Freiheit

Wo über Grundbedürfnisse menschlicher Existenz seit der Zeit der →Aufklärung nachgedacht wird, spielt das Freiheitsverständnis eine besondere Rolle. Jeder Mensch wird aufgefordert, sich als freie Person zu verstehen, „um dem Leben einen selbstgewollten, humanen Inhalt zu geben“ (Heinz Eduard Tödt, Art. Freiheit, 108). Freiheit steht auf dem Spiel, wenn um Probleme der „conditio humana“ gerungen wird. Das ist in Philosophie und Theologie ebenso der Fall wie in der Anthropologie, den Biowissenschaften, den Sozial- und Geschichtswissenschaften. Über Freiheit wurde viel geschrieben, so dass es nicht möglich ist, enzyklopädisch zu fassen, was sie ist und wie mit ihr umgegangen wird – einst und jetzt. Hier können nur einige Grundzüge beschrieben werden, die zum Verständnis der ersten „freien“ Kirche auf protestantischem Boden in Europa wichtig sind (→Freikirchen).

1. Freiheit – eine Signatur der Neuzeit

„Freiheit“ war das Losungswort der Französischen Revolution und aller nachfolgenden Revolutionen, vorher schon des Unabhängigkeitskriegs, den die Kolonien in Nordamerika gegen die englische Krone führten, und davor der Auseinandersetzungen, die zum Abfall der niederländischen Provinzen von der Herrschaft Spaniens führten. „Freiheit“ wurde zur Signatur der Neuzeit, um sie wird immer noch gerungen, wo sie nicht eingelöst ist und wo Demokratie und Menschenrechte sich noch nicht durchgesetzt haben. Ein Beispiel für den Kampf um Freiheit heute sind die Befreiungsbewegungen in aller Welt. Doch selbst wenn die Freiheit politisch institutionalisiert und rechtlich garantiert wird, muss sie geschützt und gepflegt werden, sie ist mehr Aufgabe als Zustand, prekär und fragil. Das gilt für Meinungsfreiheit genauso wie für Religions- und Gewissensfreiheit, für die grundgesetzlich garantierte freie Entfaltung der Persönlichkeit wie für Freiheit in Forschung und Lehre, für die freie Marktwirtschaft genauso wie für das Recht der Völker auf politische Selbstbestimmung und die freie Verfügbarkeit über die wirtschaftlichen Ressourcen im eigenen Land. Überall sind Freiheitsräume entstanden, und überall sind sie immer noch der Gefahr ausgesetzt, eingeschränkt oder zerstört zu werden. Traditionellerweise wird diese Beobachtung auf den Widerstreit von Gut und Böse in der Natur des Menschen zurückgeführt und in der Überwindung der menschlichen Böswilligkeit eine Chance für die Freiheit gesehen. Andererseits wird unter modernen Gesichtspunkten eine moralisch indifferente Erklärung dafür angeboten: Die modernen Gesellschaften eröffnen mit einer sich steigernden Komplexität bisher ungeahnte Spielräume für die freie Entscheidung der Menschen zu angemessenem Verhalten und Handeln. Darin liegen Chancen für die Verwirklichung menschlicher Freiheit. Darin lauert aber auch die Gefahr, von der oft schon monströs angeschwollenen Komplexität überfordert zu werden und das eigene Leben doch nicht mehr frei gestalten zu können. Die Gesellschaft wird undurchschaubar und beginnt, Zwänge auszuüben, gegen die kaum eine Gegenwehr möglich ist (vgl. Gordon D. Kaufman, In Face of Mystery, 160 ff.).

Das gilt nicht nur für die öffentlich wirksame Freiheit, sondern auch für die Freiheit, die im individuellen, personalen Bereich wirkt und verantwortet wird. Zu bewähren, was einem gewährt wird, nämlich sich frei entfalten zu dürfen, ist nicht leicht und kann schnell in repressives Verhalten umschlagen, sobald die eigenen Bedürfnisse nicht respektiert werden oder sich nicht verwirklichen lassen. Die Erfahrung der eigenen Ohnmacht im Räderwerk der gesellschaftlichen und politischen Institutionen kann dazu führen, sich in Resignation zurückzuziehen, sich den Zwängen zu fügen und schließlich auf den eigenen Freiheitsanspruch zu verzichten. Individuell auszulebende Freiheit ist genauso angefochten wie kollektiv errungene und gemeinschaftlich gestaltete Freiheit. So wird Freiheit zu einem Lebensexperiment, auf das niemand verzichten wird, der sich Freiheit errungen hat oder dem Freiheit gewährt wurde, sie bleibt aber ein Experiment, das nicht nur gelingen, sondern auch scheitern kann. Gerade die Zweideutigkeit im Umgang mit Freiheit lässt diese Erfahrung zu einem religiösen Problem für die Menschen werden, sofern sich in ihr das Ausdruck verschafft, „was uns unbedingt angeht“ (Paul Tillich, Systematische Theologie, 19–22), aber aus eigener menschlicher Kraft nicht zu verwirklichen ist. Wie in der klassischen Antike (Ernst Fuchs, Art. Freiheit, 1101) geht es in der Freiheit, wenngleich mit anderen Inhalten, auch heute um das Heil der Menschen.

2. Freiheit als Befreiung im Alten und Neuen Testament

Im Alten Testament gibt es kein Substantiv, das dem griechisch-hellenistischen oder neuzeitlichen Freiheitsbegriff entspricht. Am nächsten kommen diesem Verständnis einige Verben, die im Zusammenhang mit Sklaverei stehen und der Sprache des Rechts im alten Israel angehören: auslösen und freikaufen (Gerhard v. Rad, Theologie des Alten Testaments, 178). Freiheit wird im Alten Testament als Befreiung verstanden und orientiert sich an der Befreiung des Volkes aus der Knechtschaft in Ägypten (2. Mos. 20, 2). An diese Befreiung wird im Urbekenntnis der Israeliten und in der Feier des Sabbat erinnert. Was sich ursprünglich wohl nur auf den wirtschaftlichen und sozialen Bereich bezog, begann sich zur religiösen Grunderfahrung eines ganzen Volkes auszuweiten und eröffnete neue Möglichkeiten: die Landnahme Kanaans, die Aussicht auf natürliche Ressourcen im Überfluss und die Abschaffung der Sklaverei. Im Zuge der Überlieferungsgeschichte wurde die Erinnerung an eine Kriegstat Jahwes theologisch zu einem „befreienden Rechtsakt Jahwes“ und schließlich zur „Erwählung“ Israels zum Volk Gottes umgedeutet (Gerhard v. Rad, Theologie des Alten Testaments, 178 f.). Schließlich wurde zur Zeit der Propheten nicht mehr nur an das „Zeichen und Wunder“ der Befreiung am Schilfmeer erinnert (5. Mos. 26, 5 ff.), sondern nach mancherlei Rückschlägen (z. B. der Wiedereinführung des Sklavendienstes) die Befreiung nur noch in ferner Zukunft erwartet und war „im gesellschaftlichen Leben Israels nur als verheißene gegenwärtig“ (Hans-Werner Bartsch, Art. Freiheit, in: Theologische Realenzyklopädie, 498). Von Anfang bis zum Ende stand die wechselvolle Geschichte Israels im Zeichen einer befreienden und erlösenden Tat Gottes: einer erfahrenen und einer verheißenen.

