Gesellschaften und Vereine

Gesellschaften und Vereine sind soziale Gruppen, die auf freiwillige Initiative ihrer Mitglieder hin zustande gekommen sind. Menschen haben sich zusammengeschlossen, um aneinander teilzunehmen und sich in ihren gemeinsamen Interessen fördern zu lassen. Während die Existenz solcher Gruppen für Staatsbürger der westlichen Nationen heute selbstverständlich ist, waren freiwillige Vereinigungen in früheren Jahrhunderten wesentlich seltener.

1. Die Habermas-These

Historiker, Soziologen und Politologen verbinden die frühen Anfänge dieser Gesellschaften und Vereine mit der Heraufkunft der →Moderne. Die klassische Untersuchung dieses Gegenstands ist die Habilitationsschrift, die Jürgen Habermas mit dem Titel Strukturwandel der Öffentlichkeit: Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft (1962) geschrieben hat. Habermas vertrat die Meinung, dass die moderne Idee und Realität der Öffentlichkeit aus den privaten Vereinigungen der städtischen Kapitalisten hervorgegangen seien, die immer mehr zur Überzeugung gelangten, dass sich ihre Interessen deutlich von denjenigen der absolutistischen Herrscher des Alten Regimes unterschieden (→Obrigkeit). Als diese Vereinigungen im 18. Jahrhundert stärker wurden, nahmen sie einen öffentlichen, oppositionellen Charakter an. Mitglieder der kapitalistischen Elite tauschten ihre Ideen auf dem wachsenden Buch- und Zeitschriftenmarkt untereinander aus, auch in Caféhäusern, Klubräumen und Privathäusern. Aufgrund dieser Aktivitäten wurden sich die Bürger in den Vereinigungen, die sich in Flecken und Städten fast überall in Europa verbreiteten, dessen bewusst, dass sich ihre politischen Interessen oft im Gegensatz zu den politischen Interessen der weltlichen Herrscher und der Landeskirchen entwickelten. In der Interpretation, die Habermas vorlegte, hatten die neuen Formen der bürgerlichen Öffentlichkeit die Basis der modernen demokratischen Ideale und Institutionen geschaffen.

Habermas hat einen tiefen Einfluss auf die Erforschung der →Aufklärung ausgeübt. Eine ältere Sicht, wie sie von den Interpretationen Ernst Cassirers und Peter Gays vertreten wurde, hatte die Aufklärung von ihren philosophischen Ideen her begriffen, die von einer kleinen Gruppe großer Denker erdacht wurden. Die neue Sicht, die Habermas durchzusetzen half, vernachlässigt nicht die Bedeutung dieser Ideen, sie legt aber mehr Gewicht auf die Entstehung der Gesellschaften, die sich für Reformen und Verbesserungen einsetzten. Diese Gesellschaften nahmen viele Formen an und förderten verschiedene Anliegen: künstlerische, literarische, wissenschaftliche, pädagogische, moralische und ökonomische. Diese neue Deutung der Aufklärung legt den Akzent stärker auf die Aktionen und Ideen der „gewöhnlichen“ Männer und Frauen überall in Europa, die ihre Zeit und Energie diesen Gruppen und der Förderung ihrer gemeinsamen Reformanliegen widmeten. Da diese Gesellschaften im 18. Jahrhundert so recht zur vollen Entfaltung kamen, hat Ulrich Im Hof dieses Jahrhundert als Das gesellige Jahrhundert (1982) charakterisiert.

2. Taufgesinnte und frühmoderne Gesellschaften

Eine der Schwächen der Habermas-These über die Heraufkunft einer unabhängigen bürgerlichen Öffentlichkeit im 18. Jahrhundert ist die Vernachlässigung der Religion. In seiner Habilitationsschrift brachte er dem religiösen Leben als einer Basis für eine neue, separate, selbstbewusste Schicht freidenkender Eliten in den Städten nur wenig Aufmerksamkeit entgegen. Im Allgemeinen assoziierte Habermas Religion vielmehr mit den ideologischen Interessen des Alten Regimes. Unter diesem Gesichtspunkt scheint es kaum Gründe zu geben, die Täufer und ihre Rolle in der Heraufkunft einer modernen Öffentlichkeit zu untersuchen.

