Kultur (Theologie der Kultur)

1. Zur Definition des Kulturbegriffs

Der Begriff „Kultur“ hat seine Wurzeln im lateinischen „colere“: den Acker pflegen und bestellen bzw. die Natur durch den Anbau von Pflanzen und die Aufzucht von Tieren zu verbessern oder zu veredeln. Im 18. und 19. Jahrhundert wurde dieser Begriff dann auf die menschlichen Fähigkeiten übertragen, den natürlichen Zustand zu verändern und die Umwelt nach eigenen Vorstellungen zu gestalten. Die sozialen, geistigen und künstlerischen Fähigkeiten des Menschen werden durch Erziehung und moralische Aufrüstung (→Aufklärung) zur Vollkommenheit geführt und von den „unkultivierten“ oder „unzivilisierten“ Völkern abgesetzt. Dieses Kulturverständnis liegt der Vorstellung von der stufenweisen Entwicklung der Zivilisation zu Grunde. Ernst →Troeltsch beispielsweise hat im Christentum nicht nur den „Höhepunkt“, sondern auch den „Konvergenzpunkt aller erkennbaren Entwicklungsrichtungen der Religion“ gesehen (Ernst Troeltsch, Die Absolutheit des Christentums und die Religionsgeschichte, 197). Anders sah es Herbert Spencer aus der Sicht seines sozialen Darwinismus: Stufenweise habe sich in einem evolutionären Prozess der Stärkste durchgesetzt („survival of the fittest“). Im Gegensatz zu denjenigen, die glaubten, Kultur könne das menschliche Wesen zur Vollkommenheit führen, meinte der Romantiker Jean-Jacques Rousseau, dass die höhere Zivilisation die unverdorbene Natur bei edlen Wilden und primitiveren Völkern verdorben habe.

Mit der Entstehung der Sozialwissenschaften im frühen 20. Jahrhundert, besonders mit der Disziplin der Anthropologie (der Lehre vom Menschen), wurde eine eher empirisch ausgerichtete oder beschreibende Definition von Kultur entwickelt. In dieser Sicht umfasst Kultur ein weites Spektrum menschlicher Phänomene, die nicht dem biologischen oder genetischen Erbe der Menschen zugeschrieben werden können. Alle Menschen sind in dem Sinne „kultiviert“, dass eine große Vielfalt, das Leben zu gestalten, im Laufe der Zeit „erfunden“ und von Generation zu Generation weitervermittelt wurde. Analog zur biologischen Evolution kann von einer kulturellen Evolution gesprochen werden. Sozialwissenschaftler begannen mit dem Versuch, die große Vielfalt der Kulturen zu verstehen und zu beschreiben, die ihnen unter den Völkern der Welt begegneten, ohne sie der Annahme auszusetzen, einige Völker seien kultivierter als andere.

Der Anthropologe Clifford Geertz geht über die weite Definition, wonach Kultur alles sei, womit Menschen die biologische Natur aufstocken, hinaus, um eine genauere und differenziertere Definition von Kultur mit seinem „semiotischen“ Zugriff zu erreichen. Kultur „meint ein geschichtlich vermitteltes Bedeutungsmuster, das in Zeichen verkörpert ist, ein System ererbter Konzeptionen, die ihren Ausdruck in symbolischen Formen finden, die Menschen nutzen, um miteinander zu kommunizieren, sich zu erhalten und ihr Wissen über das Leben und ihre Einstellung zum Leben entwickeln“ (Clifford Geertz, „Religion as a Cultural System“ in: The Religious Situation, 641). Ein kulturelles System ist ein Bedeutungssystem (anders als das soziale System oder das Persönlichkeitssystem), das uns die Richtung weist, wie zu leben sei. „Zwischen dem, was unser Körper uns sagt und was wir wissen müssen, um zu funktionieren, existiert ein Vakuum, das wir uns selbst auffüllen müssen, und wir füllen es mit Informationen (oder Falschinformationen) auf, mit denen unsere Kultur uns versorgt“ (Clifford Geertz, The Interpretation of Cultures, 50).

