Pazifismus

1. Begriff

Der Begriff „Pazifismus“ ist neuzeitlich, er wurde 1901 von Émile Arnaud propagiert und leitet sich von der lateinischen Wortzusammensetzung aus „pax“ (Friede) und „facere“ (machen, tun) ab, die schon im klassischen Latein (pacificus, pacificare) und im Neuen Testament (Mt. 5,9: beati [sunt] pacifici, selig sind die Friedensstifter) belegt ist.

Das Wort „Pazifismus“ war seit seiner Entstehung ein politischer Kampfbegriff und ist das bis heute. So vielfältig wie die geschichtlichen Quellen und gegenwärtigen Ausprägungen des Pazifismus sind, so vage und vieldeutig ist der Gebrauch des Wortes. Zur begrifflichen Erfassung ist die Bezeichnung darum weder für die Täufer der Reformationszeit noch für die Mennoniten der Gegenwart geeignet.

2. Pazifismus zur Zeit der Reformation

Wird für das 16. Jahrhundert von Pazifismus gesprochen, bezieht sich das auf →Erasmus von Rotterdam. Vor dem Hintergrund der blutig ausgetragenen Rivalität oberitalienischer Stadtrepubliken veröffentlichte Erasmus 1515 den Traktat Dulce bellum inexpertis (Krieg ist nur süß für die, die ihn nie erfahren haben). 1517 folgte seine Schrift Querela pacis (Klage des Friedens). Sie ist ein Appell, mit dem Erasmus sich vor einer geplanten Friedenskonferenz an die führenden Herrscher Europas wandte. Obwohl die Schrift einen konkreten tagespolitischen Hintergrund hat, reicht ihre Bedeutung weit darüber hinaus. Sie wurde breit rezipiert, mehrfach übersetzt und nachgedruckt. Die Argumentation der Schrift ist gelehrt und rational argumentierend: Der als Friedensgöttin personifizierte Friede sucht Schutz vor Verfolgung und Vertreibung und appelliert an die Vernunft der Herrschenden, Friede als Quelle menschlichen Glücks und Voraussetzung für den Wohlstand eines Gemeinwesens zu erkennen.

Zeitgenössische täuferische Aussagen zu Krieg, Frieden und obrigkeitlicher Gewaltanwendung sind bezeichnend anders. Sie entstammen einem anderen Kontext: Aus eigener Bibellektüre, vor dem Hintergrund von Diskriminierung, Ohnmacht und Verfolgung entstand das spezifisch mennonitische Konzept der →Wehrlosigkeit. Weder wurden bisher ein Einfluss erasmischer Friedensgedanken auf Täufer noch persönliche Verbindungen von Täufern zu Erasmus von Rotterdam nachgewiesen.

Eine deutlich von Täufern unterschiedene Position vertrat auch Sebastian →Franck in seiner Schrift Das Kriegsbüchlein des Friedens wider den Krieg (1539). Im Rahmen seiner individualistischen, mystischen oder spiritualistischen Grundhaltung erwartete Franck Frieden von der individuellen Umkehr der Menschen.

3. Moderner Pazifismus

Die Quellen des modernen Pazifismus sind vielfältig. Wichtige Impulse gingen von Immanuel Kants Schrift Zum ewigen Frieden (1795) aus. Kant verband erstmals Überlegungen zur inneren Verfasstheit eines Staates mit dem außenpolitischen Konfliktverhalten und sprach sich für eine internationale Friedensordnung aus. Die Wirkungsgeschichte dieser Gedanken war außerordentlich.

Eine andere Quelle waren Friedensgesellschaften unterschiedlichster Art, die in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts erst in den USA, dann in England und schließlich auch auf dem europäischen Kontinent gegründet wurden. Oftmals standen diese Gesellschaften in enger Verbindung mit Bewegungen und Organisationen, die sich der Bekämpfung der Sklaverei verschrieben hatten. Ihre tragenden Personen waren Vertreter einer umfassenden bürgerlichen Reformbewegung aus philanthropischem Antrieb, darunter zahlreiche Handels- und Gewerbetreibende, die sich politisch engagierten, weil sie von Kriegen Nachteile für ihre Geschäfte befürchteten.

