich nicht nur die Haltung zu Krieg, Gewalt(freiheit) und gesellschaftlicher Verantwortung. Es verändern sich auch die entsprechenden theologischen Reflexionen, weil sich die Herausforderungen an die „Gemeinschaft der Gläubigen“ und entsprechend das Selbstverständnis, insbesondere das Verhältnis zum Staat, wandeln. Drittens ist die zunehmende Dialogbereitschaft der anderen Kirchen in der →Ökumenischen Bewegung zu nennen. Sie hat zur intensiven Auseinandersetzung und zur kritischen Weiterentwicklung bis hin zu eigenständigen Ansätzen in der Friedenstheologie angeregt und herausgefordert, anderen Christen die eigene Position zu erklären (vgl. die Beiträge zu den →Puidoux Theological Conferences in den 1950er bis 70er Jahren oder zur ökumenischen „Dekade zur Überwindung von Gewalt, 2001–2010“).

Es sind vorrangig theologische Ansätze aus Nordamerika, die Mennoniten in aller Welt stark beeinflussten und schließlich ein nachhaltiges Selbstverständnis als (historische) Friedenskirche hervorbrachten. 1991 wurde die wachsende Ausdifferenzierung der mennonitischen Friedenstheologie typologisch beschrieben (John Richard Burkholder und Barbara Nelson Gingerich (Hg.), Mennonite Peace Theology, 1991): Den zehn aufgeführten Typen friedenstheologischer Ansätze ist gemeinsam: a) der Anspruch, in der täuferischen Tradition zu stehen, b) die grundsätzliche Ablehnung tödlicher Gewalt als Handlungsoption für Glaubende dieser Tradition, c) der Bezug auf die Bibel als oberste Legitimationsautorität und (d) die vorrangige Loyalität gegenüber der kirchlichen Gemeinschaft (und nicht der Gesellschaft allgemein). Seither sind viele neuere Entwicklungen, zunehmend auch aus anderen Erdteilen, hinzugetreten, so dass diese Typologie zu modifizieren ist (vgl. auch →Pazifismus).

2. Wehrlosigkeit und radikalisierte Zwei-Reiche-Lehre

a) Die Position der Historic Nonresistance, die vor allem von Guy F. Hershberger, Harold S. Bender, John C. Wenger vertreten wurde, legt den Akzent auf einen nahezu buchstäblichen Gehorsam gegenüber der Weisheit der Bergpredigt: dem Bösen nicht zu widerstehen, die andere Wange hinzuhalten, die Feinde zu lieben, denn „selig sind, die Frieden stiften“ (Mt. 5–7). In der Kriegsdienstverweigerung findet diese Haltung ihren deutlichsten Ausdruck. Sie erwartet nicht, die gesellschaftliche Ordnung zu verändern, da sie von einem vollständig alternativen Wertekanon innerhalb der Kirche gegenüber jenem der Gesellschaft ausgeht. Politische Aktion mag für einzelne Christen Aufgabe und Berufung sein, für die Gemeinde als Ganze ist sie es nicht.

b) Davon abgeleitet wurde der Typus der Apolitical Nonresistance, in dem stark auf dualistische Vorstellungen der apokalyptischen Traditionen zurückgegriffen wurde (Sanford Shettler u. a.). Insbesondere bei konservativen Mennoniten (Old Mennonites) findet sich diese Haltung bis heute.

c) Der Neo-Secterian Pacifism kann als eine neuere Variante dieser radikalisierten Zwei-Reiche-Lehre bezeichnet werden, der dem Staat in bestimmten Situationen durchaus das Recht zur Gewaltanwendung zugestehen kann, für Christen aber die Gewaltfreiheit als einzig legitime Option vorsieht (Ted Koontz u. a.).

