Brüderliche Vereinigung (Schleitheim)

1. Der Kristallisationspunkt des Täufertums – Frage der Forschung

Die Sieben Artikel von Schleitheim, die von einer Gruppe täuferischer Anführer im Gebiet von Schaffhausen am 24. Februar 1527 zusammengestellt wurden, sind ein „theologisches Wahrzeichen“ des frühen Täufertums. So formulierte es John Howard →Yoder, der prominenteste nordamerikanische Theologe unter den Mennoniten des 20. Jahrhunderts. Eine Täufergruppe, die von Michael →Sattler angeführt wurde und zu der höchstwahrscheinlich auch Wilhelm →Reublin gehörte, stellte eine Reihe von Ordnungen auf, die sich auf die Taufe, den Bann, das Abendmahl, die Absonderung, Gemeindeleitung, das Schwert der weltlichen Gewalt und den Eid bezogen. Damit setzten sie sich „von etlichen falschen brüdern under uns“ ab und schlossen sie aus (Quellen zur Geschichte der Täufer in der Schweiz, Bd. 2, 28). Eine starke Strömung in der mennonitischen Täuferforschung des 20. Jahrhunderts sah in den Schleitheimer Artikeln, um die Beschreibung John Howard Yoders zu benutzen, den „Kristallisationspunkt des Täufertums“. Er schrieb: „Die Täufer, die die Glaubenstaufe zuerst eingeführt haben, die geordnete Gemeinden bildeten, die trotz der Verfolgungen durchhielten (…), zeigen sich als eine einheitliche Gruppe mit festen Umrissen (…). Müntzer, Hubmaier, Denck und die Appenzeller sind vor 1530 aus der Geschichte der Täufer ausgeschieden, während diejenigen Täufer, die auf der Grundlage von Zürich und Schleitheim standen (…), durch die Jahrzehnte weiterlebten“ (John Howard Yoder, Die Gespräche zwischen Täufern und Reformatoren, 176). An dieser Auffassung, die in den Schleiterheimer Artikeln den Ausgangspunkt des wehrlosen Täufertums sah, hielt Yoder sein Leben lang fest. Unter dem Eindruck der Kontroverse um den polygenetischen Ursprung des Täufertums änderte er jedoch die umstrittene Formulierung ab, wonach das wehrlose Täufertum „eine einheitliche Gruppe mit festen Umrissen“ gewesen sein soll: „We could say that the Swiss Brethren had one kind of coherence. The Hutterite movement had another kind of coherence. The Frisian Mennonite movement had another kind of coherence“ (John Howard Yoder, Christian Attitudes, 185). Bis zu einem gewissen Grad wurde der Akzent, den Yoder auf die Bedeutung der Schleitheimer Artikel gelegt hatte, von nordamerikanischen Mennoniten wie John D. Roth und Gerad Mast aufgenommen, die sich um die historische Bedeutung dieser Artikel besonders bemüht haben. Roth sah in ihnen einen sehr wichtigen „Bezugspunkt“, den die Schweizer Brüder nutzten, um einen Rahmen für die Darstellung der Fragen zu schaffen, die sie bis in die Zeit der Amischen Spaltung (→Amische) am Ende des 17. Jahrhunderts beschäftigten und immer noch einen Nachhall unter Mennoniten der schweizerisch-süddeutschen Tradition finden. Die mennonitischen Täuferforscher in Nordamerika haben auch das umfassendere Verständnis und die weniger polemische Einschätzung der täuferischen Grupen neben den Schweizer Täufern, Hutterern und friesischen Mennoniten übernommen, wie sie sich seit den 1970er Jahren herausbildete. Yoder selbst übersetzte und veröffentlichte die Schriften Balthasar →Hubmaiers; und die Austerlitzer Brüder (→Mähren), die Täufer von →Münster, die Joristen (David →Joris) usw. haben auf unterschiedliche Weise einen Reiz auf Forscherkreise innerhalb und außerhalb des Mennonitentums ausgeübt. Es wird sicherlich allgemein anerkannt, dass Wehrlosigkeit, obwohl nicht alle Täufer wehrlos waren, eine große Bedeutung für die Bewegung der Täufer hatte, und dass die Schleitheimer Artikel einen frühen Maßstab für Wehrlosigkeit abgaben. Wenn diese Artikel Themen aufwarfen, die unter den frühen Täufern in der Schweiz, Süddeutschland und Mähren diskutiert wurden, ist es schon von Belang zu wissen, wieweit die Positionen des Schleitheimer Bekenntnisses im Täufertum anerkannt wurden. Und dann stellt sich noch die leicht abgewandelte Frage, wie genau die Schleitheimer Artikel gekannt und wie verbindlich sie unter den frühen Täufern waren.