In den synoptischen Evangelien des Neuen Testaments fehlt ebenfalls der griechisch-hellenistische Freiheitsbegriff (eleutheria), stattdessen setzt sich hier die alttestamentliche Vorstellung von der Befreiung als Heilshandeln Gottes durch. Der griechische Begriff wurde erst in den Briefen des Paulus und im Evangelium des Johannes aufgenommen. Die Gleichnisse und Wunder Jesu verkündigen den Anbruch der Herrschaft Gottes. Soziale Unterschiede werden eingeebnet, zwischenmenschliche Beziehungen neu ausgerichtet, kurzum: die dem Alten Testament ähnelnden Verben der Befreiung deuten auf eine Befreiung von Abhängigkeiten hin, die dem Heil, wie es im Reich Gottes angeboten wird, entgegenwirken. Dazu zählen die Wirkungen der römischen Fremdherrschaft ebenso wie die Forderungen, die im Namen des jüdischen Gesetzes erhoben werden. In der Begrifflichkeit der Befreiung wird die Botschaft von der umfassenden Erlösung des Menschen zum Ausdruck gebracht. Das zieht sich im Großen und Ganzen auch durch die paulinischen Briefe, wird dort allerdings in die griechisch-hellenistische Vorstellungswelt und Begrifflichkeit übertragen. Erstens spielt hier das sich an der Polis und dem Verhalten in der Polis reibende Freiheitsverständnis eine Rolle und zweitens die Orientierung an den Fähigkeiten der Menschen, sich intellektuell von den äußeren Abhängigkeiten zu emanzipieren. So beschreibt Paulus die Freiheit, wie sie in der neuen Gestaltung der Verhältnisse im Leib Christi bzw. in der Gemeinde der Christen konkret wird. In der Gemeinde (dem christlichen Äquivalent der Polis) sind durch die Taufe die sozialen Unterschiede aufgelöst, was nicht bedeutet, dass damit eine Auflösung solcher Unterschiede außerhalb der Gemeinde gefordert werde, dennoch verändert sie das Verhältnis, das der Einzelne zu seiner Situation in der Welt einnimmt. Das einzelne Gemeindeglied wird aufgewertet, indem es an der Gestaltung des Gemeindeleben mit seinen Gaben beteiligt ist (1. Kor. 14) und dazu beiträgt, die Konflikte gemeinsam zu regeln (1. Kor. 5–7). Dass weder Sklave noch Freier, Grieche noch Jude in der Gemeinde sei (Gal. 3, 26–29; 1. Kor. 12, 13), ist nicht Ausdruck einer Freiheit an sich, sondern Ausdruck dessen, was in der Liebe, die allen Menschen gilt und alle Menschen umfasst, wirksam ist (1. Kor. 8–14). Modern gesprochen, ist Freiheit eine Dimension des Gehorsams und der Liebe. Sie steht nicht für sich allein (vgl. Ernst Fuchs, Art. Freiheit im NT, Sp. 1102). Damit wird zum Ausdruck gebracht, dass auch in der Gemeinde noch um die Freiheit gerungen wird. Freiheit, die Gott will, hat hier keinen ontologischen Status angenommen, sondern wird verkündigt und verheißen, im eschatologischen Erwartungshorizont, in dem die Christen leben, beginnt sie allerdings auch so schon eine heilsame Wirkung in der Gemeinde zu entfalten. In der Taufe werden nicht nur die sozialen Unterschiede unter den Gemeindegliedern aufgehoben, sondern auch eine Einheit durch den Geist Gottes hergestellt. Sie sind zu einem Leib geworden (1. Kor. 12, 13). Im Wirken des göttlichen Geistes sind und werden sie immer noch von der Macht der Sünde, die zum Tode führt, und von dem Gesetz befreit, das nicht in der Lage ist, das Heil zu vermitteln, sondern die Menschen verknechtet (Rö. 6). Schließlich markiert Freiheit einen Herrschaftswechsel. Der Mensch ist frei von Sünde und Tod, er dient nicht mehr dem Gesetz und dem Fleisch, im Geist dient er Jesus Christus, der von Gott gesandt wurde, „auf daß die Gerechtigkeit, vom Gesetz erfordert, in uns erfüllt würde, die wir nun nicht nach dem Fleische wandeln, sondern nach dem Geist“ (Rö. 8, 4). Wenn Paulus also betont, dass auch der gerechtfertigte Mensch nicht frei, sondern Knecht Gottes geworden sei (Rö. 6, 22), dann geschieht das, um die Spannung zwischen der Erlösung des Menschen in Kreuz und Auferstehung Jesu Christi und der Verpflichtung, nicht zu handeln, wie es einem gefällt, sondern sich den Mitmenschen in Liebe zuzuwenden. Damit folgt er Christus, der sich selbst entäußerte und „Knechtsgestalt“ annahm (Phil. 2, 7), er ist nicht nur wie Paulus ein „Knecht Christi“ (Rö. 1,1), sondern auch ein Knecht der Menschen (2. Kor. 4, 5). So findet die Freiheit, die schon angebrochen, aber noch nicht vollendet ist, in der dialektisch gebrochenen Rede ihren eschatologischen Ausdruck.