3. Aktive Gewaltfreiheit und Kirche als Kontrastgesellschaft

Hier schlägt sich die Friedenstheologie nicht mehr in einer reinen Verweigerungshaltung nieder, sondern fragt nach einer pro-aktiven Gewaltfreiheit, die die Kirche gerade so als alternative Gemeinschaft zur herrschenden Gesellschaft begreifen kann. Dabei treten mehrere Varianten zutage:

a) Ein Radikaler Pazifismus wird von „Evangelikalen“ wie Dale Brown, Ron Sider u. a. vertreten. Er verbindet die radikal verstandene Gewaltfreiheit in der Nachfolge Jesu mit engagierter gesellschaftspolitischer Aktion – unter Einfluss und Berufung auf Mahatma Gandhi oder Gene Sharp.

b) Ein Pazifismus der messianischen Gemeinschaft ist von John H. →Yoder, John Driver, J. Denny Weaver und dann vielen anderen entwickelt worden. Diese Haltung geht von dem Bekenntnis zu Jesus Christus als dem „Herrn der Welt“ aus. Die Nachfolge Jesu – auch und gerade in Form der Gewaltfreiheit – ist erst durch das Leben und das (Erlösungs-) Werk Christi, den sich gewaltfrei hingebenden Tod am Kreuz sowie die den Tod und die Gewalt überwindende Auferstehung, ermöglicht. Die Kirche ist die Gemeinschaft derjenigen, die sich zu diesem „Weg des Kreuzes“ bekennen und so eine Kontrastgemeinschaft zum Mainstream der herrschenden Kultur leben, ausgerichtet an der Realität und den Werten des mit Christus in die Welt gekommenen Reiches Gottes („messianische Gemeinschaft“). Insbesondere in der Feindesliebe wird dieses vollständig erneuerte Leben zum glaubwürdigen Zeugnis gegenüber der säkularen Gesellschaft. Darin erkennt die Kirche ihre soziale Verantwortung. Frieden zu schaffen, sei zentraler Inhalt des Lebens in der Nachfolge Jesu. In gewisser Weise ist auch das ein radikales Pazifismusverständnis (vgl. Hans-Jürgen Goertz, John Howard Yoder – radikaler Pazifismus im Gespräch, 2013).

John H. Yoders Verdienst ist es, diese Überzeugung durch historische, exegetische und theologische Forschungsbeiträge als reale Möglichkeit der „Politik Jesu“ zu beschreiben, wie sie mitten in der Welt der „Mächte und Gewalten“ zu vollziehen ist. Sein mehrere Jahrzehnte währendes Engagement in der Ökumene trug erheblich zur Rezeption dieses friedensethologischen Gedankengutes bei: Jesu Tod am Kreuz ist die Antwort der gefallenen Schöpfung auf die voraussetzungslose Liebe Gottes, wie sie sich im Christusgeschehen offenbart. Dieser Leidensweg Jesu ist auch den Glaubenden als Gemeinde vorgegeben, die so am Leben und Sterben Jesu partizipieren. Damit ist Kirche von der Welt unterschieden und bleibt gleichzeitig ganz auf sie bezogen, denn sie bezeugt die Wirklichkeit des Reiches Gottes vor allem durch ihren „messianischen“ Lebensstil.

Neben John Driver hat später auch J. Denny Weaver – im Kontext dieses Grundansatzes – eine entsprechend alternative Versöhnungslehre bzw. Interpretation des Kreuzestodes Jesu vorgelegt. Die ostkirchliche Idee eines Rechtsgeschäftes zwischen Christus und Satan, die Satisfaktionslehre des Anselm von Canterbury (1033–1109) oder die Vorstellung Peter Abaelards (1079–1142) von der Liebes-Offenbarung leisteten der Legitimation von Gewalt Vorschub, weil sie Jesus nur als hingebungsvolles Opfer darstellten und die ihm zugefügte Gewalt letztlich Gott selbst zuschrieben. Gegen die konventionelle Trennung von Person und Werk Christi argumentiert Weaver, dass der Tod Jesu Christi die konsequente Folge seines gewaltfreien Weges gewesen sei. Eine „narrative Christologie“, die von Jesus als demjenigen erzählt, der das Reich Gottes auf Erden präsent machte, offenbare dies: Die politischen Mächte der damaligen Zeit waren für den gewaltsamen Tod Jesu verantwortlich. Christus habe in der Auferstehung aber diese Mächte überwunden und sei so Subjekt des Geschehens geblieben („Christus Victor“). Auf diese Weise erst werde die Jesus-Erzählung zum Evangelium, denn Christ sein bedeute vor allem, sich in diese Jesus-Erzählung einbeziehen zu lassen, die mit einer sozialen Botschaft ihren Anfang nahm: der Befreiung von direkter wie systemischer Gewalt.

