Befreiungstheologie

1. Eine katholische Umkehrbewegung mit Wurzeln in Europa

Obwohl die lateinamerikanische Befreiungstheologie tief in der Conquistatragödie und im Volkskatholizismus dieses Kontinents verwurzelt ist, liegen die geistesgeschichtlichen Wurzeln durchaus auch in Europa: Der dialektische Entwicklungsansatz von Georg Friedrich Hegel, Karl Marx und Ludwig Feuerbach, die kritische Theorie der Frankfurter Philosophen Herbert Marcuse, Jürgen Habermas und Theodor W. Adorno, dann aber haben besonders auch das Prinzip Hoffnung von Ernst Bloch und die Theologie der Hoffnung von Jürgen Moltmann den Befreiungstheologen Südamerikas entscheidende Anstöße vermittelt. Zum andern darf die beachtliche Wende nicht unterschätzt werden, die der Jesuitenorden unter Pedro Arupe zugunsten einer „Präferenzoption für die Armen“ nach vielen Jahrhunderten des Interesses für die soziale Elite und Führungsschicht der Gesellschaft vornahm. Schon da begann eine neue Denkweise „von unten“, nachdem man sich soziale Veränderungen immer nur „von oben“ hatte vorstellen können. Hinzu kam der neue Optimismus, die Öffnung für den Geist und für die Heilige Schrift, wie sie durch das Zweite Vatikanische Konzil für den südamerikanischen Katholizismus bahnbrechender wurde als irgendwo sonst.

Die katholische Conquista in Südamerika war eine recht unglückliche Aneignung des Christentums. Schon früh gab es Stimmen unter den eigenen katholischen Missionaren, Fray Bartolomé de las Casas oder auch der ‚Gottesstaat' der Jesuiten, die Kritik an der brutalen Christianisierung anmeldeten, bei der Priester und Conquistador, Kreuz und Schwert Hand in Hand gingen. Spätestens nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil, aber auch schon bei der Wende des Jesuitenordens unter Pedro Ariupe zur „Präferenzoption für die Armen“ versuchte der lateinamerikanische Klerus an vielen Orten einen theologischen Neuansatz. Dieser wurde vor allem durch Gustavo Gutierrez und sein Buch Una teología de la liberación in den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts artikuliert und popularisiert.

Während der Militärdiktaturen in verschiedenen südamerikanischen Ländern fing die Katholische Kirche an, sich unbehaglich und schuldig zu fühlen in ihrer historischen Symbiose mit dem Staat und mit den jeweiligen Regierungsmachthabern. Hinzu kam die anfangs recht erfolgreiche Revolution mit Fidel Castro und Che Guevara in Kuba, die auf eine neue Sozialordnung der Staaten hoffen ließ. Außerdem war der Kalte Krieg in Lateinamerika ziemlich heiß, da alle Länder und Regierungen sich gezwungen sahen, ihre Präferenz zwischen der kommunistischen Sowjetunion oder der nordamerikanischen Hegemonie zu definieren.

2. Analogien zur radikalen Reformation des 16. Jahrhunderts

Natürlich hat täuferisch mennonitische Theologie diesen Neuaufbruch mit kritischer Sympathie wahrgenommen und begleitet, am stärksten sicherlich John Howard →Yoder sowie Daniel Schipani und Ron Sider, als auch die Theologen der „Fraternidad Teológica Latinoamericana“ (René Padilla, Samuel Escobar, José Míguez Bonino, Juan Stam, Valdir Steurnagel u. a.), die sich mehrheitlich der täuferischen Theologie zu einem hohen Maß verpflichtet fühlten.

Befreiungstheologen der ersten Stunde definieren ihren methodischen Neuansatz als „kritische Reflexion über christliche Praxis im Lichte des Wortes“. Daniel S. Schipani, ein mennonitischer Theologe, sieht durchaus Paralellen zwischen dieser Art, Theologie zu betreiben, und den täuferischen Reformbewegungen des 16. Jahrhunderts: Basisgemeinden, die sich als Kontrast- und Protestgemeinschaften verstehen, das Priestertum aller Gläubigen, die Bibel im Leben und der Mission der Gemeinde, das Freiwilligkeitsprinzip in der Zugehörigkeit zur Gemeinde, die Ablehnung der Einheit von Thron und Altar, die Forderung nach religiöser Freiheit, das biblische Verständnis von existenziellem Christentum als Nachfolge Jesu und Jüngerschaft als „Orthopraxis“ (Daniel S. Schipani, Art. Liberation Theologies).