Anders wird darüber im Johannesevangelium gesprochen. In einem Wort, das der Evangelist dem irdischen Jesus in den Mund legt, wird die Freiheit als ein Vorgang bezeichnet, der in einer bleibenden Verbindung der Jünger mit Jesus entsteht: „wenn ihr in meiner Rede bleibt, seid ihr wirklich meine Jünger, und ihr werdet die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch frei machen“ (Joh. 8, 31 f.). Dieses Wort wird an die Juden gerichtet, die jetzt an Christus glauben, aber jeden Gedanken daran, dass sie nicht von Abraham her schon Freie seien, abweisen. Sie verstehen nicht, dass allein das Erkennen der Wahrheit, die in der Rede Jesu jetzt schon zum Ausdruck gebracht ist, zu befreien vermag und in die Freiheit führen wird. Diese Freiheit ist eine „eschatologische Gabe“, sie ist „Freiheit von der Welt und d. h. zugleich die Freiheit von der Vergangenheit und damit des Menschen von sich selbst“, und sie erschließt Zukunft des Menschen „als eines Zukünftigen, Neuen“ (Rudolf Bultmann, Das Evangelium des Johannes, 336 und 335). Hier wird noch einmal deutlich, dass die Identität des Menschen nicht in ihm selbst liegt, sondern außerhalb seiner Selbst, nicht wo er wegen seiner Verknechtung durch die Sünde stets sich selbst sucht, sondern wo er sich in Liebe, die der Liebe Jesu Christi am Kreuz nachgestaltet ist, dem Nächsten zuwendet und die Freiheit auslebt, zu der er gerufen wurde und die schließlich andeutet, was er in Ewigkeit sein wird. „Die Freiheit vom Tode eröffnet sich ihm also bis in das Handeln hinein als seine in Jesus geschehene Zukunft“ (Heinrich Schlier, Art. eleutheria, 499 und 500).

3. Freiheit im Aufbruch der Reformation

In der Encyclopedia of the Reformation (1996) und in der Mennonite Encyclopedia (Bd. V, 1990) gibt es keine Einträge zur „Freiheit“. Offensichtlich wird die →Reformation nicht im Licht der europäischen Freiheitsgeschichte gesehen, und Täufer und Mennoniten können als Angehörige freikirchlicher Gemeinden verstanden werden, ohne sie mit der allgemeinen Geschichte der Freiheit in Beziehung zu setzen. In beiden Enzyklopädien wird die Freiheitsproblematik der Reformation auf Artikel zur Kontroverse um die Willensfreiheit des Menschen zwischen Martin Luther und Erasmus von Rotterdam und zur Freikirche eingeschränkt. Vieles spricht allerdings dafür, die Geschichte einer revolutionär wirkenden Freiheit nicht erst mit der Aufklärung in Europa, sondern bereits mit der Reformation beginnen zu lassen. Um Freiheit ging es in den frühen reformatorischen Bewegungen, die sich mit kämpferischer Vehemenz gegen den Klerus wandten und den Anspruch der Laien, sich in der Kirche ohne Bevormundung durch die Priester frei zu entfalten, durchsetzten (→Antiklerikalismus). Sie haben der mittelalterlichen Ständepyramide die klerikale Spitze abgebrochen und auf diese Weise den gesellschaftlichen Aufbau nicht nur gestört, sondern geradezu revolutionär verändert. Das war ein Schritt auf dem Weg zur Befreiung des Einzelnen und der Kirche von den Zwängen, die von der klerikalen Hierarchie ausgeübt wurden. Theologisch hatte die Losung vom →Priestertum aller Gläubigen den vorreformatorischen Antiklerikalismus radikalisiert, wie sie sich aus der Rechtfertigungslehre Martin →Luthers ergab. Mit dem Gedanken, dass der Mensch nicht in der Lage sei, für sein Heil durch fromme Werke zu sorgen, ist die Mittlerfunktion des Priesters zwischen dem Gläubigen und Gott außer Kraft gesetzt und die Unmittelbarkeit des Einzelnen zu Gott, wie sie biblisch begründet ist, wieder hergestellt worden. Luther war davon überzeugt, dass das meritorische Glaubensverständnis die Freiheit Gottes, das Heil dem Menschen ohne dessen Verdienste zuzuwenden, beschnitten habe. Die Rechtfertigungslehre und mit ihr die Losung vom Priestertum aller Gläubigen sollten die Freiheit Gottes zur Geltung bringen. Um diese Freiheit ging es vor allem und zuerst. Dieser Gedanke liegt den beiden Schriften aus dem Jahr 1520 zu Grunde, die von der Babylonischen Gefangenschaft der Kirche und Von der Freiheit eines Christenmenschen handeln. In der Freiheitsschrift bringt Luther das Verständnis christlicher Freiheit auf dialektische Weise zum Ausdruck: „Eyn Christen mensch ist eyn freyer herr/über alle ding/ vnd niemandt vnterthan. Eyn Christen mensch ist eyn dienstpar knecht aller ding vnd yderman vnterthan“ (WA 7, 21). Das heißt, dass Gott sich die Freiheit nimmt, den Sünder von der Last der Sünde zu befreien, sich das Heil selber verdienen zu müssen, gleichzeitig aber auf seine Freiheit dennoch zu verzichten, indem er den Mitmenschen als Knecht zu dienen bereit ist, sofern dieser Hilfe braucht. Darum ging es auch in der Kontroverse um den freien Willen wenige Jahre später. Luther war davon überzeugt, dass der Wille des Menschen durch den Sündenfall korrumpiert und nicht mehr frei sei, sich für sein eigenes Heil erfolgreich einzusetzen oder auch nur moralisch leben zu können, während Erasmus einem Rest unbeschädigter, von der Sünde nicht lädierter Geschöpflichkeit des Menschen zutraute, sich teilweise zum Erwerb des Heils aktivieren zu lassen (Erasmus von Rotterdam, De libro arbitrio diatribe, 1524; Martin Luther, De servo arbitrio, 1525). Wenn in der Rechtfertigungslehre der Grundgedanke der Reformation gesehen wird, dann ist zumindest aus theologischer Sicht die Freiheit zur Signatur der Reformation geworden. Sehr deutlich wird das später mit der Prädestinationslehre Johannes →Calvins noch einmal zum Ausdruck gebracht werden.