Geertz stellt das Blinzeln eines Auges einer Geste gegenüber. Beide können physiologisch verstanden werden. Ein Blinzeln ist eine komplexe physische Reaktion, die in ihrer ganzen Komplexität unter einem physiologischen Gesichtspunkt verstanden werden kann. Doch ein ähnlicher physischer Akt kann eine „Geste“ werden, die eine symbolische Bedeutung als Teil einer komplexen psychisch-sozialen Interaktion zwischen Liebenden annimmt. Wir leben mit beidem, mit dem Blinzeln (was die Biologie betrifft) und mit den Gesten (was die Kultur anbelangt). Unsere Augen würden nicht mehr im physiologischen Sinn funktionieren, wenn wir nicht mehr zu blinzeln in der Lage wären. Ebenso wenig könnten wir als menschliche Wesen ohne „Gesten“ (unser kulturelles Erbe) überleben, ohne die Mittel, die unsere Absichten und Interessen mit anderen menschlichen Wesen kommunizieren (Clifford Geertz, The Interpretation of Cultures, 6 f.). Religion wird zu einem kulturellen System „von Symbolen, das darauf aus ist, kraftvolle, überzeugende und lang anhaltende Stimmungen und Motivationen im Menschen zu erzeugen, indem es Konzeptionen allgemeiner Lebensordnung formuliert und jene Konzeptionen mit einer solchen Aura der Faktizität versieht, dass die Stimmungen und Motivationen auf einzigartige Weise realistisch zu sein scheinen“ (Clifford Geertz, The Interpretation of Cultures, 643).

2. Theologie und Kultur: Die europäische Krise nach dem Ersten Weltkrieg

Neben diesen Entwicklungen in der Interpretation der Kultur durch Sozialwissenschaftler begegneten europäische Theologen die kulturelle Krise Europas in Leid und Schmerz, die der Erste Weltkrieg und die Zeit danach verursacht hatten. Karl Barth, der den Aufstand gegen die liberale Theologie anführte, antwortete auf die Krise mit einer Theologie der Transzendenz: mit der Annahme einer unendlichen qualitativen Distanz zwischen Gott und der Kultur der Menschen. Die Aufgabe der Theologie bestand in einer unerbittlichen Kritik der Kultur. Für kurze Zeit brachte diese Krise eine bemerkenswerte Gruppe von Theologen zusammen: Eduard Thurneysen, Friedrich Gogarten, Rudolf Bultmann, Emil Brunner und Günther Dehn sowie den frühen Sympathisanten Paul Tillich. Später gesellte sich Dietrich Bonhoeffer hinzu und führte zusammen mit Barth den Widerstand der Bekennenden Kirche gegen die Deutschen Christen im →Dritten Reich an. Von den frühen Jahren an traten jedoch bedeutsame Differenzen unter diesen Theologen auf. Das zeigte sich beispielsweise darin, wie unterschiedlich Paul Tillich und Friedrich Gogarten Kultur theologisch deuteten.

So hat Paul Tillich in seinen Überlegungen zu einer Theologie der Kultur dazu angeregt, den religiösen Sinn in den kulturellen Formen des Lebens aufzuspüren, die Hinweise auf das, „was uns unbedingt angeht“, im Bedingten, d. h. der von Menschen geschaffenen Kultur. Für ihn war die Religion die „Substanz der Kultur“ und die Kultur die „Form der Religion“ (Paul Tillich, Die religiöse Substanz der Kultur, 110 f.). Das bedeutet nicht, die Kultur kritiklos anzunehmen oder sich ihr auszuliefern. Sie steht vielmehr unter dem Gericht des unbedingten Gottes, sofern sie dem Menschen von sich aus mit unbedingten Forderungen entgegentritt; und sie erfährt die Gnade Gottes, sofern sie zum Symbol göttlicher Zuwendung zum Menschen wird. Einen anderen Weg, Kultur und christlichen Glauben ins Verhältnis zu setzen, hat Friedrich Gogarten beschritten. Er vertritt die Meinung, dass Impulse des Evangeliums in die kulturellen Bemühungen der Menschen eingehen und das Leben in der Welt erträglicher machen. So hat er es später formuliert. Selbst die säkularisierten Formen der Kultur und Gesellschaft sind, wie die Demokratie beispielsweise, eine „legitime Folge des christlichen Glaubens“ (Friedrich Gogarten, Verhängnis und Hoffnung der Neuzeit, 1958).