Die im 19. Jahrhundert gegründeten Friedensgesellschaften gaben in der Regel Informations- und Werbeschriften heraus, tauschten sich untereinander aus und begannen, nationale und internationale Treffen zu organisieren. So entstand ein Netzwerk gleichgesinnter Gruppen, vergleichbar mit der sich ebenfalls international organisierenden sozialistischen Arbeiterbewegung, zu der allerdings kaum Verbindungen bestanden. Im Unterschied zu dieser waren die Friedensbewegungen ganz überwiegend bürgerlich-liberal geprägt.

Landestypische Besonderheiten prägten diese Bewegungen: Die italienische Friedensbewegung stand teilweise den nationalen Einigungsbestrebungen Camillo Benso von Cavours (1810–1861) und Giuseppe Garibaldis (1807 – 1882) nahe. In Deutschland gab es Beziehungen zu den demokratisch-republikanischen Forderungen des Vormärz und der Paulskirchenversammlung, im französischen und Schweizer Exil kooperierten zeitweise auch militante Anarchisten mit den Friedensfreunden.

Unterschiedlich stark sind die Einflüsse religiös motivierter Friedensfreunde. Während im angelsächsischen Raum die →Quäker eine eminente Rolle spielten, sind Verbindungen zu Mennoniten nicht vorhanden. Lediglich durch ihr hartnäckiges Eintreten für Ausnahmeregelungen in der Frage der Wehrpflicht sorgten Mennoniten in Deutschland dafür, dass der Gedanke weitergetragen wurde, Kriegsdienst sei mit christlichem Glauben unvereinbar. Mit den Friedensgesellschaften gab es weder organisatorische noch personelle Verbindungen.

Daneben gab es im 19. Jahrhundert eine moralisch oder weltanschaulich begründete Friedensbewegung. Sie hatte ihren Nährboden vor allem im politischen und weltanschaulichen Liberalismus, in bürgerlich-akademischen Kreisen, teilweise auch bei der technischen Intelligenz. Es bestanden vielfache Wechselwirkungen mit dominanten Weltanschauungen des 19. Jahrhunderts, beispielsweise dem Sozialdarwinismus.

Als Alfred Hermann Fried für die Zeitschrift Die Friedens-Warte 1906 ein neues Titelblatt einführte, wählte er eine Darstellung, die mehrere ineinander greifende Zahnräder zeigte, unter denen das Motto stand: „Organisiert die Welt!“ Darin kommt eine Haltung zum Ausdruck, die anstelle sentimentaler oder religiöser Friedenshoffnungen eine positiv-wissenschaftliche stellte. Fried schrieb dazu: „Das richtige Emblem zu finden, war nicht leicht. Wir mussten Abschied nehmen vom Hergebrachten. Keine Ölzweige, keine Tauben, keine Engel, keine weißen Fahnen, keine zerbrochenen Schwerter, keine Pflugscharen! Alle diese Symbole versinnbildlichen die Idee nicht, die in diesen Blättern vertreten wird. Was denn? – Eine Reihe ineinandergreifender Zahnräder erschien uns als das richtige Symbol. Das zeigt das Zusammenwirken zu einem gemeinsamen Zweck, das zeigt den Teil im Zusammenhang mit dem Ganzen, das Ganze im Zusammenhang durch den Teil, die ruhige, sichere Führung durch Organisation. Das zeigt die Herrschaft des Geistes über die Materie, die Kraft der Ordnung durch den Geist, den Sieg des menschlichen Ingeniums über die Tierheit“ (Fried, Die Friedenswarte, 1906).

Dieser Pazifismus erwartete von der ungehinderten internationalen Ausbreitung von Wissenschaft, Technik und Organisation einen gesellschaftlichen Fortschritt, der den Krieg als geschichtlich überholt überflüssig machen würde. Der Verein für Socialpolitik und auch der Evangelisch-Soziale Kongreß vertraten die Idee, dass im Zusammenwirken von unparteiischen Fachexperten wissenschaftlich begründete Problemlösungen für alle gesellschaftlichen wie internationalen Konflikte zu finden seien, insbesondere auf dem Gebiet der Friedensförderung.

Die einerseits optimistische Überschätzung des wissenschaftlichen Fortschritts und die andererseits gefährliche Unterschätzung von Nationalismus und Militarismus wurden im August 1914 offensichtlich.