3. Kritische Integration von Soziologie, Pädagogik und Theologie

Die lateinamerikanische Befreiungstheologie hat entscheidende theologische und philosophische Wurzeln im Europa des 20. Jahrhunderts: Neben dem bereits erwähnten Prinzip Hoffnung Ernst Blochs, der marxistischen Gesellschaftsanalyse, Jürgen Moltmanns Theologie der Hoffnung auch neue Ansätze in Exegese und Hermeneutik, nicht zuletzt Karl Barths Neubetonung der Offenbarung des Wortes Gottes sowie Karl Rahners Forderung, die Bibel wieder ins Zentrum der Priesterausbildung zu setzen. Diese verschiedenen Impulse wurden von jungen lateinamerikanischen Theologen, die in Europa studiert hatten, aufgenommen.

Zum andern hat die populäre Pädagogik des Brasilianers Paulo Freire entscheidend dazu beigetragen, Praxis und Bewusstmachung als Ausgangspunkt der Pädagogik und Theologie anzusehen. Neben dem Zweiten Vatikanischen Konzil (1962–1967) war es zum einen die lateinamerikanische Bischofskonferenz in Medellin (CELAM II, 1968), die für die katholische Theologie und pastorale Arbeit entscheidende Weichen in Richtung Befreiung und Präferenzoption für die Armen stellte. Auf protestantischer Seite entstand schon sehr früh die Bewegung „Kirche und Gesellschaft in Lateinamerika“ (ISAL). Bedeutsam war die Erscheinung des Buches von Rubem Alves A Theology of Human Hope (1969). Es stellte protestantische Stimmen zusammen und versuchte Barth, Bultmann und Moltmann im lateinamerikanischen Kontext zu lesen. Zwei Jahre danach erschien auf katholischer Seite das Epoche machende Buch von Gustavo Gutiérrez A theology of Liberation (1971).

4. Merkmale einer befreienden Theologie ‚von unten'

Durchgehend bezieht sich Befreiungstheologie auf die Exoduserfahrung, wo ein ausgebeutetes Volk von Sklaven durch Gottes Intervention in die Freiheit geführt wurde. Dieser beinahe punktuelle Befreiungsschlag steht im Zentrum der existenziellen christlichen Erfahrung. Der zweite Schritt, der Aufbau einer gerechten Volksgemeinschaft im verheissenen Land, wird zwar auch bedacht, aber etwas schwächer. Klar ist jedoch auf alle Fälle, dass Freiheit und Gerechtigkeit zusammengehören. Die Sozialstrukturen einer kleinen reichen Elite und einer großen abhängigen armen Schicht werden als zutiefst ungerecht empfunden und gekennzeichnet.

Befreiung bezieht sich zumindest auf drei Sphären: Befreiung von mentalen Strukturen, die Ausbeutung ermöglichen und fördern; lokale Befreiung von politischen Militärdiktaturen und feudalistischen Sozialstrukturen; und natürlich auch im globalen Sinn Befreiung der hochverschuldeten Peripherieökonomien südlicher Länder und ehemaligen Kolonien von der wirtschaftlichen Abhängigkeit und Ausnutzung der großen Ökonomien der Ersten Welt.

Die besonderen Beiträge der Befreiungstheologie lassen sich in fünf Merkmalen zusammenfassen (Daniel S. Schipani, Art. Liberation Theologies):

(1) Bewusstmachung (concientización) ist der Prozess, durch den einerseits die historischen Ursachen von Armut und Unterdrückung verstanden werden, zum andern zielt Bewusstmachung auch darauf, das Gott gegebene Potential für Freiheit und Entfaltung aufzuzeigen. Die marxistische Sozialanalyse, politische Bewusstmachung, Alphabetisierung und soziale Transformation stehen dabei im Vordergrund.

(2) Utopie: Jesus und sein Reich, seine radikale Lehre und seine befreiende Praxis zielen auf radikale Weltveränderung; sie führen an einen Ort, den es so noch nicht gibt, der aber kommen soll. Es geht um mehr als nur eine kritische Interpretation. Es geht um konkrete Erfahrung, um verbindliche Aktion und Transformation.

(3) Praxis als Erkenntnisgrundlage: Befreiungstheologen stellen der Orthodoxie, der lehrmäßigen Suche nach Wahrheit, die Orthopraxis gegenüber. Dem Evangelium gehorsam sein, Jesus Christus im praktischen Leben folgen, ist wichtiger als das Evangelium zu definieren oder zu verteidigen. Orthopraxis beweist sich besonders in verbindlicher Mitarbeit an Gottes Werk der Befreiung und Neuschaffung der Welt.

(4) Hermeneutische Zirkulation: Von der Praxis zum Bibeltext und vom Bibeltext zur Praxis, vom ursprünglichen historischen Kontext der Bibelworte zum gegenwärtigen soziopolitischen Kontext der glaubenden Gemeinde. So lässt sich die Bibel wohl nicht besser auslegen, aber die Wirklichkeit klarer verstehen und „im Lichte des Wortes“ verändern.