3. Theologie und Kultur: Ernst Troeltsch und H. Richard Niebuhr

In Nordamerika hat sich die Interpretation der Beziehung, die zwischen Theologie und Kultur besteht, besonders auf die Untersuchungen bezogen, die Ernst Troeltsch in seinen Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen (1911) und H. Richard Niebuhr in Christ and Culture (1951) vorlegten. Beide Autoren sind eng aufeinander bezogen. Niebuhr schrieb seine Dissertation über Troeltschs Religionsphilosophie und wurde von dessen Typologie religiöser Sozialisation tief beeinflusst. Die Disziplin christlicher Ethik steht heute noch stark unter dem Eindruck dieser beiden Untersuchungen. Beide Theologen gingen von dem eher „wissenschaftlich“ ausgerichteten Verständnis der Kultur aus, wie es oben beschrieben wurde. Als Troeltsch seine Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen schrieb, gab er die Position auf, die er in der Absolutheit des Christentums vertreten hatte, wo er noch damit rechnete, Religion von einem „objektiven“ Beziehungssystem sozusagen „außerhalb“ der Geschichte „beurteilen“ zu können. Weil alle Kulturen jedoch von geschichtlichen Bedingungen geprägt sind, auch von unserer eigenen, kann niemand auf von einem objektiven Standpunkt außerhalb historischer Bedingtheit aus bestimmen, welches die beste oder höchste Religion sei.

Während seiner Lehrtätigkeit in Heidelberg lebte Troeltsch in einem Haus mit dem Soziologen Max Weber, der ihn darauf zu achten lehrte, wie „Ideen“ mit sozialen Systemen verbunden seien. Troeltschs besonderer Beitrag, den er zur historischen Analyse religiöser Entwicklungen leistete, war der Akzent, den er auf die Bedeutung der Interaktion verschiedener Typen religiöser Gemeinschaftsbildung mit ethischem Denken legte. Christologie und ethische Normen werden nicht als abstrakte Ideen, getrennt von ihrem konkreten Kontext, sondern am besten verstanden, wie sie in religiösen Gemeinschaften oder Kirchen eingebettet und wirksam sind. So korrigierte Troeltsch das idealistische Geschichtsverständnis, das sich in erster Linie um die Geschichte reiner Ideen oder um die Kirchengeschichte als der Entwicklung des Dogmas bemüht hatte, und wurde vor allem mit seiner Typologie von Kirche, Sekte und Mystik als dem Schlüssel zur Interpretation der Geschichte christlicher Soziallehren bekannt. Er unterschied diese Typen voneinander, indem er die Beziehung von vier Variablen zueinander untersuchte: den Typ religiöser Gemeinschaftsbildung, die Christologie jeden Gemeinschaftstyps, die sich daraus ergebende Ethik und die Implikationen, die sich für die Beziehung der Kirche zu anderen sozialen Institutionen wie Familie, Staat und Wirtschaft ergaben. Er glaubte, dass alle drei Typen in gewissem Sinne von Anfang an in der Christenheit präsent gewesen seien, nebeneinander in der Geschichte der Kirche existierten und immer noch wirksam sind. So wurde seine Typologie eines der wichtigsten Erklärungsmuster, mit dessen Hilfe die Beziehung der verschiedenen Typen religiöser Gemeinschaftsbildung zur weiteren Gesellschaft bzw. Kultur jenseits der Kirche interpretiert werden konnte.