Um die Freiheit des Menschen hat auch Thomas →Müntzer gerungen. Wenn er sich um die „Ankunft des Glaubens“ im Inneren des Menschen mit Hilfe der mystischen Heilslehre bemüht, dann ist das ein Versuch, den Sünder von seiner Anhänglichkeit an die „Welt“ zu lösen und ihn in mortifikatorischen Akten „leer“ und frei für den Empfang des göttlichen Geistes im „Abgrund der Seele“ zu machen. Schließlich überträgt er das innere Heilsgeschehen auf die äußeren Verhältnisse in Kirche und weltlichem Gemeinwesen und kommt in der Hochverursachten Schutzrede (1524) zu dem bemerkenswerten Schlusssatz: „das volck wirdt freiy werden und Got will allayn der herr daruber sein“ (Thomas Müntzer, Schriften und Briefe, 343). Anders als bei Luther zeigt sich auch hier der theologische Zusammenhang von der Freiheit Gottes und der Freiheit der Auserwählten. Es zeigt sich auch, dass Freiheit nur unter der Herrschaft Gottes möglich sein wird, sofern die alten, dem Willen Gottes entgegenlaufenden Wege der Menschen verlassen sind. Freiheit findet ihren Ausdruck in der einvernehmlichen Beziehung zwischen Gott und Mensch (Hans-Jürgen Goertz, Thomas Müntzer, 160–172).

Peter Blickle, der die Freiheitsbemühungen der Bauern zwischen Mittelalter und Neuzeit gründlich untersuchte, hat in seiner 2003 veröffentlichten Geschichte der Freiheit in Deutschland ein ebenso deutliches wie überzeugendes Urteil gefällt: „Die Freiheit entfaltete erstmals ihr revolutionäres Potential in Europa, und zwar in der Reformationszeit“ (Peter Blickle, Von der Leibeigenschaft zu den Menschenrechten, 76). Gemeint ist die spektakuläre Erhebung des „gemeinen Mannes“, der in Unruhen und Aufständen versucht hat, die Leibeigenschaft, unter der die ländliche Bevölkerung litt, abzuschütteln. Die Freiheit, für die sich die Bauern und die mit ihnen sympathisierenden Handwerker in den Städten mit Leib und Leben einsetzten, wurde auf dreifache Weise begründet: „mit dem Bezug auf den Erlösertod Christi theologisch, im Hinblick auf die Schöpfungsordnung, die sich in der Heiligen Schrift ausdrücke, naturrechtlich und mit Verweis auf die Nächstenliebe, die das Handeln der Menschen leiten soll, ethisch“ (ebd., 91). Die Bauern kämpften nicht nur um ihre wirtschaftliche Zukunft, sie wollten auch eine „Welt der Brüderlichkeit und Nächstenliebe“ ins Leben rufen. So gesehen war die Bewegung der Bauern eine reformatorische Bewegung auf dem Lande. Darin sieht Blickle den Beginn einer Tradition, die trotz heftiger Behinderungen durch die weltlichen Obrigkeiten schließlich dazu geführt hat, dass sich auch auf deutschem Boden die Menschenrechte, die ihre Wurzeln im spätmittelalterlichen Kommunalismus haben, durchsetzten.

Im antiklerikalen Kampfmilieu und im kommunalen Befreiungskampf der Bauern (→Bauernkrieg) entstanden auch die Bewegungen der →Täufer. Sie gehören mit ihrer vom Priester und seinem Kult befreiten Kirche in die Geschichte der Freiheit, ebenso mit der Absicht, die Kirche vom Einfluss obrigkeitlicher Herrschaft zu befreien. „Freikirche“ ist nicht die Verwirklichung des neutestamentlichen Kirchenverständnisses in ausschließlichem Kontakt mit der Heiligen Schrift, wie oft geschrieben wurde, sondern das Ergebnis biblischer Lektüre im antiklerikalen Kampfmilieu und im Geist kommunalistischer Erhebung. Die Erfahrungen in dieser konkreten Situation führten auch die Täufer dazu, eine Kirche der Brüderlichkeit und Nächstenliebe aufzubauen. Die Bemühung der Täufer in einigen Regionen, sich nach der Niederschlagung der bäuerlichen Erhebungen von der bestehenden Kirche, der katholischen wie den entstehenden reformierten und lutherischen Kirchen, ebenso von ihren militanten und libertinistischen Gefährten und pauschal von der „Welt“ abzusondern, ist ihre Weise gewesen, in einer tiefen Krise an der ursprünglichen Einsicht in die Freiheit unter Gott festzuhalten. Doch die rigorose Abgrenzung, die sie nach außen hin vornahmen, wandten sie auch auf das Leben in der Gemeinde an und trennten sich von den Ungehorsamen in ihren eigenen Reihen (→Bann). Hier mussten sie – ohne sich dessen immer bewusst zu werden – an die Grenzen ihrer Möglichkeiten stoßen, die Freiheit in ihrer ganzen Konsequenz ausleben zu können. Die Freikirche war im Laufe ihrer Geschichte nicht immer eine „Kirche der Freiheit“. Das zeigte sich schon im Täufertum der Reformationszeit, wie sogar der Täufer Pilgram →Marpeck bemerkte, und nicht erst in der Geschichte der →Mennoniten mit ihren inneren Spannungen, Zwistigkeiten und Spaltungen in den folgenden Jahrhunderten.