Zwei Veröffentlichungen haben zu einer anderen Sicht vom frühmodernen Täufertum (→Täufer) im Hinblick auf die Habermas-These geführt. Zunächst ist es die Studie Liberty and Concord in the United Provinces, die Joris van Eijnatten 2003 vorgelegt hat. Hier analysiert er den Wettstreit zwischen zwei religiösen Öffentlichkeiten in den Niederlanden des 18. Jahrhunderts. Die eine nennt er eine konfessionelle Öffentlichkeit („confessional public sphere“), während er die andere eine zivilisierte (bürgerliche) Öffentlichkeit („polite public sphere“) nennt. Die erste war in den Niederlanden des 18. Jahrhunderts vorherrschend, doch die Verteidiger der zweiten wurden im Verlauf dieses Jahrhunderts vernehmbarer und stärker. In jeder dieser Öffentlichkeiten wurde die eigentliche Rolle der Religion im politischen Leben jeweils anders verstanden, besonders aber lagen die Verfechter beider Öffentlichkeiten im Wettstreit über die Auffassung von Toleranz. In der konfessionellen Öffentlichkeit herrschte die Meinung vor, dass nur solche Protestanten, die den alten christlichen, trinitarischen Bekenntnissen die Treue hielten, es verdienten, öffentliche Rechte in der Republik für sich in Anspruch zu nehmen. Aufgeklärte Gegner der konfessionellen Öffentlichkeit indessen setzten sich für eine offenere, inklusive Auffassung von religiöser Duldung (→Toleranz) ein, so dass auch diejenigen, die von diesen Bekenntnissen abwichen, am offiziellen öffentlichen Leben voll hätten teilnehmen können. Van Eijnatten unterstrich die Rolle der reformierten Protestanten in beiden Öffentlichkeiten, gleichzeitig zeigte er auch, dass Remonstranten, Lutheraner und Mennoniten auf bedeutsame Weise an beiden mitwirkten. Die andere Abhandlung ist Gefahr oder Segen? Die Täufer in der politischen Kommunikation (2009), die Astrid von Schlachta geschrieben hat. Auch hier werden die öffentlichen Diskussionen über Toleranz untersucht, allerdings wird der Akzent nun stärker auf das Bild gelegt, das die Taufgesinnten in diesen Diskussionen abgeben, ebenso wird der Blick regional und chronologisch auf die deutsch- und holländischsprachigen Territorien vom 16. bis ins 18. Jahrhundert hinein ausgeweitet. Beide Untersuchungen zeigen, dass religiöse Gruppen wie die Taufgesinnten in der Geschichte neuer Formen der Öffentlichkeit in der Frühen Neuzeit wichtig waren. Sie zeigen auch, dass die Geschichte der Öffentlichkeiten, wie sie sich unabhängig von den Institutionen des Alten Regimes entwickelten, vor dem 18. Jahrhundert begann.

Andere Untersuchungen haben viel über frühe Beispiele von Gesellschaften zutage gefördert, in denen Taufgesinnte mitwirkten. Die besten dieser Beispiele stammen aus den Vereinigten Provinzen der Niederlande, wo die Verstädterung viel eher als anderswo im frühneuzeitlichen Europa einsetzte. Da Mennoniten unter den bekanntesten Unternehmern zu finden waren, die das wirtschaftliche Leben in den schnell wachsenden niederländischen Flecken und Städten prägten, überrascht es nicht, dass sie führende Rollen in den frühen bürgerlichen Gesellschaften übernahmen, die hier entstanden waren. Die Collegianten waren eines der frühsten oppositionellen Gesellschaften, die sich für Reformideen einsetzten. Diese Gesellschaften entstanden in den 1620er Jahren und waren bis zum Ende des 18. Jahrhunderts aktiv.

Andrew Fix hat die bekannteste Untersuchung zu dieser Gruppe oppositioneller Christen geschrieben, die sich aus freiem Entschluss zusammenfand und in deren Reihen sich auch mennonitische Prediger wie Galenus Abrahamsz befanden. Fix meinte, dass die antiklerikalen, antikonfessionalistischen, laizistischen Züge des Glaubens auf bedeutsame Weise zur Herausbildung der Aufklärung in den Niederlanden beigetragen hätten. Auch wenn die Beteiligung von Mennoniten in den Versammlungen der Collegianten einer der wichtigeren Gründe für den Lämmerkrieg der 1660er Jahre war, blieben die Mennoniten in den bürgerlichen Gesellschaften bis ins 18. Jahrhundert hinein tonangebend. Zwei der wichtigsten Beispiele waren die Teylers Stichting (gegründet in den 1770er Jahren) und die Maatschappij tot Nut van´t Algemeen (gegründet in den 1780er Jahren). Beide Gesellschaften förderten die Ideale der öffentlichen Bildung und der interkonfessionellen Toleranz. Darüber hinaus gibt es noch weitere Beispiele für mennonitische Aktivitäten in den niederländischen Gesellschaften des 18. Jahrhunderts (s. →Aufklärung).

3. Mennonitische Freimaurer in 18. und 19. Jahrhundert

Wegen der Kontroversen, die sie ausgelöst haben, besonders seit der Französischen Revolution (in der sie nach Aussagen ihrer Gegner eine gefährliche, subversive Rolle gespielt haben sollen), waren die Logen der Freimaurer ein besonderes Beispiel aufklärerischer Gesellschaften im 18. Jahrhundert. Offiziell wurden die ersten Logen der Freimaurer in den 1720er Jahren in London gegründet, und sie verbreiteten sich von dort aus im kontinentalen Europa weiter aus. Sie regten Männer verschiedener sozialer und konfessioneller Herkunft an, sich in privaten Klubs zu treffen, um sich esoterisches, „geheimes“ Wissen anzueignen, das aus Quellen des klassischen Altertums und aus der Heiligen Schrift geschöpft wurde und ihr Bemühen um moralische Vervollkommnung fördern sollte. Historiker wie Margaret Jacob und James van Horn Melton haben die Rolle dieser privaten Logen im Prozess, der zur Bildung einer unabhängigen, bürgerlichen Öffentlichkeit führte, besonders stark herausgestellt.