Gleichzeitig hielt Troeltsch weiterhin an der neukantianischen Anschauung von der „religiösen Idee“, einem nicht kulturell bedingten „a priori“ (was vor aller Kultur existiert) fest, das sich selbst in einer Vielfalt historisch wechselnder Formen zum Ausdruck bringt. Troeltschs Bemühungen um ein „religiöses a priori“ muss vor dem Hintergrund seiner Auseinandersetzung mit dem Relativismus gesehen werden, mit seiner Suche nach einer Norm oder einem Wert, von dem aus bestimmt werden könne, was wahre Religion sei. Er konnte nicht mehr die dogmatische Theologie des „Supranaturalismus“ akzeptieren, die einfach von der Annahme ausging, dass das Christentum die höchste Religion sein müsse. Für Troeltsch ist das Christentum eine historische Religion in Raum und Zeit. Das moderne Geschichtsbewusstsein, die Einsicht in die Geschichtlichkeit des Gewordenen, machte es ihm unmöglich, das Christentum von seiner Verankerung in der geschichtlichen Entwicklung zu abstrahieren und es von „jenseits“ der Geschichte im Sinne einer allgemeinen Wahrheitstheorie zu begreifen. Dann aber stellt sich die Frage, woher der Wertgesichtspunkt komme, von dem aus der Lauf der Geschichte zu beurteilen und zu lenken sei.

Mit Hilfe der Erkenntnistheorie Immanuel Kants versuchte Troeltsch, normative Werte zu entwickeln, indem er von den faktisch gegebenen „a priori“-Prinzipien der Religion absah. Dieser Versuch, einen rational gültigen Wahrheitsgehalt für die Religion zu konstruieren, setzte eine essentielle religiöse Idee voraus, die von dem soziokulturellen Boden unterschieden werden könne, aus dem Religion erwächst. Die religiöse Idee hat einen Grund und eine Quelle, die anders sind, als das empirische Selbst, das in den raumzeitlichen Zusammenhang der Kultur eingebunden ist.

In diesen erkenntnistheoretischen Konzepten ist die grundsätzliche Voraussetzung für die Formulierung des Kirche-Kultur-Problems in den Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen zu sehen. Religion als „Idee“ bezieht sich auf einen jenseitigen Bereich hinter den Relativitäten der Kultur. Mit anderen Worten, die religiöse „Idee“ der Christenheit, die zunächst rein religiös ist und gegen die Kultur steht, muss dann mit der Kultur zusammengebracht werden. Der Definition nach unterscheidet sich der rationale Kern der Religion von Kultur. Diese Unterscheidung zwischen einem „a priori“ und dem Tatsächlichen brachte eine grundsätzliche Dualität mit sich, die anfänglich Religion und Kultur in Gegensatz zueinander setzte.

Diese Dualität prägte sowohl die Christologie Troeltschs als auch den Sektentyp, wie er ihn interpretierte. Wenn Troeltsch Jesus in den Soziallehren beschreibt, bezieht er sich auf die „christliche Idee“, wie sie ihren Ausdruck in der charismatischen Persönlichkeit Jesu fand. Diese Idee ist eine in höchstem Grade spiritualisierte und idealisierte Vision eschatologischer Utopie und weist auf einen objektiven Wert „jenseits“ der Welt hin. Die Königsherrschaft Gottes ist kein Programm einer sozialen Reform. Ihr ist weder der Staat, noch die Gesellschaft, nicht einmal die Familie ein Anliegen. So ist die radikale religiöse Ethik Jesu mit ihrer Gleichgültigkeit gegenüber der Welt und ihrer Überwindung der Unterschiede innerhalb der Welt, die Basis in der Kirchengeschichte sowohl für radikale Revolution als auch für eine Absonderung von der Kultur. Die tiefe Kluft zwischen Reich Gottes und Kultur prägte den Sektentyp des Christentums. Das wichtigste Beispiel dafür waren für Troeltsch die Täufer, die Jesus nachzufolgen versuchten (was der Definition nach den Sektentyp indifferent gegenüber der Kultur erscheinen ließ).