Von diesem „narrativen Ansatz“ gehen viele neuere Entwürfe aus, die sich unmittelbar auf John H. Yoder berufen, bei weitem nicht allein mennonitische Theologen. Als prominentester Vertreter gilt der Methodist Stanley Hauerwas. Mehrere seiner (auch mennonitischen) Schüler haben Yoders Grundgedanken aufgegriffen und kreativ weiter entwickelt. Die Baptisten Glen Stassen und David Gushy sehen sich von John H. Yoder und auch Dietrich Bonhoeffer zu ihrer umfangreichen Kingdom Ethics (2003) angeregt.

c) Der Typus des Realistischen Pazifismus, der von Duane K. Friesen, Gerald W. Schlabach u. a. propagiert wird, schließt eng an den radikalen Pazifismus und denjenigen der messianischen Gemeinschaft an. Er geht aber in seinem Optimismus sehr viel weiter, gesellschaftliche Veränderungen durch gewaltfreie Aktionen herbeiführen zu können. D. Friesen nimmt Forschungen und Erkenntnisse aus nicht-theologischen Disziplinen auf und betont die Notwendigkeit, dass Kirche sich mit säkularen Bewegungen zum Zwecke der Friedensbildung verbündet. Wie bereits sein theologischer Lehrer Gordon D. →Kaufman plädiert er für ein radikales Ernstnehmen der nachaufklärerischen Kultur, die von einer naturwissenschaftlichen Weltsicht dominiert ist und wichtige epistemologische Verschiebungen mit sich gebracht habe. Wenn auch der Ansatz eines christlichen Universal-Triumphalismus in diesem Konzept nicht mehr denkbar sei, so bleibe doch ein dezidiertes christliches Zeugnis in Wort und Tat möglich und geboten. Zwang und Gewalt seien in Glaubensdingen in diesem Konzept selbstredend ausgeschlossen. Wenn Kirche durch die Kraft des Heiligen Geistes tatsächlich ermächtigt sei, Leib Christi zu sein, dann werde sie ihr Leben auch gegenüber den Mächten einer modernen Kultur nonkonform gestalten, die durch die Ontologie der Gewalt gekennzeichnet sei. Der Mythos der erlösenden Gewalt sei zu brechen. Die Antizipation des Reiches Gottes führe Christen in der Gegenwart so gerade zur Verantwortung für die Welt (s. den Gedanken Dietrich Bonhoeffers von der „Pro-Existenz“ der Kirche).

Damit wendet sich Friesen dezidiert gegen eine dualistische Ethik. Nonkonformismus und Gewaltfreiheit treiben hier gerade nicht in die Weltflucht, sondern suchen „der Stadt Bestes“ (Jer. 29, 7). In der gegenwärtig herrschenden Kultur reiche es nicht aus, Gewalt schlicht abzulehnen, vielmehr müssten kreative, theologisch begründete und überzeugende Alternativen entwickelt werden. Friesen hat sich stets für realisierbare Umsetzungsmöglichkeiten dieser gewaltfreien Friedensbildung eingesetzt. Gemeinsam mit Gerald Schlabach und in intensiver Auseinandersetzung mit römisch-katholischen Ansätzen einer Friedenstheologie ist hieraus das wegweisende Konzept des „just policing“ entwickelt worden, um sich dem Dilemma zwischen konsequenter Ablehnung jeder militärischen Gewalt einerseits und der Verantwortung zum Schutz der unmittelbar von Gewalt Bedrohten zu stellen („Resonsibility to Protect"; vgl. Fernado Enns, Ökumene und Frieden, 220–237). Die hilfreiche Differenzierung zwischen abzulehnender militärischer Gewalt (violentia) auf der einen und akzeptabler Polizeigewalt (coercion, Zwang) auf der anderen Seite zielt auf die Bindung an die öffentliche, demokratisch legitimierte Kontrolle durch das Recht – und ist somit auch Plädoyer für ein Gewaltmonopol. Bei der Ausübung solchen Zwanges sind die Menschenrechte zu achten, die Personenwürde ist zu schützen und alle Handlungen auf Gewaltminimierung und -verhinderung auszurichten.