Über das Täufertum im Zusammenhang mit der Geschichte der Freiheit in Europa ist in der Forschungsliteratur kaum nachgedacht worden. In der Theologischen Realenzyklopädie, die einen ausführlichen Artikel zur „Freiheit“ enthält, findet das Täufertum überhaupt keine Erwähnung. Auch in der Täuferforschung ist „Freiheit“ kein Thema. Nur hin und wieder wird auf den Beitrag der Täufer zur neuzeitlichen Trennung von Kirche und Staat und zur Religionsfreiheit in den Verfassungen der modernen Staaten hingewiesen: „Es ist keine Frage, dass die großen Prinzipien von Gewissensfreiheit, Trennung von Kirche und Staat und Freiwilligkeit in Religionsangelegenheiten letztlich von den Täufern der Reformationszeit herkommen, die sie erstmals klar herausstellten und die christliche Welt aufforderten, sie auch in die Tat umzusetzen“ (Harold S. Bender, Das täuferische Leitbild, 32; Ders., The Anabaptists and Religious Liberty, 32–50; vgl. auch Hans-Jürgen Goertz, Das Täufertum – ein Weg in die Moderne? In: ders., Das schwierige Erbe der Mennoniten, 57–72). Erwähnenswert ist allerdings ein Aufsatz, in dem Heinold Fast im Zusammenhang mit dem Wort von der Wahrheit, die freimachen wird (Joh. 8, 32), die Anfänge des Täufertums in der Schweiz interpretiert und die eschatologische Spannung zwischen Verheißung und Erfüllung aus heutiger Sicht theologisch präziser in Betracht zieht, als es den Täufern selbst einst wohl möglich war (Heinold Fast, „Die Wahrheit wird euch freimachen“, 7–33). In aller Deutlichkeit haben die Täufer aber die Wahrheit, die in der Heiligen Schrift zum Ausdruck gebracht und von ihnen erkannt wurde, als Quelle der Freiheit verstanden und beteuert, dass nur frei sei, wer in der Wahrheit steht und bleibt, und dass nicht der Gläubige für sich allein frei sei, sondern als Glied der Gemeinde in Gemeinschaft mit allen, die sich um das Verständnis der biblischen Wahrheit miteinander bemühen und dem Erkannten im Gehorsam eine konkrete Gestalt verleihen. Auf diese Weise, meint Heinold Fast, hätten die Täufer die Wahrheit und die Freiheit im Kreuz Christi verankert, das in seiner konkreten Konsequenz von den Nachfolgern Jesu übernommen wird. Hatte Martin Luther gemeint, dass die Freiheit sich nur im Gerechtfertigten verwirklicht und außerhalb der Rechtfertigung keinerlei Freiheit sei, so haben die Täufer die Freiheit auf diejenigen eingeschränkt, die in der Gemeinde zur Erkenntnis biblischer Wahrheit gelangt und allein zu moralischem Verhalten und Handeln befähigt seien. Mit den Schleitheimer Artikeln (→Brüderliche Vereinigung) gesprochen, ist Freiheit, wie die Täufer sie verstanden, nur in der „Vollkommenheit Christi“ und nicht außerhalb dieser Vollkommenheit. Luther hatte unter dem Gesichtspunkt der personalen Heilserfahrung und das schweizerische Täufertum unter korporativ-ekklesiologischem Gesichtspunkt ein exklusives christliches Freiheitsverständnis entwickelt; auf diese Weise hatten beide behauptet, dass nur Gerechtfertigte oder Glieder der christlichen Gemeinde in der Lage seien, ethisch begründet zu handeln (Heinold Fast, „Die Wahrheit wird uns freimachen“, 26). Eine solche Exklusivität der Moralität musste sich in der Aufklärung, die sich besonders intensiv mit der Grundlegung der allgemeinen Moral beschäftigte, einer heftigen Kritik unterziehen und schließlich aufgegeben werden. Über diese Andeutungen hinaus wäre das Freiheitsverständnis der Täufer im Kontext der allgemeinen Geschichte der Freiheit weiter zu untersuchen. (Etwas intensiver ist das in der Erforschung des Baptismus bereits geschehen: Martin Rothkegel, Freiheit als Kennzeichen der wahren Kirche, 201–225). Hier wartet eine Aufgabe auf die Täufer- und Freikirchenforschung der Zukunft.

4. Freiheit – ein verheißungsvolles Problem zwischen den Zeiten

Auch in systematisch-theologischer Hinsicht ist unter Mennoniten bisher nur wenig über „Freiheit“ selbst nachgedacht worden. Dieses Thema wurde von ekklesiologischen Fragen (Freikirche, Taufe) und von Problemen des Friedenszeugnisses (Wehrlosigkeit) überlagert. Theologisch nachgedacht werden müsste über die Freiheit, die dem Sünder in Kreuz und Auferstehung Jesu Christi gewährt wird, ebenso darüber, wie diese Freiheit im Verhalten und Handeln des aus der Knechtschaft der Sünde befreiten Menschen konkrete Gestalt annimmt. Hier können nur einige Probleme umrissen werden, die sich mit diesem doppelten Aspekt der Freiheit verbinden.

(a) Zunächst scheint es sinnvoll zu sein, zwischen der personalen und der korporativen Unfreiheit und Freiheit zu unterscheiden: der Unfreiheit und Freiheit des Individuums vor Gott bzw. der Unfreiheit und Freiheit, mit der das Individuum den Mitmenschen im Privaten, in der Gesellschaft, im Staatswesen, in der Kirche begegnet, und der Unfreiheit, die in Institutionen herrscht, oder die Freiheit, die dort angestrebt und schon erfahren wird. Handelt es sich dabei um zwei voneinander getrennte Erfahrungsbereiche von Unfreiheit und Freiheit oder sind beide nicht doch so miteinander verschränkt, dass der Mensch nicht allein vor Gott steht, sondern mit ihm alles, was korporativ auf ihn eingewirkt hat und weiterhin einwirken wird?

(b) Freiheit ist kein dauerhafter Zustand, wie im Freiheitsdiskurs gelegentlich bemerkt wurde, sondern ein verändertes Verhältnis, das der Befreite zu Gott, zu Mitmenschen, Institutionen und zu den Dingen einnimmt – auch das kein beständiges, sondern ein bewegliches Verhältnis. Es ändert sich von Situation zu Situation. Dieser Freiheitsbegriff ist ein relationaler und kein substantialistischer Begriff: dynamisch, wechselhaft und in höchstem Grade angefochten. Auch kann Freiheit die gesamte Existenz des Menschen ergreifen, sie kann sich auch nur in bestimmten Erfahrungsbereichen verwirklichen und im Widerstreit zu Unfreiheiten in anderen Bereichen unterliegen. Sie partizipiert an den Bedingungen menschlicher Existenz, auch wenn sie, wie die göttliche Freiheit, die den Menschen gewährt wird, von diesen Bedingungen eigentlich befreit. Frei sein heißt, sich den Unfreiheiten auszusetzen, sich ihnen gegenüber aber so zu verhalten, als ob sie keine Macht auf den Menschen ausübten. Das Pauluswort vom eschatologischen Vorbehalt gilt nicht nur für die in der Rechtfertigung des Sünders eröffnete Freiheit, sondern für jede Art von Befreiung, die Menschen erfahren oder für andere erwirken. In diesem „Als ob“ wird eine eschatologisch qualifizierte, sich nicht an das vergehende „Schema“ der Welt bindende Existenzform zum Ausdruck gebracht (1. Kor. 7, 29 ff.). Wolfgang Trillhaas hat in seiner Ethik von der „relativen“ Freiheit gesprochen (Wolfgang Trillhaas, Ethik, Berlin 1959, 62). Sofern Freiheit dem Sünder gewährt wird, ist sie „relativ“, d. h. abhängig von dem Schöpfer, der die verlorene und verdorbene Freiheit wiederhergestellt hat. Relativ ist sie aber auch, sofern der Gerechtfertigte noch nicht endgültig frei ist. Angesichts des rechtfertigenden Gottes kann der Mensch nicht von einer „absoluten“ Freiheit sprechen. Die „relative“ Freiheit ist der Grund, warum eine exklusive, nur dem Gerechtfertigten geltende Freiheit, in höchstem Maße problematisch ist. Die Freiheit, die dem Sünder angeboten wird, ist Freiheit, die allen verheißen ist. Selbst wenn dieses Angebot angenommen und konkretisiert wird, ist das kein Grund für den Gerechtfertigten, sich von demjenigen, der das Angebot noch nicht angenommen und konkretisiert hat, abzugrenzen, ganz im Gegenteil, der Gerechtfertigte wird so frei sein, sich dem zu unterwerfen und zu dienen, der unfrei ist, und darauf vertrauen, dass auch diesem die Gabe der Freiheit widerfährt und gut tun wird. Mit diesem relationalen Freiheitsverständnis stellt sich das Problem, ob von der Freiheit des Einzelnen vor Gott nicht nur gesprochen werden darf, wenn der Befreite nicht zugleich den noch Unfreien in den Genuss seiner Freiheit kommen lässt. Solange der Nächste nicht frei ist, ist auch derjenige, der diesem der Nächste ist, nicht frei und immer noch auf die befreiende Gnade Gottes angewiesen, die allen gilt. Vor Gott steht der eine nicht anders da als der andere. Das ist die Botschaft, die aus Luthers dialektischem Freiheitsverständnis herauszuhören ist, sobald es aus den Zwängen eines substantialistischen Denkens gelöst wird (Roger Mehl, Art. Freiheit, 512–520).

