Frühbürgerliche Revolution

1. Entstehung und Entwicklung der Theorie der frühbürgerlichen Revolution

Mit dem Konzept einer „deutschen frühbürgerlichen Revolution“ interpretieren marxistische Historiker →Reformation und →Bauernkrieg als sich wechselseitig beeinflussende historische Ereignisse, als revolutionären Prozess, der systemsprengende Wirkungen anzeigt. Die Genese des Konzepts führt zu Friedrich Engels zurück, der mit seiner zwischen 1843 und 1893 wiederholt verwendeten Terminologie die spätere Begriffsbildung beeinflusste.

Alfred Meusel urteilte 1952: „Tatsächlich besteht zwischen der Reformation und dem Bauernkrieg der denkbar engste Zusammenhang – nicht etwa in dem Sinne, dass die Reformation die ‚Ursache' des Bauernkrieges ist, sondern in dem, dass die beiden Ereignisse zwei Etappen innerhalb ein und derselben Bewegung bilden. In den Jahren 1517 bis 1525 erlebt das deutsche Volk seine frühbürgerliche Revolution“ (Alfred Meusel, Thomas Münzer und seine Zeit, 41). Der Terminus wurde in der Fachliteratur zunächst ohne eine nähere Begründung übernommen. Erst als sowjetische Historiker 1956 eine Debatte über Charakter und historischen Standort von Reformation und Bauernkrieg begannen, wurde versucht, ihn inhaltlich genauer zu bestimmen. Das Signal gaben Thesen, die Max Steinmetz und seine Mitarbeiter 1960 vorlegten. Sie wurden seitdem eingehend diskutiert und das Konzept im Ergebnis innermarxistischer Debatten, beeinflusst von internationalen Reaktionen, erheblich variiert.

Wenn ursprünglich hinsichtlich der Periodisierung vorgeschlagen wurde, das Revolutionsgeschehen von 1476 bis 1535 zu datieren, also vom Auftreten Hans Böheims, des „Pfeifers von Niklashausen“ im Taubertal, bis zur Täuferherrschaft in Münster und ihrer Niederwerfung, wurde dieses bald auf die Jahre 1517 bis 1525 eingegrenzt, also auf die Reformations- und Bauernkriegszeit im engeren Sinn. Aber auch die inhaltlichen Charakteristika erfuhren erhebliche Wandlungen. Anfangs wurde als Ursache des Revolutionsprozesses eine gesamtnationale Krise genannt, später eine gesamtgesellschaftliche Krise. Aufgegeben wurde die Auffassung, die hauptsächliche Aufgabe dieser Revolution sei „die Herstellung eines einheitlichen Deutschland und die Beseitigung alles dessen, was der Einheit der werdenden Nation entgegenstand“, gewesen, stattdessen der Lösung ökonomischer und sozialer Probleme am Beginn der Übergangsepoche zu einer bürgerlich-kapitalistischen Ordnung der Vorrang gegeben. In politischer Hinsicht sei es nicht um eine grundsätzliche Veränderung der Machtverhältnisse gegangen, sondern um die Veränderung des Kräfteverhältnisses zugunsten bürgerlicher Schichten. Über die Folgen hieß es in den Thesen, das „Klassenbündnis der Reaktion“ habe über die Ritterschaft, die Bauern und Städter und über die Täufer gesiegt.

2. Ergebnisse der Diskussion um das frühbürgerliche Revolutionskonzept

Im Ergebnis der langjährigen Diskussionen kann die inhaltliche Bestimmung der Begrifflichkeit wie folgt beschrieben werden: Die Charakterisierung von Reformation und Bauernkrieg als Revolution ist keine Erfindung der marxistischen Geschichtswissenschaft. Seit dem 19. Jahrhundert wurden beide Ereigniskomplexe wiederholt mit dem Revolutionsbegriff bedacht. Im Unterschied zu den älteren Traditionen werden jedoch die Wechselbeziehungen zwischen beiden Prozessen betont: Argumentation mit dem „göttlichen Recht“; Rezeption des reformatorischen Gemeindeprinzips, des Schlagworts von der „christlichen Freiheit“ und der Gleichheit aller Menschen vor Gott; Aufnahme reformatorischer Forderungen in die Artikel der Dorfgemeinden und Stimulierung städtischer Bewegungen unter dem Eindruck und Einfluss bäuerlicher Erhebungen. Da von Reformation und Bauernkrieg systemsprengende Wirkungen ausgingen, wird ihnen Revolutionsqualität zugesprochen, denn die tradierte kirchliche und weltliche Ordnung wurde partiell infrage gestellt und programmatisch wie realiter der Versuch unternommen, die gesellschaftlichen Beziehungen und die sie absichernde kirchliche und weltliche Ordnung neu zu gestalten.

Mit der Charakterisierung dieser Revolution als bürgerlich ist beabsichtigt, den Revolutionsbegriff sozial zu profilieren: Die gesellschaftlichen Prozesse und Konflikte verweisen tendenziell auf die Notwendigkeit, den Weg zu einer bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft zu öffnen. Damit wird respektiert, dass in der frühen Phase der Reformation überwiegend städtische Schichten reformatorische Lehren und Forderungen rezipierten und in vielen Kommunen praktische Konsequenzen daraus gezogen wurden. In der Phase des Bauernkriegs setzte dieser Prozess sich fort, indem nun neben städtischen Schichten der „gemeine Mann“ in den Dorfgemeinden aktiv wurde und die soziale Basis der revolutionären Bewegung sich verbreiterte. Im Ergebnis erfolgte in verschiedenen Regionen des Reichs eine Verbürgerlichung des Kirchenwesens und eine Ausweitung des Einflusses der Gemeinden (Respektierung der Normen des Evangeliums, Einschränkung des Geltungsbereichs geistlichen Rechts, Beseitigung des privilegierten Status der Geistlichkeit, Aufhebung von Klöstern und Säkularisierung geistlichen Besitzes, Ausweitung der Berechtigungen von Dorf- und Stadtgemeinden, soziale Entlastung und politische Partizipation des „gemeinen Mannes“).