H. Richard Niebuhr übernimmt in Christ and Culture (1951) die Definition, die der Anthropologe Bronislaw Malinowski in der Encyclopedia of Social Sciences veröffentlicht hat: Kultur ist „die ‚künstliche, sekundäre Umgebung', die der Mensch dem Natürlichen auferlegt. Sie umfasst Sprache, Gewohnheiten, Ideen, Glaubensvorstellungen, Sitten, soziale Organisation, überlieferte Artefakte, Kenntnisse von technischen Vorgängen und Werte“ (H. Richard Niebuhr, Christ and Culture, 32). Obwohl Niebuhr von Troeltschs grundlegender Einsicht in die Bedeutsamkeit religiöser Gemeinschaftsbildung ausgeht, indem er das Augenmerk vor allem wieder auf das „Denken“ oder die „kulturellen Ideen“ als Schlüssel zur Deutung der Beziehung von Christus und Kultur lenkt, hat Troeltsch vor allem seine neukantianische dualistische Konzeption des Problems von Christus und Kultur geprägt.

Auf der einen Seite ist Kultur für Niebuhr in dem weitesten Sinne als alles, was Menschen tun, definiert, sofern es nicht strikt von biologischen Kräften bestimmt ist. Auf der anderen Seite ist Christus akulturell, indem er auf das „Absolute“ jenseits der Relativitäten der Kultur verweist. Christus wird in der Begrifflichkeit der Tugenden definiert, der Liebe, Hoffnung, des Gehorsams und des Glaubens, die auf einen Gott jenseits der Welt der Kultur orientiert sind. „Als Sohn Gottes weist er von den vielen Werten des sozialen Lebens der Menschen weg auf den Einen hin, der allein gut ist.“ In dieser Orientierung auf Gott ist Christus dann Mittler zwischen Gott und den Menschen. „Das schließt eine doppelte Bewegung ein: vom Menschen zu Gott hin und von Gott zum Menschen hin“ (H. Richard Niebuhr, Christ and Culture, 27). So definiert Niebuhr das Problem Christus und Kultur als eine Reihe von Dualismen: absolut/relativ; ewig/zeitlich; Gott/Welt; Christus/Kultur. Der neukanitianische Dualismus von „Noumena“ (reine Verstandesbegriffe, das Intelligible, das nur durch Vernunft zu erfassen ist) und „Phaenomena“ (Erscheinungen, die empirisch fassbar sind), den Niebuhr über Troeltsch kennen gelernt hat, stellt die philosophische Voraussetzung oder den konzeptionellen Bezugsrahmen für die Erörterung dieses Themas dar (Duane K. Friesen, The Relationship between Troeltsch's Theory of Religion and his Typology of Religious Association, 1972).