2. Umstrittenes Täufertum – Schleitheimer Artikel 4–7

Arnold Snyder meint, dass Balthasar Hubmaier in seinem Traktat über Eine Summe eines ganzen christlichen Lebens (veröffentlicht am 1. Juli 1525) die Grundlagen für die Ekklesiologie des Täufertums geschaffen hat – Taufe der Erwachsenen, Bann und Abendmahl. So markieren die Brüderliche Vereinigung, indem sie Artikel zur Absonderung, Gemeindeleitung, Schwertgewalt der weltlichen Obrigkeit und Eid hinzufügt, eher eine verhängnisvolle Spaltung zwischen separatistischen und nichtseparatistischen Täufern als den „Kristallisationspunkt des Täufertums“. Wichtig war Artikel 4, der von der „Absonderung“ handelt: „Nun ist ye nutt anders in der welt und aller creatur dan guotz und bӧs, glӧubig und unglӧubig, finsternus und liecht, welt und die uss der welt sind, temple gottes und die gӧtzen, Christus und Belial, und keins mag mitt dem andren kein teil han (…).“ Beispiele für die Bösartikgeit der Welt waren „alle bäpstlich und widerbäpstlich werck und gottesdienst, versamlung, kilchgang, winhuser, burgschaften und verpflichten des ungloubens (…). In dem werden ouch fallen von uns die tufelischen waffen des gewaltzs, als da sind schwert, harnasch und derglichen und aller irer bruch fur frund und wider die fiend“ (Quellen zur Geschichte der Täufer in der Schweiz, Bd. 2, 29–30). In Artikel 5 wird „von den hirten in der gemein gottes“ gesprochen und angedeutet, dass die Täufer sich von dem herkömmlichen Pfründensystem abwandten, das von Hubmaier noch in Waldshut und in Nikolsburg genutzt wurde. „Sӧlich ampt sol sin lesen und ermanen und leren, manen, straffen oder bannen in der gmein, und allen schwestern und bruodern wol furstan im bett, im brottbrechen (…). Diser aber sol erhalten warden, wo er mangel haben wurd, von der gemein, welche in erwelt hat (…). So aber diser hirt vertriben oder aber dem herren durch das crutz heimgefürt wurd, sol von stund an ein ander an die stat verordnet werden….“ (ebd., 31). Zur Schwertgewalt heißt es: „Zum 6. sind wir vereinigt worden von dem schwert also. Das schwert ist ein gottes ordnung usserthalb der volkumenheit Christi, welches den bӧsen straft und tӧdt und den guoten schutzt und schirmt. In dem gesatz wirt das schwert geordnet uber die bӧsen zur straf und zum todt, und dasselbig zuo bruchen sind geordnet die weltlichen oberckeiten. In der volkumenheit aber Christi wirt der bann gebrucht allein zuo einer manung und ussschliessung des, der gesundet hatt, an todt des fleischs“. Jesu Weigerung, zwischen zwei Brüdern in einem Erbstreit zu vermitteln, und seine Flucht, als er zum König gekrönt werden sollte, werden als Modelle für christliches Verhalten angeführt. Dieser Artikel schließt damit, „das es dem christen nit mag zimmen, ein oberckeit zuo syn in den stucken: Der oberckeit regiment ist nach dem fleisch, so ist der christen nach dem geist. Ire huser und wonung ist bliplich in diser welt, so ist der christen im himel. Ire burgerschaft ist in diser welt, so ist der christen im himel“ (ebd., 31–33). Der letzte Artikel 7 handelt „von dem eid“ und wiederholt die Andeutungen an das Modell und die Lehren Jesu aus dem vorangehenden Artikel: „Christus, der die volkummenheit des gesatz lert, der verbut den synen alles schweren, weder recht noch falsch, weder by dem himmel noch by dem erterich noch by Jerusalem noch by unserem houpt, und das um der ursach willen, wie er hernach spricht: Dan ir mӧgen nit ein har wiss oder schwartz machen (…). Desglichen hat uns Christus ouch gelert, da er sagt: Uwer red sol syn ja ja, nein nein; dan das uber das ist, das ist vom argen“ (ebd., 33 f.).