Die Charakterisierung als frühe Form einer bürgerlichen Revolution berücksichtigt die – im Vergleich mit späteren Revolutionen – spezifischen Bedingungen: Zum einen existierte noch keine säkularisierte Gesellschaft, so dass die Bewegungen die religiösen Grundlagen der Gesellschaft und die Dominanz des Kirchenwesens respektieren mussten. Zum anderen handelte es sich um den Beginn des Transformationsprozesses von der feudalen zur bürgerlichen Gesellschaft, was Problemlösungen noch limitierte. Insofern war es eine „Auftaktrevolution“, die eine erste Phase im Übergang zu einer neuen Ordnung anzeigte.

3. Im Gespräch mit Reformations-, Bauernkriegs- und Täuferforschung

Das Konzept wurde von nichtmarxistischen Historikern zuerst ignoriert oder ohne Diskussion zurückgewiesen, schließlich aber als Herausforderung angenommen, um über Gegenkonzepte nachzudenken: zum Beispiel Reformation und Bauernkrieg als „neue Dimension eines gesamtgesellschaftlich wirksamen Konflikts“ (Winfried Schulze), „Revolution des gemeinen Mannes“ (Peter Blickle), „Systemkonflikt des ‚gemeinen Mannes' in Stadt und Land mit seiner Herrschaft“ (Rainer Wohlfeil).

Die Debatte wurde nach der „Wende“ von 1989 nicht weitergeführt, aber Fragen sind damit nicht erledigt. So legt zum Beispiel der Terminus „Early modern revolutions“ die Frage nahe, ob es einen eigenständigen Typ frühneuzeitlicher Revolutionen gibt, die (fast) immer von Reformationen begleitet wurden (im Reich – lutherisch geprägte Reformation, in den Niederlanden – Calvinismus, in England – Puritanismus). Insofern waren alternative Gesellschaftsvorstellungen religiös geprägt, wurden egalitäre Ansprüche mit dem Evangelium motiviert, hegten Endzeiterwartungen die Hoffnung auf eine neue „Welt“, und auch das Widerstandsrecht fand im Evangelium seine Legitimation.

Da auch die →Täufer und die Täuferherrschaft in →Münster – wenn auch nur am Rand – in dem Konzept eine Rolle spielten, wurde mit der Debatte auch das Interesse marxistischer Historiker an der Täufergeschichte geweckt, zumal Autoren seit dem 16. Jahrhundert in Thomas →Müntzer einen der Väter des Täufertums sahen. Das dokumentieren zuerst die Beiträge von Gerhard Zschäbitz Zur mitteldeutschen Wiedertäuferbewegung nach dem großen Bauernkrieg (1958) und Gerhard Brendler Das Täuferreich zu Münster 1534/35 (1966). Die →Täuferforschung insgesamt wurde nur gelegentlich von Fragestellungen, die in der „Theorie der frühbürgerlichen Revolution“ eine Rolle spielten, berührt. Unter direktem Einfluss der marxistischen Geschichtsschreibung allgemein stand Albert F. →Mellink mit seiner Untersuchung zum niederländischen Täufertum (De Wederdopers in de Noordelijke Nederlanden 1531–1544, Groningen 1953; 1954; Leeuwarden 1981); Anregungen wurden aber hier und da von der sogenannten revisionistischen Täuferforschung aufgenommen, die sich mehr als bisher um die soziale und wirtschaftliche Verankerung der täuferischen Bewegungen, ihrer Herrschaftskritik und radikalen Theologie, bemühte. Die neue Deutung der „Radikalität der Reformation“ (James M. Stayer und Hans-Jürgen Goertz (Hg.), Radikalität und Dissent, 2002) wäre ohne die Gesprächsnähe zu marxistischen Historikern in der Deutschen Demokratischen Republik nicht auf den Weg gebracht worden.

Literatur (Auswahl)

Alfred Meusel, Thomas Müntzer und seine Zeit, Berlin 1952. - Max Steinmetz, Die frühbürgerliche Revolution in Deutschland (1476–1535). Thesen, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 8, 1960, 114–124. - Rainer Wohlfeil (Hg.), Reformation oder frühbürgerliche Revolution, München 1972. - Josef Foschepoth, Reformation und Bauernkrieg im Geschichtsbild der DDR. Zur Methodologie eines gewandelten Geschichtsverständnisses. Berlin 1976. Rainer Wohlfeil, Einführung in die Geschichte der deutschen Reformation, München 1982, 174–199. Hans-Jürgen Goertz, Pfaffenhaß und groß Geschrei. Die reformatorischen Bewegungen in Deutschland 1517–1529, München 1987. - Peter Blickle, Die Revolution von 1525. 3., erweit. Aufl., München 1993, 280–288. - James M. Stayer und Hans-Jürgen Goertz (Hg.), Radikalität und Dissent im 16. Jahrhundert (Radicalism and Dissent in the Sixteenth Century), Berlin 2002. - Günter Vogler, Das Konzept „deutsche frühbürgerliche Revolution“. Genese – Aspekte – kritische Bilanz, in: Ders., Signaturen einer Epoche. Beiträge zur Geschichte der frühen Neuzeit, hg. von Marion Dammaschke, Berlin 2012, 59–88. - Ders., Revolte oder Revolution? Anmerkungen und Fragen zum Revolutionsproblem in der frühen Neuzeit, in: Ebenda, 89–121.

Günter Vogler

 
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