4. Ansätze einer Theologie der Kultur heute

Eine alternative Interpretation nach Troeltsch und Niebuhr stützt sich auf die neutestamentliche Exegese in den einhundert Jahren seit den Soziallehren und seit den sechzig Jahren nach Christ and Culture. Dieses neue Verständnis hat der mennonitische Theologe John Howard →Yoder in seinem Buch Politics of Jesus (1972) widergespiegelt und verarbeitet. Eine Christologie unter dem Gesichtspunkt der Inkarnation erfasst Christus innerhalb der Kultur. Jesus Christus ist keine Realität, die der Kultur gegenübersteht, sondern war für Christen im ersten Jahrhundert vielmehr die normative kulturelle Annahme unter anderen kulturellen Alternativen. Christus wird in dieser Sicht nicht als ein Ideal definiert, das in Gegensatz zur Kultur steht, sondern ist eine leibhaftige Person. Wie er lebte und starb, war er tief eingebettet in die jüdische Kultur des ersten Jahrhunderts in Palästina. Der jüdische Jesus der synoptischen Evangelien geht in die Synagoge und den Tempel, er betet zu Gott in aramäischer Sprache und lehrt in Sprichwörtern und Gleichnissen, die sich in seinen kulturellen Kontext einfügen. Er war ein „politisches“ Wesen, dessen Leben und Lehre die Armen und Außenseiter nicht außer Acht ließ. Er forderte die Mächtigen als ein prophetischer Heiler und Lehrer heraus. Er lehrte die Menschen, dem Bösen mit kreativer Gewaltlosigkeit zu begegnen, und zahlte die Zeche für seine Nonkonformität mit dem Tod an einem römischen Kreuz.

Unter diesem Gesichtspunkt wird das Problem nicht als Gegensatz von Christus und Kultur zu definieren sein, sondern als Spannung zwischen gegensätzlichen kulturellen Sichtweisen. Ein Christ zu sein, ein Nachfolger Jesu, der selber „Fleisch“ (griech. „sarx“) war, bedeutet, nach einer bestimmten kulturellen Sichtweise zu leben. Das Thema, mit dem die Kirche andauernd konfrontiert ist, ist also die Beziehung zwischen konkurrierenden kulturellen Sichtweisen, nicht zwischen Christus und Kultur.

Jede Art, Christ zu sein, ist kulturell bestimmt. Es ist unsinnig, irgendjemand, geschweige denn eine religiöse Tradition insgesamt, als Gegensatz zur „Kultur“ oder als „Übereinstimmung“ mit Kultur zu beschreiben. Alle Christen bringen ihre Identität in der Sprache und den Praktiken zum Ausdruck, die kulturellen Charakter tragen und empirisch beobachtet werden können. Ein amischer Christ im ländlichen Pennsylvanien und ein Harvard-Theologe im urbanen Cambridge (Massachusetts) mögen sehr verschiedene kulturelle Sichtweisen verkörpern, beide sind aber im Ausdruck ihrer Identität als Christen durch und durch kulturell geprägt.

Eine sachgemäße Typologie muss deshalb der Art und Weise genügen, wie „Christus“ von verschiedenen Personen und Gruppen definiert wird. Sie muss herausfinden, bis zu welchem Grad eine bestimmte Sicht von Christus normativ ist (und wie andere Normen ins Spiel kommen), und muss darauf achten, wie diese verschiedenen Deutungen Christi eine unterschiedliche Ethik normativer Praktiken bereitstellen, die von unterschiedlichen kulturellen Sichtweisen geprägt sind. Diese Ideen wurden in dem gemeinsamen Buch von John Howard Yoder, D. M. Yeager (Baptist) und Glen Stassen aufgegriffen und ausgearbeitet: Authentic Transformation: A New Vision of Christ and Culture (1996).

Ein Schüler Niebuhrs war Gordon D. →Kaufman. Er hat eine ganz andere Theologie der Kultur entwickelt. Im Gegensatz zu vielen Theologen, die sich auf die hermeneutische Methode konzentrieren, begreift er Theologie als ein durch und durch kulturelles Phänomen. Sie folgt einer Methode, die mit Hilfe der menschlichen Einbildungskraft die christlichen Symbole im Lichte des zeitgenössischen, wissenschaftlich orientierten Wirklichkeitsverständnisses konstruiert. In der Perspektive einer nicht dualistischen Weltsicht wendet er sich gegen den Supranaturalismus und versteht Gott als „Kreativität“, eine Aktivität innerhalb des bio-historischen Evolutionsprozesses. In seinem letzten Buch Jesus and Creativity (2006) entwickelt Kaufman eine Christologie, die Jesus als ein durch und durch menschliches Wesen beschreibt. Jesus gibt Christen und anderen eine menschliche Antwort auf die großen Themen unserer Zeit: Sorge um die natürliche Umwelt, soziale Gerechtigkeit und Alternative zu gewaltsam ausgetragenen Konflikten.