4. Gerechtigkeit als primäre Verantwortung der Kirche in der pluralistischen Demokratie

a) Im Konzept der Sozialen Verantwortung haben J. Lawrence Burkholder u. a. vor allem die Kritik H. Richard Niebuhrs (Christ and Culture, 1951) an der Position der Historischen Friedenskirchen aufgenommen. Niebuhr hatte für eine „Verantwortungsethik“ plädiert, die zu „ethischen Kompromissen“ nach Güterabwägung bereit sei, wenn dies die Situation erfordert, an der Gewaltfreiheit als persönlicher Option hielt er freilich fest. Als eine Spielart dieser Position wird der sog. „Canadian Pacifism“ von Frank Epp und John H. Redekop eingestuft, der in der modernen Demokratie eine hervorragende Möglichkeit zur politischen Mitgestaltung durch Christen sieht.

b) Ein Liberation Pacifism ist von Arnold Snyder, Perry Yoder u. a. vertreten worden. Sie knüpfen an die →Befreiungstheologie an und gehen von Gottes primärer „Option für die Armen“ und Unterdrückten aus. Dadurch wird der Suche nach Gerechtigkeit zumindest eine Gleichrangigkeit, wenn nicht gar Vorrangigkeit gegenüber der gewaltfreien Friedensbildung eingeräumt. Gewaltfreiheit als absolut geltende Norm kann zugunsten der Gerechtigkeit in Frage gestellt werden.

c) Eine weitere Variante ist die gewaltfreie Staatsführung, wie Gordon D. Kaufman sie schon in den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts vorgetragen hatte (Gordon D. Kaufman, Nonresistance and Responsibility, 1979). Hier ist die unbedingte Nächstenliebe, nicht die Gewaltfreiheit an sich das oberste ethische Prinzip. In der Politik kann dies durchaus zu Entscheidungen und Handlungen führen, die konträr zu persönlicher Überzeugung stehen. Vor allem in seinen späteren Publikationen hat Kaufman das „implizite Axiom“ der Gewaltfreiheit und des Friedenstiftens hin zu einer kreativen, radikal pluralistischen Friedenstheologie entwickelt. So entspricht er dem Vorsatz seiner „konstruktiven Theologie“, die althergebrachten christlichen Glaubensüberzeugungen immer wieder aufs Neue zu modifizieren (Fernando Enns, Ökumene und Frieden, 327 f.). Sprach er früher noch von den „zentralen Symbolen“ des christlichen Glaubens („Gott“ und „Christus“), so ist heute der Begriff der „Kreativität“ zentral für die Schöpferkraft, die in „Jesus“ ihren Ausdruck findet und für das Humanum schlechthin steht. Diese Begriffswahl soll die anthropomorphen Redeweisen überwinden. Gott anzuerkennen, heiße vor allem, die eigene biologische und historische Begrenzung anzunehmen. Ziel sei nicht ein Urteilen im Sinne von ‚richtig‘ oder ‚falsch‘. Durch die Befreiung von eigenen Absolutheitsansprüchen könne die selbstherrliche Arroganz gegenüber alternativen Denk- und Glaubensformen überwunden und der Weg zu einem echten Dialog erst frei werden. Diese Konsequenz ist seiner Meinung nach selbst Ausdruck einer Ethik, die dem friedenskirchlichen Anspruch inhärent ist. So fordert Kaufman denn auch dazu auf, den mennonitischen Pazifismus im Sinne göttlicher Kreativität um den Aspekt der Bewahrung der Natur als einem integralen Bestandteil mennonitischer Friedenstheologie zu ergänzen.

5. Kirche als ökumenische Gemeinschaft für den „Gerechten Frieden“ in der Welt

Neben den vielfältigen Ausformulierungen der Friedensethik und -praxis finden sich neuere Ansätze bei A. James Reimer, Fernando Enns u. a., die vor allem nach einer umfassenderen theologischen Einbettung im Horizont der Ökumene fragen, weil sie sich davon Ergänzungen bzw. Korrekturen an den eigenen, konfessionellen Positionen erhoffen und die Friedensethologie noch stärker als bisher in der ökumenischen Diskussion verankern wollen. Die Universalität des „Leibes Christi“ sprengt die Begrenzung der Diskussion auf Grundprobleme der mennonitischen Friedenskirche.