Eine weitere Variante pazifistischer Überzeugungen bildete der anarcho-syndikalistische Pazifismus. Die anarchistische Bewegung des 18. und 19. Jahrhunderts bietet ein uneinheitliches Bild. Der Anarchismus hat gewalttätige Terroristen hervorgebracht, aber auch Gegner jeder Gewalt wie den Fürsten Pjotr Kropotkin (1842–1921). Gemeinsam war allen die Ablehnung jeder staatlichen Gewaltausübung. Und dahinter stand die tiefe Überzeugung, dass kein Staat dem Recht dient, sondern dass jeder Staat letztlich auf Gewalt gegründet sei und immer neue Gewalt hervorbringe, im Inneren wie nach außen. Kropotkin vertrat die Vision einer dezentralen, herrschaftsfreien und akephalen Selbstorganisation der Gesellschaft. Unbeantwortet blieb allerdings die Frage, wie eine derartige gewaltfreie Gesellschaft die vereinbarten Regeln des Zusammenlebens gegen gewalttätige Regelverletzer durchsetzen könne. Es ist die bis heute offene Frage an alle streng gewaltlosen Positionen: Wie kann dem Recht Geltung verschafft werden? Muss es nicht notfalls mit Zwang, d. h. mit legitimer Gewalt durchgesetzt werden können?

Eine weitere Spielart des Pazifismus, die wenig bekannt ist, ist der politisch-wissenschaftliche oder organisatorische Pazifismus. In der Zeitschrift Die Friedens-Warte kann man verfolgen, wie neben die moralisch-philantropische Argumentation und den organisatorischen Internationalismus zunehmend das Interesse am Völkerrecht trat. Hans Wehberg als Herausgeber (ab 1924) und Hans Schücking als Autor standen für die Verbindung von Friedensbewegung, organisiertem Pazifismus und Völkerrechtswissenschaft, die für eine internationale Gerichtsbarkeit eintrat. Sie waren ihrem Selbstverständnis nach Pazifisten, argumentierten aber, dass zur Durchsetzung von Recht auch im internationalen Bereich notfalls die Androhung und Anwendung von Gewalt nötig sei. Das Eintreten für ein legitimes Recht in und zwischen Staaten war in ihren Augen die entscheidende politische Aufgabe zur Sicherung des Friedens.

Der Pazifismus der 1920er und frühen 1930er Jahre, der von Schriftstellern, Künstlern und Publizisten öffentlichkeitswirksam vertreten wurde, speiste sich vor allem aus den schrecklichen Erfahrungen des Ersten Weltkrieges. Dieser Pazifismus war in erster Linie Antimilitarismus und wies zahlreiche Verbindungen zu Sozialismus und Kommunismus auf.

4. Pazifismus in der Bundesrepublik Deutschland

„Nie wieder Krieg!“ lautete die typisch deutsche pazifistische Konsequenz aus den Erfahrungen zweier Weltkriege nach 1945. Diese Haltung der Nachkriegszeit, die Protestbewegungen bis in die späten 1960er Jahre hinein prägte, wurde in gemäßigter Form zur Grundhaltung der Nachkriegsgenerationen, auch wenn eine konsequente „Ohne mich"-Haltung durch die Wiederbewaffnung bald in die Minderheit geriet.

In den 1970er Jahren verbanden sich pazifistische Überzeugungen im Protest gegen den Vietnamkrieg mit antiimperialistischen Motiven. Die Politik der Industriestaaten gegen die Entwicklungsländer wurde scharf kritisiert, und den Kampf gegen „Befreiungsbewegungen“ in der Dritten Welt hielten viele Menschen in den westlichen Industrieländern für nicht gerechtfertigt.

In den 1980er Jahren verband ein Atom-Pazifismus weite Teile der Gesellschaft bis tief ins bürgerliche Lager hinein. Die Konfrontation zweier konventionell wie atomar hochgerüsteter Militärblöcke, verbunden mit der nuklearen Abschreckungsstrategie der „flexible response“ und der Gefahr, dass fahrlässig ein Atomkrieg ausgelöst werden könnte, trieb Hunderttausende im Protest gegen die NATO-Nachrüstung mit atomaren Sprengköpfen auf die Straßen.