Während Taufgesinnte nicht zu den Gründern der ursprünglichen Freimaurerbewegung zählten, waren doch einige sehr bald in den 1760er Jahren zu den Logen der Freimaurer gestoßen. Beispiele finden sich in den wichtigsten Handels- und Gewerbezentren der Vereinigten Provinzen und in norddeutschen Territorien. Besonders engagiert waren Mennoniten in →Krefeld, das damals zum preußischen Rheinland gehörte. Dort waren drei Mennoniten unter den führenden Gründern der ersten Loge, die 1788 in der Stadt gegründet wurde. Wie andere Logen dieser Zeit wirkte auch die Krefelder Loge „Zur vollkommenen Gleichheit“ für Ideen und Ideale der Aufklärung. Im 19. Jahrhundert setzte sich das Engagement einiger europäischer Mennoniten für die Freimaurerlogen fort. Am bekanntesten wurde Carl Cornelius Wiebe (1850–1910), Diakon in der Mennonitengemeinde zu →Hamburg und Altona und Großmeister in der Hamburger Loge „Ferdinande Caroline zu den drei Sternen“, ebenso führender Historiker der Hamburger „Großen Loge“. Auch in Nordamerika schlossen sich einige Mennoniten seit dem 19. Jahrhundert den Freimaurerlogen an. Anders als die mennonitischen Ältesten in Europa, die wohl nichts gegen die Beziehungen der Gemeindeglieder zu den Freimaurern einzuwenden hatten, schlossen sich für viele amerikanische Gemeindeleiter Freimaurerei und christlicher Glaube gegenseitig aus. Seit dem 19. Jahrhundert haben zahlreiche mennonitische Glaubensbekenntnisse bewusst vor geheimen Gesellschaften gewarnt. Die Freimaurerlogen standen dabei sicherlich besonders in der Kritik. Damit deuteten die Verfasser der mennonitischen Glaubensbekenntnisse (→Bekenntnisse) ihre Sympathie für die antifreimaurerische Bewegung in den Vereinigten Staaten von Amerika in der Mitte des 19. Jahrhunderts an.

4. Ausblick

Der Zusammenhang zwischen Aufklärung und Gesellschaften, die auf den freiwilligen Entschluss ihrer Mitglieder zurückgehen, steht außer Frage. Das Thema „Mennoniten und Gesellschaften“ könnte auch auf die Konferenzen der Gemeinden (Vereinigungen und Verbände) wie auf die →Algemeene Doopsgezinde Societeit oder das →Mennonite Central Committee oder auf die Missions- und Bibelgesellschaften ausgedehnt werden, an denen Mennoniten beteiligt waren und immer noch sind. Dieses Thema könnte auch in das Zeitalter der →Reformation zurückverfolgt werden, so dass sich die Frage stellte, ob es eine besondere Affinität zwischen dem religiösen Voluntarismus der frühen Täufer und der Organisation frühmoderner Gesellschaften gegeben habe. Sollte eine solche Verbindung nachgewiesen werden können, könnten Historiker den Ort der Täufer in der Heraufkunft der Moderne auf neue Weise diskutieren.

Bibliografie (Auswahl)

Michael D. Driedger, Krefelder Mennoniten, die Freimaurerloge „Zur vollkommenen Gleichheit“ und die Aufklärung des 18. Jahrhunderts, in: Mennonitische Geschichtsblätter 65, 2008, 99–113. - Ders., Zuflucht und Koexistenz. 400 Jahre Mennoniten in Hamburg und Altona, Bolanden-Weierhof 2001. - Joris van Eijnatten, Liberty and Concord in the United Provinces. Religious Toleration and the Public in the Eighteenth-Century Netherlands, Leiden und Boston 2003. - Andrew C. Fix, Prophecy and Reason. The Dutch Collegiants in the Early Enlightenment, Princeton 1991. - Jürgen Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft, 1. Neuaufl., Frankfurt/ Main 1990. - Thomas Held, Carl Cornelius Wiebe und die Große Loge von Hamburg, in: Mennonitische Geschichtsblätter 34, 1977, 73–84. - Ulrich Im Hof, Das gesellige Jahrhundert. Gesellschaft und Gesellschaften im Zeitalter der Aufklärung, München 1982. - James Van Horn Melton, The Rise of the Public in Enlightenment Europe, Cambridge und New York 2001. - Astrid von Schlachta, Gefahr oder Segen? Die Täufer in der politischen Kommunikation, Göttingen 2009. - Bronwen Wilson und Paul Yachnin (Hg.), Making Publics in Early Modern Europe. People, Things, Forms of Knowledge, New York und London 2010.

Michael Driedger

 
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