Häresie

1. Definitionen

Es gibt nur wenige Autoren oder Handbücher, die den Aufbruch und den Verlauf der Reformation in Deutschland unter dem Gesichtspunkt der Häresie beschreiben. Häresie wird als ein im Wesentlichen mittelalterliches Phänomen betrachtet, während die Anhänger evangelischer Religiosität als Schismatiker klassifiziert werden. Eine solche Beschreibung lässt sich aus mehreren Gründen rechtfertigen. Was die Fundamente des Glaubens anbelangt, waren die Reformatoren keine Abweichler wie Arianer, Manichäer oder Katharer, d. h. sie waren weder Dualisten noch Antitrinitarier. Der schiere Erfolg der reformatorischen Sache, als sie aufhörte eine Angelegenheit des individuellen Gewissens oder der Ausdruck einer Gruppensolidarität zu sein und zu einer anerkannten Glaubensausübung in einigen deutschen und schweizerischen Territorien führte, verlegte die Reformation aus dem Bereich des Sektierertums in die Sphäre öffentlicher Politik. Eine „Staatsreligion“ konnte kaum als häretisch eingestuft werden. Dennoch fuhr die katholische Kirche fort, alle Schattierungen des Protestantismus sowohl in theologischer als auch ekklesiologischer Begrifflichkeit als häretisch zu beurteilen, indem sie in Luther und den anderen Reformatoren die direkten Nachfahren des Johannes Hus sahen. Gelegentlich wurde der Vorwurf der Blasphemie dem Vorwurf der Häresie vorgezogen: beide verdienten die Hinrichtung; auf Blasphemie stand die Strafe der Steinigung, auf Häresie in allen Fällen der Feuertod auf dem Schafott.

2. Spaltungen innerhalb des Protestantismus

Mit der Entzweiung der reformatorischen Sache in konkurrierende Bündnisse wurden die Häresievorwürfe wechselweise innerhalb des reformatorischen Lagers an die eine oder die andere Richtung gerichtet. Schließlich wurde das Lager der Reformation in sich doppelt gespalten: das zeigte sich nicht nur in der Kluft zwischen den Anhängern Martin →Luthers (Evangelische) und den Anhängern Ulrich →Zwinglis sowie den Reformatoren in süddeutschen Städten (reformierte Protestanten), sondern auch zwischen diesen größten konfessionellen Gruppierungen und verschiedenen Radikalen, einzelnen Gestalten oder Gemeinschaften, die Lehranschauungen vertraten, die von Mystik und Spiritualismus geprägt waren, oder solchen, die kongregationalistische Prinzipien sehr genau nahmen, so dass einige nicht vor Trennung oder Ausschluss zurückschreckten. Die Gegnerschaft und gegenseitige Verdächtigung, wie sie zwischen Gemäßigten und Radikalen offensichtlich waren, fanden ihren Höhepunkt, als die radikalen Glaubensanschauungen auf die Missstände der Gesellschaft bezogen wurden. Hier stellte der Deutsche →Bauernkrieg von 1524 bis 1525 eine Wasserscheide dar.

Täufertum

Die schwersten Anschuldigungen, der Ketzerei verfallen zu sein, wurden sowohl von katholischen als auch protestantischen Obrigkeiten gegen die →Täufer gerichtet. Unter formalen Gesichtspunkten wurden die Anhänger der Glaubenstaufe (ob sie spiritualistischen oder kongregationalistischen Ursprungs waren) einer theologischen Abweichung beschuldigt, da sie angeblich die Häresie der Donatisten des 4. Jahrhunderts wieder belebten. Diese Häresie geht auf einige Bischöfe, darunter Donatus d. Gr., im nordafrikanischen Numibien zurück, die der Meinung waren, dass die von „falschen Priestern“, d. h. denjenigen, die während der diokletianischen Verfolgung die Heilige Schrift verraten hätten, gespendeten Sakramente unwirksam seien und die Kirche nur durch die von wahren Priestern zu vollziehende Wiedertaufe geheilt werden könne. Der Zweite Reichstag zu Speyer 1529 (→Reichstage) hatte alle Täufer als Donatisten beschuldigt. Die rechtliche Grundlage für deren Verfolgung und Bestrafung mit dem Tod wurde dann in die Carolina, die Halsgerichtsordnung des Reiches von 1532, aufgenommen. Ihre Vorkehrungen sahen auch den Gebrauch der Folter vor, um Geständnisse zu erpressen.