Am Beginn des 21. Jahrhunderts sind einerseits pazifistische Gedanken weithin akzeptiert und teilweise mehrheitsfähig. Andererseits steht der Pazifismus vor neuen Fragestellungen. Dazu gehören die neue Bedrohung des Friedens durch den internationalen Terrorismus sowie das Phänomen zerfallender staatlicher Strukturen in vielen Teilen der Welt, verbunden mit lang anhaltenden, kriegsähnlichen Exzessen, mit Terror und unermesslichem Leid für die Zivilbevölkerung. Auch das Konzept der Schutzverantwortung (responsibility to protect), das die Menschenrechte und damit die Schutzpflicht für die Zivilbevölkerung in Einzelfällen über das Prinzip der Souveränität der Staaten stellt und militärische Interventionen aus humanitären Gründen für erlaubt erklärt, ist zu bedenken. Vor dem Hintergrund dieser neuen Problemlage muss Pazifismus neu definiert werden (Erhard Eppler, Vom Gewaltmonopol, 2002). Mehr denn je lässt die Diskussion offen erscheinen, welche Überzeugungen und Haltungen überhaupt als pazifistisch zu bezeichnen sind. Der Kampf um die Definitionshoheit ist Teil der politischen Auseinandersetzung. Die Bezeichnung der Mennoniten als pazifistisch ist darum nicht geeignet, das Selbstverständnis der Mennoniten zu erhellen.

5. Pazifismus und Mennoniten

Friedensgesellschaften, die während des 19. Jahrhunderts im angelsächsischen Raum entstanden, waren nachweislich ideell und personell von Quäkern stark beeinflusst. Von Mennoniten sind dagegen keine Impulse ausgegangen. Wie in Europa gab es weder Kontakte zwischen organisiertem Pazifismus und mennonitischen Gemeindeverbänden noch personelle Berührungen. Als 1888 das Drama Der Menonit von Ernst von Wildenbruch erschien, löste es bei Mennoniten in Deutschland heftigen Widerspruch aus (→Literatur). Sie empfanden es als unzutreffende Infragestellung ihres Patriotismus, und in der offiziellen Stellungnahme der Mennoniten wies Hinrich van der Smissen auf die Teilnahme zahlreicher mennonitischer Männer als Soldaten am deutsch-französischen Krieg 1870/71 hin.

In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts haben Mennoniten in den USA sich explizit vom als liberal abgewerteten Pazifismus des nordamerikanischen Mainstream abgegrenzt. Mit ihm könne es keine Gemeinsamkeit geben, denn ihm fehle das wirklich ernsthafte Verständnis der menschlichen Sündhaftigkeit, der Erlösung durch Christus usw. Die Wiedergewinnung des täuferischen Leitbildes seit den 1940er Jahren stand in bewusster Abgrenzung zum allgemeinen Pazifismus und blieb auf innerkirchliche Wirkung beschränkt.

Nach dem Zweiten Weltkrieg hat das Vordringen pazifistischer Gedanken in der Gesellschaft zunehmend auch zu einem Einstellungswandel unter Mennoniten geführt, die sich dadurch anregen ließen, ihr geschichtliches Erbe mit neuen Augen zu sehen. Mennonitische Konzepte zur Überwindung von Gewalt als Mittel der Konfliktlösung wie die von Paul Lederach sind auch über mennonitische Grenzen hinaus wirksam geworden. Mennonitische Theologen (Yoder 1992, Roth 2002) sind allerdings weiterhin bestrebt, sich deutlich von allgemeinen pazifistischen Überzeugungen abzugrenzen.

Literatur (Auswahl)

Peter Brock, Freedom From War. Nonsectarian Pacifism 1814–1914, Toronto 1991. - Peter Brock, Freedom From Violence. Sectarian Nonresistance from the Middle Ages to the Great War, Toronto 1991. - Erhard Eppler, Vom Gewaltmonopol zum Gewaltmarkt? Die Privatisierung und Kommerzialisierung der Gewalt, Frankfurt 2002. - Andreas Gestrich, Gottfried Niedhart, Bernd Ulrich (Hg.), Gewaltfreiheit. Pazifistische Konzepte im 19. und 20. Jahrhundert (Jahrbuch für Historische Friedensforschung, Bd. 5), Münster 1996. - Stefan Grotefeld, Jean-Daniel Strub (Hg.), Der gerechte Friede zwischen Pazifismus und gerechtem Krieg. Paradigmen der Friedensethik im Diskurs, Stuttgart 2007. - Karl Holl, Pazifismus in Deutschland, Frankfurt 1988. - Wolfgang Lienemann, Frieden. Vom „gerechten Krieg“ zum „gerechten Frieden“ (Bensheimer Hefte 92), Göttingen 2000. - John D. Roth, Choosing Against War. A Christian View : A Love Stronger Than Our Fears, Intercourse, PA, 2002. - John Howard Yoder, Nevertheless. The Varieties and Shortcomings of Religious Pacifism. Revised and Expanded Edition, Scottdale, PA, and Waterloo, ON, 1992.

Christoph Wiebe

 
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