In dieser Perspektive ist der Begriff „Christus“ ein kulturelles Phänomen, sowohl als Begriff im neutestamentlichen Kontext als dort, wo das Neue Testament in die reichhaltige Vielfalt anderer Kulturen im Laufe der Kirchengeschichte übersetzt worden ist. Wie der Begriff „Christus“ mit reichhaltigen und unterschiedlichen kulturellen Bedeutungen behaftet ist, so muss auch der Begriff „Kultur“ nicht als monolithische Einheit, sondern als fließend und komplex angesehen werden (Kathryn Tanner, Theories of Culture, 44).

5. Interpretation der täuferisch-mennonitischen Tradition

Ernst Troeltsch sah in den Täufern die reinsten Vertreter des Sektentyps bzw. des Rückzugs aus der Gesellschaft; und H. Richard Niebuhr betrachtet die Täufer als die reinsten Vertreter des Typs „Christus gegen Kultur“. Im Lichte der kulturellen Anthropologie und neuer Einsichten, das Verhältnis von Christus und Kultur zu verstehen, sind alternative Interpretationen erarbeitet worden, in denen die Täufer und die nachfolgenden Traditionen der Mennoniten nicht monolithisch „gegen die Kultur“ gestellt, sondern als eine Vielfalt alternativer kultureller Optionen gegenüber den verschiedenen Großkulturen verstanden wurden, in denen sie lebten. So forderten die Täufer des 16. Jahrhunderts (symbolisiert in der Glaubenstaufe) das sich geschlossen darstellende religiöse und soziale Establishment des Christentums (symbolisiert in der Säuglingstaufe) heraus, indem sie aus freiem Entschluss ihrer Anhänger entstehende Gemeinschaften des Protests oder Widerstands entstehen ließen. Die Schweizer Täufer (wie sie sich in den Schleitheimer Artikeln von 1527 zeigen) forderten eine radikale →Absonderung von der „Welt“, was für sie Ablehnung der Praktiken bedeutete, die in Widerspruch zur →Nachfolge Jesu standen (Verweigerung des Eides und des Schwertgebrauchs). Trotz ihres Dualismus von Kirche und Welt widersetzten sie sich nicht der Kultur im allgemeinen. Menno →Simons konnte sich sogar eine Obrigkeit vorstellen, die Jesus nachfolgt, indem sie sich für die Abschaffung der Todesstrafe einsetzt. Pilgram →Marpeck konnte der Allgemeinheit als Ingenieur ein Leben lang dienen, während er zugleich täuferische Gemeinschaften führte und betreute, die sich der bestehenden Gesellschaft widersetzten.

Ohne es zu wollen, trugen diese alternativen Gemeinschaften zu bedeutenden kulturellen Veränderungen in den westlichen Gesellschaften bei. Die täuferischen Gemeinden, die unabhängig von den Territorialkirchen und den weltlichen Obrigkeiten waren, säten den Samen aus, aus dem Pluralismus und →Demokratie heranwuchsen. Es waren die religiösen Abweichler auf dem europäischen Kontinent des 16. Jahrhunderts und der linke Flügel der englischen Reformation im 17. Jahrhundert, die zu Vertretern der Demokratie und Menschenrechte wurden, bevor die säkularisierten Traditionen der Aufklärung einsetzten und bevor die Sprache gefunden wurde, in der die Unabhängigkeitserklärung der englischen Kolonien in Nordamerika zum Ausdruck gebracht wurde.