Genau genommen wurden die Täufer als Ketzer wegen der Implikationen ihres religiösen Separatismus, nämlich die Verweigerung des Eides, der Übernahme öffentlicher Ämter oder des Waffendienstes verfolgt. Das war das Endergebnis eines Prozesses der Ausgliederung, der ihnen von ihren Gegnern auferlegt worden war. Kurz gesagt, die Wiedertaufe war eine Folge ihres Grundanliegens, nicht die Ursache. Das anfängliche Schisma war aus der Interpretation der Lehren Ulrich Zwinglis erwachsen, vor allem des Streits um die Legitimität des Kirchenzehnten. Seine biblische Berechtigung war bereits von Gelehrten in Zweifel gezogen worden, die in der Abgabe des Zehnten keine Verpflichtung, sondern einen freiwilligen Akt der Barmherzigkeit sahen. Die Opposition gegen die Zehntabgabe konnte in die weitere Forderung übergehen, dass alle Güter allen gemeinsam waren, eine →Gütergemeinschaft, die im Täufertum stärker vorherrschte, als früher angenommen wurde. Aber diese Forderung, von unfehlbar biblischem Ursprung, wurde von ihren Gegnern zu der Behauptung verzerrt, die Täufer würden auch die Frauen gemein halten, eine Verleumdung, die wohl auf Zwingli zurückgeht. So war es nur ein kleiner Schritt zum Vorwurf des Antinominianismus (Gesetzlosigkeit), dass die Täufer als Gemeinschaft der Auserwählten Gottes ohne Sünde zu sein behaupteten. Insgesamt wurden die Täufer beider Vergehen angeklagt, weil sie mit ihren gemeinsamen Glaubensüberzeugungen und Praktiken in →Absonderung von ihrer Umwelt lebten.

Wie sollten also die Obrigkeiten darauf antworten? Hier begannen sich die katholische Kirche und die protestantischen Konfessionskirchen zu unterscheiden. Für die Katholiken war die Angelegenheit klar: Wenn Ketzer nicht widerrufen, müssen sie verbrannt werden. Luther aber meinte zunächst, dass es immer Ketzer geben werde, deren Irrtümer mit Büchern und nicht mit Feuer bekämpft werden sollte. Allerdings änderte der Bauernkrieg nun seine Überzeugung: für Luther hatte sich Häresie als Aufruhr manifestiert, der bestraft werden müsse, bis zu seinem Tod, meinte er, mit dem Schwert. Auch Philipp →Melanchton schlug trotz seiner irenischen Vermittlung zwischen den evangelischen und reformierten Lagern eine harten Kurs ein, was zweifellos auf seine frühere Begegnung mit den →Zwickauer Propheten in Wittenberg zurückging. Er verlangte die Todesstrafe für diejenigen, die er eher als Gotteslästerer denn als Ketzer zu bezeichnen pflegte.

Es gab allerdings auch andere Reformatoren, die sich für ein milderes Vorgehen entschieden hatten, vor allem Johannes →Brenz aus Schwäbisch Hall, der spätere Superintendent der lutherischen Kirche in Württemberg. Zwischen 1528 und 1530 verfasste Brenz drei Traktate darüber, ob Ketzer – wobei er die Täufer meinte – zu verfolgen seien und ob Wiedertaufe als ein öffentliches Vergehen angesehen werden sollte. Seine Argumente waren insgesamt nicht ganz stringent. Im Anschluss an Martin Luthers Zwei-Reiche-Lehre behauptete er, dass die weltlichen Obrigkeiten nur öffentliche Vergehen bestrafen sollten, geistliche Delikte dagegen mit geistlichen Mitteln bekämpft werden müssten, d. h. mit der Heiligen Schrift oder mit dem Bann. In Bezug auf die Wiedertaufe meinte Brenz, dass das Corpus Iuris Civilis, der sie als häretisch einstufte, weitere Übertretungen im Auge gehabt haben muss, Einsichten, die unterdessen im Nebel der Geschichte verschwunden seien. Brenz sah weder in der Ketzerei noch in der Gotteslästerung einen Grund, sie mit der Todesstrafe zu ahnden, auch wenn seine Überlegungen keine in sich konsistente Linie zu verfolgen scheinen. Eine entschiedenere Haltung hat Sebastian Castellio eingenommen, einer der machtvollsten Anwälte für →Toleranz im 16. Jahrhundert. In seinem Traktat De Haereticis an sint persequendi (1554) wird Brenz zitiert und erklärt, dass Verfolgung weder geeignet noch wirksam sei, um Häresie zu bekämpfen. Dennoch blieben Brenz und Castellio einsame Stimmen in ihrer eigenen Zeit, was die Haltung zu Häresie und ihre Bestrafung anbetraf.