Die Täuferforscher sind sich nicht einig darüber, welche Absicht die Autoren der letzten vier Artikel des Schleitheimer Bekenntnisses ursprünglich verfolgten. So wird nachdrücklich gefragt, ob Artikel 4 („Von der absunderung“) und Artikel 6 („Von dem Schwert“) miteinander ganz im Einklang sind. Sofern eine Übereinstimmung beider Artikel im Gegensatz zur gewöhnlichen Interpretation von Röm. 13 angenommen wurde, wie im Text zitiert, bestanden Forscher wie John Howard Yoder und Hans Hillerbrand darauf, in Artikel 6 die weltlichen Obrigkeiten und die christliche Gemeinde als zwei parallele Manifestationen des göttlichen Willens für die Schöpfung des Menschen zu begreifen (Yoder meint, dass die menschliche Obrigkeit für die Zeit dieses Äons notwendig sei, um die Rebellion des Menschen in Schach zu halten, und dass die christliche Gemeinde der Vorgeschmack der Erfüllung des göttlichen Willens am Ende der Tage sei). Arnold Snyder, der sich in einer speziellen Untersuchung mit Michael Sattler beschäftigt hatte, meint, dass Artikel 6 ganz und gar in Übereinstimmung mit Artikel 4 konzipiert worden sei. Sattlers Kontrastgebrauch „gut – böse“, „Christus – Satan“ in seinen übrigen Schriften bestätigt, dass er die weltliche Obrigkeit an und für sich als Gegensatz zur Gemeinde Christi begreifen wollte. Andrea Strübind und James M. Stayer, die sich in vielem anderen widersprechen, stimmen beide der Interpretation Sattlers zu, wie Snyder sie vorgelegt hat.

Das ganze 16. Jahrhundert hindurch blieben die „separatistischen Unterscheidungsmerkmale“ der vier letzten Schleitheimer Artikel die Grundaussage der beiden größeren Täufergruppen, der Schweizer Täufer und der Hutterer. Die prägten die Äußerungen der schweizerischen Wortführer in den →Religionsgesprächen zwischen Täufern und reformierten Prädikanten genauso wie der Rechenschaft Peter →Riedemanns (1540–1541), der autoritativen Stellungnahme zum Glauben und zur Praxis der Hutterer (→Hutterische Bruderhöfe).