Für A. James →Reimer bleibt der Glaube – als die existenzielle Begegnung mit Gott – Voraussetzung aller Theologie („Glaube, der verstehen will“). Die Bibel schlicht als Norm für Glauben und Leben zu benennen, reiche nicht aus, es müsse vielmehr Rechenschaft darüber abgelegt werden, wie die Schrift auszulegen sei, denn die Spannungen und Widersprüche der biblischen Zeugnisse selbst seien ernst zu nehmen, gerade auch hinsichtlich der Gewaltthematik. Die Philosophie habe sich seit den Anfängen als Helferin des verstehenden Glaubens bewährt, das zeige die altkirchliche Dogmenbildung. Daher sei den traditionellen Quellen (Glaubensbekenntnisse, altkirchliche Glaubenssätze) auch in der Friedenstheologie und -ethik Geltung zu verschaffen. Insofern betrachtet Reimer die →„konstantinische Wende“ auch nicht als „den Sündenfall“ der Kirche (in bewusster Abgrenzung von John H. Yoder), sondern als Illustration des unauflösbaren Dilemmas, dem Weg gewaltloser Liebe einerseits zu folgen und sich andererseits für allgemeingültige, konsensfähige Werte in der Gesellschaft einzusetzen, die für Gerechtigkeit und den Schutz der Schwachen sorgen (A. James Reimer, Christians and the War, 2010). Daher plädiert Reimer nicht dafür, eine bestimmte Position in der Friedensethik zur Norm der Gemeinde zu erheben. Er fordert vielmehr die individuelle Gewissensprüfung der Einzelnen – freilich in fortwährender Auseinandersetzung mit den Glaubensgeschwistern. Am Ende kristallisiert sich eine Ekklesiologie heraus, die sich vor allem durch eine alternative Perspektive auszeichnet: das Modell der „freiwilligen Friedenskirche“, die in pluralen Formen zeichenhaft zu leben trachtet, wozu sie berufen ist.

Ins Zentrum theologischer Reflexion gehört für Reimer wie für Fernando Enns das trinitarische Gottesverständnis, weil es die entscheidende Gliederungs- und Ordnungsfunktion in der Systematischen Theologie übernehmen könne, die vor Einseitigkeiten und Abblendungen theologischer Grunderkenntnisse schützt. Der Leidensweg Jesu sei erst im größeren Kontext von Schöpfung (Gott), Versöhnung (Christus) und Vollendung (Heiliger Geist) allen Lebens angemessen zu verstehen. Damit werde in Erinnerung gehalten, so Enns, dass der Gott der Hebräischen Bibel (der „Israel aus dem Sklavenhaus befreit“) identisch mit dem Gott des Neuen Testaments ist, der in Jesus Christus Mensch geworden ist und der fortan in seinem guten Geist in dieser gewaltvollen Welt präsent bleibt, um sie von Gewalt zu befreien und zur Vollendung zu führen. So ist hier einem dynamischen Verständnis, das von der großen Liebes-Bewegung der göttlichen, trinitarisch gedachten Gemeinschaft geprägt ist, Rechnung getragen. Die elementare Glaubenserkenntnis ist, dass die Glaubenden „in Christo“ an dieser Gottesgemeinschaft teilhaben. Das Reich Gottes wird daher nicht durch menschliche Anstrengungen errichtet; aufgrund dieser bereits bestehenden Partizipation am Reich Gottes können Christen und Christinnen vielmehr als von Gewalt Befreite handeln.

Im trinitarischen Gottesverständnis findet die Friedenskirchen-Ekklesiologie eine angemessene Begründung für die Gestaltung eines Lebens zur Überwindung von Gewalt, ein Gemeinschaftsmodell, das andere nicht ausschließt, sondern neue Identität stiftet, nicht durch moralisches Handeln konstituiert ist, sondern zur Verantwortung befreit, nicht legalistisch in die Separation führt, sondern stets von der Gnade der (wieder-) hergestellten Beziehung Gottes zu seiner ganzen Schöpfung ausgeht. Personalität und Sozialität, Unabhängigkeit und Relationalität, Abgrenzung und Offenheit, Identität und Kommunikation können so in ihrer Komplementarität beschrieben werden.