4. Die Anfänge der Toleranz

Einmal von den Täufern abgesehen, gab es irgendeine Aussicht, die Toleranz überhaupt auf theologische Gegner auszudehnen? Und wenn, unterschied sich die Haltung der weltlichen Obrigkeiten von der kirchlichen Hierarchie? Die Anfänge der Reformation in Zürich zeigen, dass der Rat der Stadt und Zwingli darüber unterschiedlich dachten. Der Rat beurteilte Häresie unter dem Gesichtspunkt bürgerlichen Wohlverhaltens und nicht theologischer Meinungsbildung. Diejenigen, die dem öffentlichen Frieden durch verleumderische Angriffe zuwider handelten, waren der Ketzerei schuldig. Und im Zuge der Auseinandersetzungen während der Ersten Zürcher Disputation im Januar 1523 war klar, dass sich nicht die Evangelischen, sondern die Katholiken den Ketzereivorwurf zugezogen hätten. Im weiteren Verlauf der Geschichte zeigte sich, dass Dissens in Städten mit religiösen Minderheiten nicht einfach unterdrückt werden konnte. So entstand eine Art de facto-Toleranz, wenn auch unter der Bezeichnung der Parität, als sich herausgestellt hatte, dass religiöse Heterodoxie nicht notwendigerweise die bürgerliche Eintracht und das Gemeinwohl in Gefahr brachte. Einen solchen Spielraum gewährten die Fürsten ihren Territorialstädten oder ihrer ländlichen Bevölkerung nicht. Auch irgendeine Tolerierung aus Zweckmäßigkeitsgründen konnte von der Geistlichkeit nicht gerechtfertigt oder verteidigt werden, ganz gleich, welcher Denomination sie angehörten. Stattdessen bemühten sich die Reformatoren, den Ketzervorwurf zum Vorwurf des Aufruhrs zu erklären, von der geistlichen auf die weltliche Ebene zu verschieben und die Rechtsprechung in dieser Angelegenheit den weltlichen Gewalten zu überlassen. Wie diese Aufrührer bestraft werden sollten, wurde von Luther nicht gesagt. Wohl aber meinte er, wie bereits angedeutet wurde, dass das Schwert nicht gegen Ketzer eingesetzt werden sollte.

5. Der Fall des Michael Servet

Dass das religiöse Thema des 16. Jahrhunderts zum größten Teil nicht Häresie, sondern Schisma war, zeigt sich in der Behandlung des einen offenen und anerkannten theologischen Häretikers der damaligen Zeit, des Spaniers Michael Servet, auch an der Reaktion darauf. 1531 veröffentlichte Servet seine De Trinitatis Erroribus (Sieben Bücher von den Irrtümern der Trinität), ein klare Widerlegung der Trinitätslehre, die er als einen dreiköpfigen Zerberus beschrieb. Aber auch die Kindertaufe nannte er teuflisch, er leugnete die Erbsünde und behauptete, dass Christus nicht der ewige Sohn Gottes sei, sondern ein menschliches Wesen, das vergöttlicht wurde. Servet hat eine harsche Korrespondenz mit Johannes Calvin in Genf geführt. Dieser war über Servets Glaubensüberzeugungen so entsetzt, dass er keine Gewissensbisse hatte, die katholische Inquisition gegen den Spanier aufzubringen. Als Servet sich schließlich nach Genf begab, wurde er verurteilt und als Ketzer verbrannt, obwohl Calvin der Meinung war, dass die Hinrichtung durch das Schwert genügt hätte.