Mit diesem Freiheitsverständnis stellt sich auch das Problem, ob die Konkretion der Freiheit, der göttlichen wie der menschlichen, sich institutionell zur „Freikirche“ verfestigen lässt. Sicherlich ist eine „freie“ Kirche eine angemessene Antwort auf die Rechtfertigungsbotschaft, eine Frage ist allerdings, ob sie, wie die Täufer sie gegeben und die Mennoniten sie über die Jahrhunderte hinweg wiederholt haben, die einzige Antwort sein muss. Wenn Freiheit kein Zustand ist, sondern sich immer wieder aktualisiert und dabei experimentell, fragmentarisch und vorläufig bleibt, dann könnte die Freiheit der Kirche auch unterschiedliche Formen annehmen und nicht nur neben den bestehenden Kirchen oder gegen sie Gestalt annehmen, sondern auch in ihnen. Im christlichen Freiheitsverständnis liegt nicht begründet, dass die gebotene „Konkretion“ der Freiheit ihren Ausdruck in ganz bestimmten Organisationsformen finden muss, Freiheit kann sich in Versammlung, Gemeinschaft, Institution, Körperschaft des öffentlichen Rechts, zum Ausdruck bringen (so redet neuerdings im Raum der katholischen Kirche beispielsweise Hans Küng, Christ sein, 468–472, von der „vielgestaltigen Kirche“), sie kann sich auch in den Verhältnissen konkretisieren, die Menschen auf vielfältige Weise untereinander eingehen, in experimentierenden, tastenden, oft auch informellen und irregulären Versuchen, auf das Evangelium zu reagieren. Ein biblischer Grundbeleg für den Zusammenhang von Kirche und Freiheit ist Matth. 18, 20: „Wo zwei oder drei versammelt sind in meinem Namen, da bin ich mitten unter ihnen“. So spricht Jesus Christus, in dem sich die Freiheit Gottes für die Menschen offenbart hat. Auch für die Kirche gilt, dass sie unter eschatologischem Vorbehalt steht und menschlich allzu menschliche Gemeinschaftsformen nutzt, als ob sie diese nicht nutze. So kann eine Volkskirche durchaus Wege finden, sich in und neben den traditionellen Zwängen ihre Freiheit ein Stück weit zu bewahren (so die Bekennende Kirche im Dritten Reich), und eine Freikirche kann sich um ihre Freiheit bringen oder sie ein Stück weit verlieren (so evangelische Freikirchen im →Dritten Reich). In diesem korporativen Freiheitsverständnis erreicht die Kirchen die Verheißung, in der ökumenischen Bewegung auf einem guten Weg zur Einheit der Kirche Jesu Christi zu sein und sich jetzt schon gemeinsam um die in Jesus Christus offenbarte Wahrheit zu sammeln, die sie unter anderem auch füreinander frei machen wird (Joh. 8, 32).

(c ) Im Freiheitsdiskurs ist auch deutlich geworden, wie intensiv die konkreten Situationen, in denen sich die Kirchen und die einzelnen Glieder der Kirchen zu unterschiedlichen Zeiten und an unterschiedlichen Orten befinden, auf die Konkretion der Freiheit einwirken. Diese Situationen, die nicht von den Kirchen oder ihren einzelnen Mitgliedern geschaffen werden, in denen sehr wohl aber Traditionen wirksam sind, die auch christliches Vorstellungsgut in die Gegenwart tragen, stellen den Bedingungsrahmen her, in dem sich die geschenkte Freiheit konkretisiert. Über die Realisierungschancen entscheidet nicht nur der gute Wille der Gerechtfertigten, sondern auch die Widerständigkeit antireligiöser Kräfte ebenso wie die Sehnsucht der Menschen allgemein, sich Freiräume zur Entfaltung der eigenen Persönlichkeit und zur Verbesserung ihrer Welt zu schaffen. Die Situationen entfalten keine normative Kraft, die über richtiges oder falsches ethisches Verhalten und Handeln entscheidet, wie einer Situationsethik oft unterstellt wird. Wohl aber fallen die Entscheidungen über Freiheit und Unfreiheit in den Situationen und nicht unabhängig von ihnen. Diese Entscheidungen werden vom Lokalkolorit und vor allem vom Grad gesellschaftlicher Komplexität geprägt. Besonders solche Situationen, in denen sich die Möglichkeiten vermehrt haben, dieses oder jenes Verhalten oder Handeln zu wählen, werden genau diagnostiziert werden müssen, um sich auf verantwortungsvolle Weise für die Chancen der Freiheit einsetzen zu können. So ist die →Nachfolge Jesu Christi nicht ein pauschales Postulat christlicher Ethik, sondern ein Experiment, das sich bis in die kleinsten Verästelungen des Lebens hinein zu verwirklichen versucht. Die Situationen, in denen sich die „ethische Forderung“ (Knut E. Loegstrup, Die ethische Forderung, 1959) stellt, sind in der Regel gesellschaftlich, d. h. von zahlreichen Menschen geprägt, die unterschiedlichen Werthaltungen verpflichtet sind: religiösen, areligiösen, atheistischen, agnostischen. Alle diese Menschen sprechen in den verschiedenen Situationen mit und beeinflussen über die Situation die Entscheidungen für die Freiheit oder gegen sie, sie verlängern die Zeit der Unfreiheit oder tragen dazu bei, sie zu verkürzen. So ist es nicht nur der Ursprung der christlichen Freiheit im Heilshandeln Gottes, der dafür sorgt, dass das Heil den Menschen unverfügbar ist, sondern auch die täglich erfahrene Unwägbarkeit, gelegentlich auch die Undurchschaubarkeit der Situationen. Die Antwort des Menschen auf die Freiheit, die Gott gewährt, kann gelingen, sie kann auch misslingen. So bleibt Freiheit ein Problem, und die Chancen der Freiheit steigern oder vermindern sich in der Weise, wie mit diesem Problem umgegangen wird. Christen werden darin kein Manko sehen, sondern die Schwierigkeit, mit der Freiheit umzugehen, als eine Verheißung begreifen, ein gottgefälliges und menschenwürdiges, ein befreites Leben erwarten zu dürfen.