Diese Artikel wurden aber nicht von vielen der prominentesten Anführer der süddeutschen Täufer anerkannt. Wann immer ein Täuferführer (oder zukünftiger Anführer der Täufer) mit dem →Bauernkrieg von 1524 bis 1526 in Verbindung stand, widersetzte er sich oder veränderte er die Lehrauffassungen der Schleitheimer Artikel 4 bis 7. Das galt für Balthasar Hubmaier, Hans →Hut, Hans →Denck, Hans →Römer und Melchior →Rinck. Diese Gestalten standen in Verbindung mit der wohl wichtigsten religiösen Massenbewegung der frühen deutschen Reformation. So korrespondierte eine rigorose Absonderung, wie sie in den Schleitheimer Artikeln propagiert wurde, nicht mit ihren Erfahrungen und Glaubensauffassungen. Einige Monate nach der Brüderlichen Vereinigung publizierte Balthasar Hubmaier im Juni 1527 seinen Traktat Von dem Schwert im mährischen Nikolsburg, wo er eine deutschsprachige Täufergemeinde anführte. Dieser Traktat war eine klare Ablehnung der Grundaussage des 6. Artikels von Schleitheim, eine Auffassung, die von Täufern nach Mähren gebracht worden war, die vor den Verfolgungen in der Schweiz und Süddeutschland geflohen waren. Später in demselben Jahr wies Hans Hut, der bedeutendste Täufermissionar in Süddeutschland und Österreich, im Gefängnis zu Augsburg die hervorstechenden Artikel 6 über die weltliche Obrigkeit und Artikel 7 über den Eid ausdrücklich zurück. Die Täufergemeinde in →Augsburg war die Szene, in der sich die Konfrontation zwischen täuferischen Flüchtlingen aus der Schweiz, am berühmtesten war Jakob Groß, und Hans Hut abspielte, ein Gefährte Thomas →Müntzers 1524 bis 1525. Hans Denck, der spiritualistische Täufer, der Hut Ostern 1526 getauft hatte, und der vor der Einnahme der Reichsstadt im Zuge des Bauernkriegs im Mai 1525 höchstwahrscheinlich Lehrer in Mühlhausen war, ist ein zwielichtigerer Fall. In seiner Schrift Von der wahren Liebe, die 1527 in Worms veröffentlicht wurde, legte er auf nuancierte Weise die Schleitheimer Artikel 6 und 7 aus, denen er viel von ihrem separatistischen Biss nahm. Artikel 6 verstand er so, dass die weltliche Obrigkeit und die christliche Gemeinde parallele Ausdrucksformen des göttlichen Willens seien, auch wenn er die christliche Gemeinde höher einschätzte. Dennoch: „wer den herren liebt, der liebet in, er sey in was stand er wöll“ (Quellen zur Geschichte der Täufer, Bd. 6, II, 85). Die kritischen Einwände gegen den Eid in Artikel 7 wurden wiederholt, dennoch forderte er, dass zwischen einem promissorischen Eid (dessen Erfüllung in Zukunft außerhalb menschlichen Vermögen steht) und einem assertorischen Eid, der etwas in der Vergangenheit bezeugt, zu unterscheiden sei; auch dürfe man Gott als Zeugen für eine eigene Aussage anrufen, wie das Neue Testament unter Hinweis auf Paulus belegt. Hans Römer, ebenfalls ein Gefährte Thomas Müntzers, stand im Zentrum einer täuferischen Verschwörung, die Erfurt am Neujahrstag 1528 einnehmen wollte. Sein Verhalten entsprach ganz und gar nicht Artikel 6 von Schleitheim. Melchior Rinck, ein hessischer Täuferführer, war einer von Müntzers Mitkämpfern bei Frankenhausen. In einer Flugschrift, die er gegen die weltlichen Obrigkeiten gerichtet hatte, schien er Artikel 6 des Schleitheimer Bekenntnisses nicht gekannt zu haben. Er verlangte von der weltlichen Obrikgeit religiöse Freiheit und nannte diejenigen, die diese Freiheit gewährten, „christliche Fürsten“, während diejenigen, die diese Freiheit unterbanden, in seinen Augen „heidnische Herrscher“ waren.

Ein anderer Faktor, der für die Gestalt zuständig ist, die das Täufertum in den 1530er Jahren angenommen hatte, war die Politik der Toleranz oder Unterdrückung, mit der die obrigkeitlichen Behörden, die erst kürzlich auf die Seite der Reformation getreten waren, auf die Täufer reagierten. John Oyers Untersuchung zur Reichsstadt Esslingen zeigte, dass unter Bedingungen, wo die Obrigkeit das Täufertum nicht auszurotten versuchte, sondern sich damit zufrieden gab, ein gewisses Maß an Konformität zu erreichen, die Täufer das Bestehen von Artikel 5 im Schleitheimer Bekenntnis auf formaler Gemeindeleitung aufgeben konnten. Die Täufer in Esslingen beteuerten immer, dass sie keine besonderen Anführer oder Lehrer hätten, sondern sich nur versammelten, um in der Bibel zu lesen. Ähnliches scheint sich in der Gegend von Appenzell abzuspielen, ebenso in Straßburg in den Jahren vor der formalen Einführung der Reformation im Jahre 1533. Das hilft zu verstehen, warum es verschiedene Strömungen des Täufertums in Esslingen, Appenzell und Straßburg gab, ohne dass die Täufer sich formal voneinander absonderten, wie es die Schleitheimer Artikel verlangt hätten.