6. Theologie der Kultur im Zeitalter der Globalisierung

Schließlich wird eine sachgemäße Theologie der Kultur heute Folgendes in Betracht ziehen: 1. Die reichhaltige Vielfalt innerhalb der Traditionen insgesamt muss berücksichtigt und der Versuchung widerstanden werden, monolithische Urteile über Traditionen zu fällen. 2. Der gegenseitige Gedankenaustausch, der im Zeitalter der Ökumene stattfindet, durchbricht traditionelle Demarkationslinien zwischen den Konfessionen und führt Christen zueinander, z. B. bringt die Theorie vom gerechten Frieden Pazifisten und Theoretiker des gerechten Kriegs zusammen (Glen H. Stassen (Hg.), Just Peacemaking, 2008). 3. Besondere Typologien müssen entwickelt werden, die bestimmte Bereiche der Kultur ausleuchten, z.B. Ian Barbours Typologie von der Beziehung zwischen Religion und Wissenschaft: Konflikt, Interdependenz, Dialog und Integration (Ian Barbour, When Science meets Religion, 2000). 4. Mehr als auf die Christen in Europa und Nordamerika ist darauf zu achten, wie Christen in Lateinamerika, Asien und Afrika die Kirche drängen, über Christus und Kultur auf ganz und gar neue und verschiedene Weisen nachzudenken (→Globalisierung).

Bibliografie

Ian G. Barbour, When Science Meets Religion, San Francisco, CA, 2000. - Duane K. Friesen, The Relationsship between Ernst Troeltsch's Theory of Religion and His Typology of Religious Association, Th. D. Diss., Harvard University, Cambridge, Mass., 1972. - Ders., Artists, Citizens, Philosophers: Seeking the Peace of the City, Scottdale, PA, 2000. - Ders., A Discriminating Engagement with Culture: An Anabaptist Perspective, in: Journal of the Society of Christian Ethics 23, 1, 2003, 145–156. - Der. Auf dem Weg zu einer Theologie der Kultur, in: Mennonitische Geschichtsblätter 2006, 97–110. - Ders., Normative Factors in Troeltsch's Typology of Religious Association, in: Journal of Religious Ethics, III, 1975, 271–283. - Clifford Geertz, Religion as a Cultural System, in: The Religious Situation 1968, hg. von Donald Cutler, Boston 1968, 639–688. - Ders., The Interpretation of Cultures, New York 1973. - Friedrich Gogarten, Verhängnis und Hoffnung der Neuzeit. Die Säkularisierung als theologisches Problem. 2. Aufl., Stuttgart 1958. - Gordon D. Kaufman, In Face of Mystery. A Constructive Theology, Cambridge, Mass., und London 1995. - Ders., Jesus and Creativity, Minneapolis, Minn., 2006. - H. Richard Niebuhr, Christ and Culture, New York 1951. - Glen H. Stassen (Hg.), Just Peacemaking: The New Paradigm for the Ethics of Peace and War, Cleveland, Ohio, 2008. - Kathryn Tanner, Theories of Culture, Minneapolis 1997. - Paul Tillich, Die religiöse Substanz der Kultur. Schriften zur Theologie der Kultur. Ges. Werke, Bd. 9, hg. von Renate Albrecht, Stuttgart 1967. - Ernst Troeltsch, Die Absolutheit des Christentums und die Religionsgeschichte (1902/1912) mit den Thesen von 1901 und den handschriftlichen Zusätzen, hg. von Stefan Pautler und Trutz Rendtorff. Kritische Gesamtausgabe, Bd. 5. Berlin u. a. 1998. - John Howard Yoder, The Politics of Jesus, Grand Rapids, Mich., 1972, 2. Aufl. 1985, dt. Politik Jesu – der Weg des Kreuzes, Maxdorf 1983, 2. Aufl. Schwarzenfeld 2012. - John H. Yoder, D. M. Yeager und Glen H. Stassen, Authentic Transformation: A New Vision of Christ and Culture, Nashville, Tenn., 1996.

Duane K. Friesen

 
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