(d) John Howard →Yoder hat die Gemeinde der Täufer als eine „alternative society“ beschrieben, in der das Reich Gottes schon in dieser Welt präfiguriert wird und der Differenz zwischen Kirche und Welt eine sichtbare Gestalt gibt. Die Kirche wird nicht in ihrer Verwicklung mit der Welt zwischen den Zeiten beschrieben, sondern in Distanz zur Welt, d. h. auch zu Staat und Gesellschaft, dargestellt, eine Differenz, die einzig und allein durch das Zeugnis der Kirche gegenüber der Welt überbrückt, aber nicht aufgelöst wird (John Howard Yoder, The Christian Witness to the State, 1964). Die Kirche hat nicht die Aufgabe, die weltlichen Probleme zu lösen und zu einem guten Ende zu führen. Sie wird diejenigen, die in dieser Welt für die Welt handeln, nur kritisch begleiten und ihnen vor Augen halten, wie sich Gott eine von der Knechtschaft der Sünde befreite Gemeinschaft vorstellt (John Howard Yoder, Die Politik des Leibes Christi, 2011). Die Konsequenzen, die Regierungen oder gesellschaftlich wirkende Kräfte daraus ziehen, dürfen nicht erzwungen werden. So meint Yoder zwar, dass die Kirche ihre eigene Konsequenz aus der in Kreuz und Auferstehung Jesu Christi gewährten Freiheit zieht, zu fragen bleibt aber, ob die Freiheit, die der Welt zugestanden wird, nicht letztlich als Unfreiheit eingeschätzt wird. Damit wird die Welt aber mit einem Freiheitsverständnis konfrontiert, dem die Zuwendung entzogen ist, von der die Kirche im Sinne Yoders selber lebt. Hier stellt sich die Frage, ob die in Gott gründende Solidarität unter den Menschen so in ausreichendem Maße verwirklicht wird. Solidarisch wäre, die Bemühungen um Freiheit in demokratischen Gemeinwesen oder in den Befreiungsbewegungen unterentwickelter Länder zu unterstützen und gemeinsam über konkrete Schritte zur Befreiung zu beraten. Wo ein herrschaftsfreier Dialog unter Menschen unterschiedlicher Werthaltungen angestrebt wird, werden Christen nicht fehlen, nicht um die Partner eines Besseren zu belehren, sondern um gemeinsam herauszufinden, wo trotz guter Absichten noch Unfreiheit in den Gesprächen herrscht, wo diese Unfreiheiten in kommunikativem Verhalten abzuschmelzen beginnen und wo sich die Räume erfahrbarer Freiheit erweitern. Nur wenn die Unfreien da aufgesucht, ins Gespräch gezogen und auf neue Ideen gebracht werden, wo sie sich in ihren Versuchen, das Leben zu bewältigen, vergeblich bemühen, verzweifeln und leiden, kann es teilweise wenigstens gelingen, der Freiheit, wie Gott sie gemeint hat, eine Schneise zu schlagen und ihr Konkretion zu verleihen, so dass sie auch für diejenigen erfahrbar und verständlich wird, die sich der göttlichen Freiheit verschlossen hatten. Erst in diesen tiefen Verästelungen gemeinsamer Lebenserfahrungen, in der auch die Gerechtfertigten sich ihr Scheitern eingestehen, wird es möglich sein, die Differenz zwischen göttlicher und menschlicher Freiheit zu markieren und dafür zu sorgen, dass Menschen den Abstand zwischen Gott und Welt respektieren und die Unverfügbarkeit der Freiheit als Gnade und Chance zur Überwindung ihrer Unfreiheit wahrnehmen (→Absonderung).

5. Freiheit: Anfang, Mitte und Ende der Ethik

Da die Freiheit allen Menschen verheißen ist, sind auch alle Menschen daran beteiligt, auf diese Verheißung zu reagieren. Das aber heißt, dass die Freiheit, die vor Gott gilt, nicht nur aus der Knechtschaft der Sünde befreit, sondern auch die mit der Kreatürlichkeit gegebenen Chancen aufnimmt und nutzt. So entfaltet sie ihre Kraft, den exklusiven Zuspruch zu durchbrechen und zu einer alle Menschen einschließenden Solidarität zu weiten. Das Problem, vor das die Theologie hier gestellt wird, ist zu zeigen, dass der Slogan „alle Menschen werden Brüder“ nicht nur das Pathos menschlicher Revolutionen zum Ausdruck bringt, sondern auch den tiefen religiösen Sinn erfasst, der dem Zusammenhang von Freiheit und Solidarität der Menschen in dieser Welt zugrunde liegt. So wird verständlich, dass alle Ethik mit dem Freiheitsgedanken beginnt (Wolfgang Trillhaas, Ethik, 62). Besonders deutlich hat Karl Barth den Zusammenhang von Freiheit und Ethik in seiner Lehre von der Schöpfung erörtert (Karl Barth, Kirchliche Dogmatik III/4, 1951). Umso erstaunlicher ist, dass John Howard Yoder, der unter einem starken Einfluss der ethischen Passagen der Kirchlichen Dogmatik Barths stand, als er sich die Grundlagen für seine Ekklesiologie als Sozialethik erarbeitete (John Howard Yoder, Why Ecclesiology is Social Ethics, 102–126), dem Freiheitsgedanken so wenig Beachtung geschenkt hat. Möglicherweise hätten die Probleme, die mit der Konkretion der Freiheit in der Spannung von gewährter und noch nicht erfüllter Freiheit verbunden sind, die Grenze zwischen Christen und Nichtchristen im Bemühen um die Chancen der Freiheit in dieser Welt durchlässiger gestaltet, als sein Konzept der Freikirche es zuließ. Ist Kirche eine „Institution gesellschaftskritischer Freiheit“ (Johann Baptist Metz, Zur Theologie der Welt, 122), dann ist sie bereit, ihre sozialen Formen aufzugeben, sobald ihre befreiende Kraft zu erlöschen beginnt, und nach neuen zu suchen, um Freiheit in dieser Welt zu konkretisieren. Eine Kirche, die aus der Freiheit Gottes lebt, wird das Risiko bewusst auf sich nehmen, sich im Dienst an der Welt zu verzehren. Sie wird bereit sein, sich selber zu verlieren, um die Freiheit zu gewinnen. Die Ethik Dietrich Bonhoeffers wurde mit seinem Gedicht über Stationen auf dem Wege zur Freiheit als Motto posthum herausgegeben. Das Gedicht, das den bereits erwähnten Freiheitsakzent jeder Ethik bestätigt, schließt so: „Freiheit, dich suchten wir lange in Zucht und in Tat und in Leiden. Sterbend erkennen wir nun im Angesicht Gottes dich selbst“ (Dietrich Bonhoeffer, Ethik, 1966). Es ist, als hätte Bonhoeffer den Freiheitsweg mancher Täufer und Täuferinnen im reformatorischen Aufbruch beschrieben.