Formale täuferische Spaltungen (im Gegensatz zu der Absonderung, die von den Schleitheimer Artikeln gefordert wurden) scheinen zunächst in Mähren vorgekommen zu sein. Sie begannen mit den Ausweisungen von Täufern, die auf einer strengeren Form der →Gütergemeinschaft bestanden, aus der Grundherrschaft der Grafen von Liechtenstein. Diese kommunitären Täufer ließen sich in Austerlitz nieder, weitere Spaltungen aber trennten sie 1531 und 1533 nochmals voneinander. In den 1540er Jahren schrieben mährische Täufer von Trennungen zwischen den Austerlitzer Brüdern, den Schweizer Brüdern und den Hutterern. Der bekannteste Sprecher der Austerlitzer Brüder wurde der Tiroler Flüchtling Pilgram →Marpeck, ein Ingenieur, der zu unterschiedlichen Zeiten in Straßburg, im Appenzell und Augsburg arbeitete. Marpeck leistete, wie seine Austerlitzer Gefährten, den Bürgereid, wenn die Umstände das erforderten, stimmte deshalb also mit Artikel 7 des Schleitheimer Bekenntnisses nicht ganz überein. An den Austerlitzer Brüdern kann nachvollzogen werden, wie der Einfluss der Schleitheimer Artikel nachließ. In der ursprünglichen Spaltung von 1528 standen sie hinter den Ideen der Schleitheimer Artikel im Gegenzug zu Hubmaier und dessen Gefolgschaft. Wenn Marpeck tatsächlich der Autor der Aufdeckung der Babylonischen Hurn (ca. 1531) ist, pflichteten er und sein Gefährte Leopold Scharnschlager zunächst der strikten Weigerung von Artikel 6 bei, obrigkeitliche Ämter zu übernehmen, und entlehnten zweifelsfrei auch Argumente aus Martin Luthers Schrift Von weltlicher Obrigkeit (1523). Das änderte sich mit der größeren Verfolgungswelle 1535, in der frühe Anführer der Austerlitzer ihr Leben verloren hatten und nachdem diese Gruppe die Gütergemeinschaft aufgegeben hatte. In den 1540er und 1550er Jahren trugen Marpeck und seine Gefährten eine intensiv geführte Kontroverse mit dem Spiritualisten Kaspar von →Schwenckfeld aus, in der Schwenckfeld versuchte, seinen Glauben auf Artikel 6 des Schleitheimer Bekenntnisses festzulegen. In der Verantwortung, die mehr oder weniger zu einer kanonischen Aussage über die späteren Glaubensauffassungen der Austerlitzer Brüder geworden war, wurde die Stellungnahme zur Schwertgewalt dahin gehend formuliert, dass „es einem Christen schwer ist, ein weltlicher oberer ze sein“ (Loserth, 304). Im Sinne einer verdünnten Version des originalen Schleitheimer Dualismus wurde gefragt, „wie lang in (den Christen, der ein obrigkeitliches Amt übernommen habe) sein gewissen ein oberer sein liesse, wolt er anders nit seinen gott, ja den herren Jesum Christum und christliche gedult, streit und ritterschaft in Christo verlassen oder aufs wenigst in solchem oder derhalben nit schaden an seiner seel oder christentumb empfahen“ (ebd., 304). John Howard Yoders Interpretation der Wehrlosigkeit in den Schleitheimer Artikeln ist weit genug, um eine Aussage zur Wehrlosigkeit wie diejenige Marpecks einzubeziehen. Arnold Snyder besteht jedoch in seiner Studie zu Michael Sattler darauf, dass Sattlers Dualismus schärfer war als derjenige der Austerlitzer.