(5) Basisgemeinden: Der „neue Weg“, Theologie zu betreiben, findet seine Entsprechung im „neuen Weg, Kirche zu sein“. Basisgemeinden sind Orte, wo Arme und unterdrückte Christen und solche, die sich mit ihnen solidarisch erklären, in Gottesdienst, Bibelbetrachtung, gegenseitiger Hilfe, Dienst, bildungsmäßiger Förderung und sozialer Aktion zusammenleben. Basisgemeinden entsprechen dem Neuansatz seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil, mehr Kirche „von unten“ als Kirche von oben herab zu sein.

5. Bedenken und Kritik

Sehr bald ist die Befreiungstheologie auch auf Bedenken und Kritik gestoßen: Es besteht die Gefahr, das Evangelium auf eine revolutionäre Ideologie zu reduzieren und soziale und historische Entwicklungen zu simplizistisch zu interpretieren. Außerdem wird eingewandt, dass Situationspragmatismus und Praxisorientierung die Wahrheitsfrage relativieren, die marxistische Sozialanalyse Grenzen habe und die Eschatologie zu diesseitig verstanden werde.

Schon 1984 meldete der Vatikan ernsthafte Bedenken mit seiner Instruktion über einige Aspekte der Befreiungstheologie an. Mit dem Ende des Kalten Krieges ist auch die erste Welle der Befreiungstheologie relativ stark in Lateinamerika abgeklungen. Andererseits wurden ähnliche Anliegen in Asien und Afrika aufgenommen und weiter entwickelt.

6. Bleibende Herausforderungen

Für täuferisch-mennonitische Theologie bleibt die Befreiungstheologie eine willkommene Herausforderung und ein wertvoller Gesprächspartner. Das um so mehr, weil das Täufertum des 16. Jahrhunderts aus durchaus ähnlichen sozialen und politischen Zusammenhängen hervorging wie die Befreiungstheologie des 20. Jahrhunderts: Suche nach einem Lebensstil und einer Gemeinschaftsform, wo alle Lebensbereiche dem Evangelium untergeordnet werden, Solidarität mit Armen und Unterdrückten, Freiheit von bevormundendem Klerus und ausbeutenden Machthabern, Suche nach radikaler Nachfolge Christi.

Wie im Täufertum des 16. Jahrhunderts, so hat es auch in der Befreiungstheologie des 20. Jahrhunderts gewissen Wildwuchs gegeben, der fortlaufende Korrektur im Lichte des biblischen Wortes notwendig macht: Die Gewaltbereitschaft im Zeichen einer utopischen Revolution, der niemals wirklich überwundende Konstantinismus, der darauf zielt, die gesamte Gesellschaft flächendeckend und kulturell zu christianisieren, die schwierige Dialektik zwischen Freiheit und Gleichheit im Zeichen der Gerechtigkeit. Das sind Gesichtspunkte, auf die beispielsweise John H. Yoder hingewiesen hat. Sie werden von einer zweiten Generation der Befreiungstheologen beachtet.

Bibliografie (Auswahl)

Leonardo Boff, Church, Charism, and Power: Liberation Theology and the Institutional Church, New York 1985. - José Míguez Bonino, Doing Theology in a Revolutionary Situation. Philadelphia, PA, 1975. - Guillermo Cook, The Expectation of the Poor: Latin American Basic Ecclesial Communities in Protestant Perspective, Maryknoll, NY, 1985. - Samuel Escobar, Liberation Theology, in: The Blackwell Encyclopedia of Modern Christian Thought, hg. von Allister Mcgrath, Malden 1983. - Paulo Freire, Pedagogy of the Oppressed, New York 1970. - Gustavo Gutiérrez, A Theology of Liberation, Maryknoll, NY, 1973. - Ders., The Power of the Poor in History, Maryknoll, NY 1983. - Pius Helfenstein, Evangelikale Theologien der Befreiung, Zürich 1991. - Mennonite Quarterly Review, Supplement to Vol. 58, besondere Ausgabe zu „Latin America and Anabaptism“, August 1984. - Alfred Neufeld, Fatalismus als missionstheologisches Problem. Die Kontextualisation des Evangeliums in einer Kultur fatalistischen Denkens. Das Beispiel Paraguay, Dissertation, Bonn 1994. - C. René Padilla, Liberation Theology (II), The Reformed Journal, Juli 1983, 14–18. - Daniel S. Schipani (Hg.), Freedom and Discipleship: Liberation Theology in Anabaptist Perspective, Maryknoll, NY,1989. - Ders., Religious Education Encounters Liberation Theology. Birmingham, AL, 1988. - Ders., Art. Liberation Theologies, in: Global Anabaptist Mennonite Encyclopedia Online 1989. - Juan Luis Segundo, The Liberation of Theology, Maryknoll, NY. 1976. - John H. Yoder. Christian Attitudes to War, Peace, and Revolution, 1983 und 1983, 511–538.

Alfred Neufeld

 
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