Bibliografie (Auswahl)

Karl Barth, Kirchliche Dogmatik, III/4, 3. Aufl., Zürich 1969. - Harold S. Bender, Das täuferische Leitbild, in: Guy F. Hershberger (Hg.), Das Täufertum. Erbe und Verpflichtung, Stuttgart 1963, 32. - Ders., The Anabaptists and Religious Liberty in the 16th Century, in: Archiv für Reformationsgeschichte 44, 1953, 32–50. - Peter Blickle, Von der Leibeigenschaft zu den Menschenrechten. Eine Geschichte der Freiheit in Deutschland. München 2003. - Hans-Werner Bartsch, Hermann Greive, Roger Mehl und Alexander Schwan, Art. Freiheit, in: Theologische Realenzyklopädie, Bd. 9, Berlin und New York 1982, 497- 549. - Hans Dieter Betz, Geist, Freiheit und Gesetz. Die Botschaft des Paulus an die Gemeinden in Galatien, in: Zeitschrift für Theologie und Kirche 71, 1974, 78–93. - Dietrich Bonhoeffer, hg. von Eberhard Bethge, 7. Aufl., München 1966, Rudolf Bultmann, Das Evangelium des Johannes, 15. Aufl., Göttingen 1957. - Erasmus von Rotterdam, Ausgewählte Schriften, hg. von Werner Welzig, 8 Bde., lateinisch und deutsch, Darmstadt 1968–1980 – Heinold Fast, „Die Wahrheit wird euch freimachen“. Die Anfänge der Täuferbewegung in Zürich in der Spannung zwischen erfahrener und verheißener Wahrheit, in: Mennonitische Geschichtsblätter 1975, 7–33. - Ernst Fuchs, Die Freiheit des Glaubens. Beiheft z. Evangelischen Theologie 14, München 1949. - Ders., Art. Freiheit im NT, in: Religion in Geschichte und Gegenwart, Bd. 2, 3. Aufl., Tübingen 1958, 1010–1004. - Hans-Jürgen Goertz, Thomas Müntzer. Mystiker, Apokalyptiker, Revolutionär. München 1989. - Ders., Das Täufertum – ein Weg in die Moderne?, In: Ders., Das schwierige Erbe der Mennoniten. Aufsätze und Reden. Leipzig 2002, 57–72. - Wilfried Joest, Gesetz und Freiheit, Göttingen 1961. - Eberhard Jüngel, Zur Freiheit eines Christenmenschen, 2. Aufl., München 1981. - Ernst Käsemann, Der Ruf der Freiheit, 2., unveränd. Aufl., Tübingen 1968. - Gordon D. Kaufman, In Face of Mystery. A Constructive Theology, Cambridge, Mass., und London 1995. - Martin Luther, Werke, Weimar 1883 ff. (De servo arbitrio: 18, 600–787). – Johann Baptist Metz, Zur Theologie der Welt, Mainz und München 1968. - Kurt Niederwimmer, Der Begriff der Freiheit im NT, Berlin 1966. - Gerhard v. Rad, Theologie des Alten Testaments, Bd. 1, München 1958. - Martin Rothkegel, Freiheit als Kennzeichen der wahren Kirche. Zum baptistischen Grundsatz der Religionsfreiheit und seinen historischen Ursprüngen, in: Andrea Strübind und Martin Rothkegel (Hg.), Baptismus. Geschichte und Gegenwart. Göttingen 2012, 201–225. - Heinrich Schlier, Art. eleutheria, in: Theologisches Wörterbuch zum Neuen Testament, hg. von Gerhard Kittel, Bd. 2, Reprint, Stuttgart l957, 484–500. - Daniel S. Schipani (Hg.), Freedom and Discipleship: Liberation Theology in Anabaptist Perspective, Maryknoll, N. Y., 1989. - Paul Tillich, Systematische Theologie, Bd. 1, 2. Aufl., Stuttgart 1956. - Wolfgang Trillhaas, Ethik, Berlin 1959. - Heinz Eduard Tödt, Art. Freiheit, in: Taschenlexikon Religion und Theologie, Bd. 2. 4. Aufl., Göttingen, 1983, 108–114. - Ernst Wolf, Verantwortung in der Freiheit, in: ders., Peregrinatio II. Studien zur reformatorischen Theologie, zum Kirchenrecht und zur Sozialethik. München 1965, 242–260. - John Howard Yoder, Why Ecclesiology Is Social Ethics: Gospel Ethics versus the Wider Wisdom, in: ders., The Royal Priesthood. Essays Ecclsiological and Ecumenical, Scottdale, PA, und Waterloo, Ont., 1998, 102–126. - Ders., Die Politik des Leibes Christi. Als Gemeinde zeichenhaft leben, Schwarzenfeld 2011 (engl. Body Politics: Five Practices of the Christian Community before the Watching World, Scottdale, PA, 1992 und 2001).

Hans-Jürgen Goertz

 
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