Die nächste Phase des Täufertums begann mit Melchior →Hoffman in Emden um 1530. Dort wurde das Signal für die verschiedenen Typen des Täufertums gegeben, das in den Niederlanden, an der Nordsee- und an der Ostseeküste entstand. Diese Gruppen, die die Herrschaft der Täufer 1534–1535 in Münster und ihre militanten Nachfolger, die Davidjoristen und schließlich die mennonitisch-taufgesinnten Traditionen einschloss, waren in ihrer Entstehungszeit ganz und gar unberührt von den charakteristischen Ideen der Schleitheimer Artikel wie auch dem Bekenntnisdokument selbst. Erst 1560, ein Jahr vor dem Tod von Menno →Simons, wurden diese Sieben Artikel von Schleitheim erstmals auf Holländisch veröffentlicht, zusammen mit Michael Sattlers Brief an die Gemeinde zu Horb und einem Bericht über seinen Gerichtsprozess und sein Martyrium. Arnold Snyder hat sicherlich Recht, wenn er meint, dass Sattlers Märtyrerzeugnis den Schleitheimer Artikeln Autorität verliehen habe, mehr als dass diese Artikel seinem Martyrium die ihm entgegengebrachte Aufmerksamkeit gesichert hätten.

Die Frage, wie weit der Text der Schleitheimer Artikel im frühen Täufertum verbreitet war, unterscheidet sich von derjenigen nach der Bedeutung der charakteristischen Ideen und Praktiken der Schleitheimer Artikel unter den frühen Täufern. Die Bedeutung der Schleitheimer Artikel für das frühe Täufertum war immens, aber weit davon entfernt, universal gewesen zu sein. Die Schleitheimer Artikel hatten nur einen geringen Einfluss auf Personen, die das Täufertum und den Bauernkrieg 1525 und 1526 gemeinsam erfahren hatten. Sie hatten weniger Einfluss auf Täufer in protestantischen Territorien, wo die Obrigkeiten keine ernsthaften Anstalten trafen, das Täufertum auszurotten; und sie berührten nicht das Täufertum in den Niederlanden, an der Nord- und an der Ostseeküste vor 1560. Andererseits beschrieben sie die Gemeindepraxis der meisten Schweizer Täufer und Hutterer, wie auch der Austerlitzer Brüder vor 1535.

3. Verbreitung der Sieben Artikel und Berichte von Michael Sattlers Martyrium

Die Verbreitung der Sieben Artikel war im frühen 16. Jahrhundert weitaus weniger intensiv als die täuferisch-mennonitische Forschung des 20. Jahrhunderts suggerierte. Sicherlich waren diese Artikel in den Jahren nach 1527 in den Territorien Berns und Basels und im benachbarten Südwesten Deutschlands weit verbreitet. Ulrich Zwingli hatte das in seinem Elenchus (1529) kommentiert. Darüber hinaus kann mit Sicherheit angenommen werden, dass die Sieben Artikel genauso wie die schweizerische Gemeindeordnung, die mit den Sieben Artikeln gemeinsam zirkulierte, bald auch in Mähren, wahrscheinlich in Austerlitz, wieder erschienen. Bekannt ist auch eine Druckfassung dieser Artikel, die zwischen 1527 und 1529 in Worms bei Peter →Schöffer d. J. hergestellt wurde. Dieser Druck enthielt auch Michael Sattlers Brief an die Gemeinde zu Horb und einen Bericht von seinem Martyrium. Zwei weitere deutsche Fassungen dieser Texte erschienen im weiteren Verlauf des 16. Jahrhunderts und wurden 1560 ins Holländische übersetzt. Arnold Snyder hat bemerkt, dass die folgenden Veröffentlichungen wie der Märtyrerspiegel (→Martyrium) zwar den Brief an die Gemeinde zu Horb und die Geschichte von Sattlers Martyrium enthielten, nicht aber die Sieben Artikel. Seine Beobachtung, dass die Märtyrergeschichte Sattlers für die Verbreitung des Schleitheimer Bekenntnisses in den Jahren unmittelbar nach dessen Erscheinen gesorgt hat, überzeugt. Johannes →Calvins französisch geschriebene Widerlegung der Schleitheimer Artikel (Genf 1544) wurde durch die Zusendung eines Druckexemplars der Artikel veranlasst. Es gibt sieben Abschriften der Schleitheimer Artikeln unter den Handschriftsammlungen der Hutterer aus dem 16. und 17. Jahrhundert. Während dieser Zeit ließen die Hutterer Peter Riedemanns Rechenschaft drucken, die theologisch mit den Sieben Artikeln auf einer Linie lagen. So kann angenommen werden, dass die Auffassungen von Schleitheim unter den hutterischen Brüdern anerkannt waren. Im Hinblick auf das 17. Jahrhundert gibt es eine bekannte Veröffentlichung der Sieben Artikel von Schleitheim, die gemeinsam mit dem Dordrechter Bekenntnis von 1632 erschienen ist (→Bekenntnisse). Danach verschwanden die Sieben Artikel aus der täuferisch-mennonitischen Erbauungsliteratur, während das Dordrechter Bekenntnis weiterhin aufgelegt wurde, genauso wie der Märtyrerspiegel sowohl auf Holländisch als auch nach 1780 in deutscher Übersetzung.