Servets Fall erschütterte ganz Europa. Obwohl er ein Gelehrter und ausgezeichneter Intellektueller war, wurde er vom katholischen Klerus als jemand betrachtet, der die Grenzen überschritten hatte, ebenso von allen reformierten Städten in der Schweiz. Nicht einmal der Apostel der Toleranz, Sebastian Castellio, setzte sich für ihn ein. Sein oben erwähnter Traktat wurde erst nach der Hinrichtung in Genf geschrieben, Servet wurde darin aber mit keinem Wort erwähnt. Castellio gab zu, dass er Servets Bücher niemals gelesen habe, aber bestand darauf, dass wenn dieser ein Gotteslästerer gewesen sei, den Tod verdient habe. Erst später, in seiner Wiederlegung der Defensio fidei orthodoxae Calvins (1554), beschrieb er Servet als einen Zweifler statt als einen Zerstörer der wahren Religion. Doch dieser Traktat wurde erst im frühen 17. Jahrhundert zum Druck gebracht. Inzwischen war der Vorwurf der Häresie dem Vorwurf der Zauberei und Hexerei gewichen, wie sie von Katholiken wie Protestanten gleichermaßen verfolgt wurden, wenn auch in unterschiedlicher Intensität. Die Gleichsetzung von Hexerei und Ketzerei war jedoch nicht korrekt. Hexen und andere Gestalten abweichenden Verhaltens waren die Opfer einer kollektiven gesellschaftlichen Stigmatisierung: ihr Verhalten und nicht ihre Glaubensüberzeugung zählte. Häretiker dagegen waren Abweichler aus eigenem Entschluss, auch wenn in den meisten Fällen die praktischen Konsequenzen ihrer Glaubensüberzeugungen und nicht die Überzeugungen selbst zu deren Verfolgung führten.

Literatur (Auswahl)

Roland H. Bainton, Michael Servet 1511–1553, Göttingen 1960. - Uwe Birnstein, Toleranz und Scheiterhaufen. Das Leben des Michael Servet, Göttingen 2013. - Johannes Brenz, Werke, hg. von M. Brecht und G. Schäfer, Tübingen 1970 ff. - Mark U. Edwards, Jr, Luther and the False Brethren, Stanford, CA, 1975. - Jerome Friedman, Michael Servetus: A Case Study in Total Heresy, Genf 1978. - Hans-Jürgen Goertz, Die Täufer. Geschichte und Deutung, 2. Aufl., München 1988. - Bruce Gordon, The Swiss Reformation, Manchester/New York, 2002. - Bruce Gordon, Calvin, New Haven, CT und London 2009. - Hans R. Guggisberg, Sebastian Castellio. Humanist und Verteidiger der religiösen Toleranz, Göttingen 1997. - Balthasar Hubmaier, Von Ketzern und ihren Verbrennern, in: Quellen zur Geschichte der Täufer, Bd. IX, hg. von Gunnar Westin und Torsten Bergsten, Gütersloh 1962, 95–100. - John S. Oyer, Lutheran Reformers against Anabaptists. Luther, Melanchthon, and Menius and the Anabaptists of Central Germany, Den Haag 1964. - Tom Scott, The Problem of Heresy in the German Reformation, in: Ders., The Early Reformation in Germany between Secular Impact and Radical Vision, Farnham/Burlington, VT, 2013, 185–202. - Gottfried Seebaß, An sint persequendi haeretici? Die Stellung des Johannes Brenz zur Verfolgung und Bestrafung der Täufer, in: Blätter für württembergische Kirchengeschichte 70, 1970, 40–99. - Ders., Luthers Stellung zur Verfolgung der Täufer und ihre Bedeutung für den deutschen Protestantismus, in: Mennonitische Geschichtsblätter 1983, 7–24. - Michael Servetus, De Trinitate erroribus libri septem, Frankfurt/M. 1965.

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