Von hier aus ergibt sich denn auch eine angemessene, weil Christus gemäße Perspektive auf die Gewalt-Realitäten dieser Welt. Enns weitet das Gewaltverständnis zu einer theologischen Definition aus, was einerseits der Zentralität der Thematik innerhalb der Botschaft des Evangeliums entspricht und dem ökumenischen Bekenntnis zum dreieinigen Gott folgt und was andererseits der Gefahr zu wehren versucht, die weithin latent vorhandene indirekte Gewalt (psychische, strukturelle und kulturelle Gewalt) – neben der direkten (physischen) Gewalt – auszuklammern. So wird Gewalt auf drei Ebenen definiert: der relational-individuellen, der relational-interpersonalen und der relational-interkreatürlichen. Gewalt (im Sinne von violence, nicht force, coercion oder power) umfasst a) physische oder psychische Akte der Verleugnung, Verletzung oder Zerstörung der Personhaftigkeit eines Menschen – seines freien Willens, seiner Integrität, seiner Würde – also seiner Gott-Ebenbildlichkeit wie seiner Rechtfertigung aus Gnade –Gewalt umfasst b) die Verleugnung der Gemeinschaft, die Gott durch Schöpfung, Versöhnung und Vollendung schafft und in gerechten Beziehungen zwischen Menschen möglich werden; und c) die Verletzung oder Zerstörung der Natur, die Weigerung, sie als Gabe Gottes zu respektieren und als ‚Gottes Haushalt‘ zu verwalten.

Eine solche Definition liefert bereits Hinweise darauf, welche Grundaxiome zur Friedensbildung führen können: Jeder Mensch, Mann oder Frau, unabhängig von Alter, ethnischer Zugehörigkeit oder Hautfarbe, Religionszugehörigkeit oder sexueller Orientierung, ist nach dem Bilde Gottes geschaffen (Gen. 1). Hierin liegt die Würde des Menschen begründet, die unverfügbar bleibt. Christen glauben, dass Gott in Christus die Beziehung zwischen sich und der Schöpfung erneuert und zu Recht gebracht hat, ein für allemal und unzerstörbar. Menschen sind – coram Deo - gerechtfertigt und also befreit zu einem Leben in gerechten Beziehungen. Kein Mensch kann demnach auf seine Taten reduziert werden, sondern bleibt – auch wenn seine Gewalt-Taten zu verurteilen sind – vor Gott gerechtfertigt. So sieht der christliche Glaube das Leben selbst als „geheiligt“ an, oft noch gebrochen, aber in der Zuversicht, dass Gottes Geist diese Heiligung vollenden wird. Deshalb gründet für Christen der unbedingte Einsatz für den Schutz der Menschenrechte nicht in einer humanistischen Idee individueller Freiheit, sondern in diesen Glaubensüberzeugungen, die die ökumenische Gemeinschaft teilt.

Auf diese Weise wird die Frage nach Frieden unmittelbar und untrennbar mit der Frage nach Gerechtigkeit, dem gerechten Frieden verknüpft (Fernando Enns und Annette Mosher (Hg.), Just Peace, 2013). Für lange Zeit schien es, gerade auch in der Friedensethologie aus mennonitischer Sicht, als sei zwischen gewaltfreier Friedensbildung – auf Kosten der Gerechtigkeit – und dem bedingungslosen Einsatz für die Gerechtigkeit – auf Kosten der Gewaltfreiheit – zu wählen. Gerade hier haben Ansätze der „restaurativen Gerechtigkeit“ (→Gerechtigkeit) bzw. transformativen Gerechtigkeit, die aus der praktischen Friedens- und Versöhungsarbeit erwachsen sind, neue Denkmöglichkeiten eröffnet (Howard Zehr, Changing Lenses, 2005, Jarem Sawatsky, Justpeace Ethics, 2008).

Während Enns diesen Ansatz vor allem in der internationalen Ökumene zur Diskussion gestellt hat (Konrad Raiser und Ulrich Schmitthenner (Hg.), Gerechter Friede, 2012), suchte Reimer die Bewährung auch im direkten interreligiösen Dialog (Harry Huebner und Hajj Muhammad Legenhausen (Hg.), Peace and Justice, 15–20).

Literatur (Auswahl)

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Fernando Enns

 
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