4. Das Dordrechter Bekenntnis und die Sieben Artikel von Schleitheim

Anders als die Sieben Artikel enthält das Dordrechter Bekenntnis mit seinen achtzehn Artikeln nicht nur eine umfassende Stellungnahme zur christlichen Lehre (mit einem Hauch von heterodoxer Christologie im Sinne Melchior →Hoffmans), sondern auch zu den täuferischen Ordnungen der Erwachsenentaufe, Fußwaschung, des Banns und der Meidung der Ausgeschlossenen, der Ehe ausschließlich mit Gleichgesinnten im Glauben, der Eidverweigerung und zwei Artikel, deren erster die Rolle der Obrigkeiten bestätigt, die den Täufern Religionsfreiheit gewähren, während deren zweiter „Rache und Widerstand gegen die Feinde mit dem Schwert“ verwirft. Das Dordrechter Bekenntnis wurde einst als ein Dokument verfasst, das Einheit zwischen den flämischen und friesischen →Mennoniten herstellen sollte, die sich vorher voneinander getrennt hatten. Höchstwahrscheinlich waren aber die Artikel über den Eid, die weltliche Obrigkeit und die christliche Wehrlosigkeit aus ähnlichen, in den Schleitheimer Bekenntnissen angekündigten Praktiken der Schweizer Täufer in das Dordrechter Bekenntnis hineingeraten waren. Mit Sicherheit entschärften die beiden Artikel über die Obrigkeit und über Wehrlosigkeit den Separatismus eines Michael Sattler. Wie Gerald Mast in seiner vergleichenden Untersuchung beider Bekenntnisse aber gezeigt hat, wurde das Thema der Absonderung von der Welt auf je verschiedene Weise von den holländischen und pfälzischen Mennoniten, den Amischen und den nordamerikanischen Mennoniten konstruiert, die das Dordrechter Bekenntnis angenommen hatten. Die →Amischen bewahrten eine Vorstellung von Absonderung, die noch an Artikel 4 von Schleitheim erinnert, während die Niederländer ihr separatistisches Verhalten gegenüber der komfortablen Welt der niederländischen Republik abmilderten. Diese Zweideutigkeit wurde von Dordrecht nach Schleitheim zurück gelesen – insgesamt auf inkorrekte Weise. Obwohl die Waterländer und Mennoniten in der Schweiz das Dordrechter Bekenntnis zu keiner Zeit übernommen hatten, wurde dieses Bekenntnis viel mehr zum täuferisch-mennonitischen Konsensdokument, als mennonitische Täuferforscher in Nordamerika es sich in der Mitte des 20. Jahrhunderts vom Schleitheimer Bekenntnis vorstellten.

Bibliografie (Auswahl)

Quellen

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James M. Stayer

 
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