Tradition

1. Gespaltene Einstellung zur Tradition

Das Konzept der „Tradition“ ist ebenso kontrovers, umstritten und verwirrend, wie es für die Logik des Denkens und der Praxis in der Gegenwart zentral ist. Es gibt nur wenige Kategorien, die so starke Reaktionen hervorrufen. Tradition wird sowohl geliebt als auch gehasst. Manchmal sind es dieselben Menschen, die sie lieben und hassen. Gelegentlich wird in der Tradition eine Schlüsselkategorie gesehen, die vor der Bedrohung durch den Individualismus etwa genauso bewahrt werden muss wie vor der Gefahr, die für sie von der Säkularisierung ausgeht. Gelegentlich wird sie auch als ein größeres Hindernis auf dem Weg zu Frieden und Gerechtigkeit wahrgenommen, das ein für alle Mal überwunden werden muss. Die Unterscheidung zwischen Konservativen und Liberalen wird oft im Hinblick auf die Haltung getroffen, die sie gegenüber der Tradition einnehmen. Konservative gelten als traditionell eingestellt und Liberale als traditionskritisch. So ist die Einstellung zur Tradition gespalten. Allerdings gibt es nur wenige, die keine feste Meinung – so oder so – über die Bedeutung der Tradition hätten. Das Konzept der Tradition wird häufig bemüht, wenn es darum geht, einen breiten, methodologisch kontrollierten Zugang zum Wesen unserer Welt zu suchen. Dennoch ist Tradition ein recht verschwommener Begriff und lässt sich kaum so bestimmen, dass sich alle darauf einigen könnten. Das kann gelegentlich zu starken Irritationen führen.

2. Kontraste: Schrift und Tradition, Tradition und Vernunft

Diese Irritationen können teilweise damit erklärt werden, dass die bestimmte Bedeutung des Konzeptes von Tradition je nach dem besonderen Kontext, in dem es eingesetzt wird, wechselt. Um es mit dem Philosophen Ludwig Wittgenstein zu sagen, spielt das Wort „Tradition“ eine Schlüsselrolle in ganz unterschiedlichen „Sprachspielen“. Weil diese Sprachspiele verschieden sind, wechselt auch der Sinn dieses Wortes. Bedeutsam sind in dieser Hinsicht zwei Kontrastpaare, in denen Tradition einem jeweils anderen Schlüsselbegriff entgegengesetzt wird. Zunächst ist es der Gegensatz von Schrift und Tradition. Das ist eine Kurzformel für ein Problem, das sich in der Reformation des 16. Jahrhunderts stellte, und sie wird immer noch genutzt, um die protestantischen und katholischen Formen des Christentums voneinander zu unterscheiden. Protestanten neigen dazu, den Unterschied zwischen Schrift und Tradition zu betonen, wie es sich in der allgemeinen Losung von der „sola scriptura“ widerspiegelt. Hier bezieht sich Tradition auf die menschlichen Bemühungen, das Wort Gottes, das in der Heiligen Schrift enthalten ist, zu interpretieren, zu umschreiben und auf andere Weise zum Ausdruck zu bringen. Da menschliche Bemühungen aber dem Irrtum unterworfen und mit verschiedenen Formen der Sünde verbunden sind, wird Tradition als eine Kraft verstanden, die den Glauben, wie er in der Heiligen Schrift verstanden wird, zerstört. So ist es nicht unfair zu sagen, dass Tradition als ein Feind oder zumindest als eine erhebliche Bedrohung für den christlichen Glauben angesehen wird.

Ein anderes Traditionsverständnis kommt im zweiten Kontrast zum Ausdruck, nämlich in der Unterscheidung von Vernunft und Tradition. In diesem Zusammenhang bezieht sich Tradition weniger auf ein besonderes menschliches Versagen als auf das Unvermögen des Menschen schlechthin. Wie im Falle des Gegensatzes von Schrift und Tradition neigen auch diejenigen, die den Unterschied zwischen Vernunft und Tradition betonen, dazu, in der Tradition ein Problem zu sehen, das überwunden werden muss. Was aber in diesem Fall überwunden werden muss, ist nicht die Neigung des Menschen, sich von Gott abzuwenden und sich auf sich selbst zu beziehen, sondern die problematische Neigung, sich auf eine Vorstellung von Gott zu verlassen und auf diese Weise zu versäumen, ausgesprochen menschliches Potential zu verwirklichen. So ähnlich wird das mit dem Begriff des „aufgeklärten Humanismus“ zum Ausdruck gebracht, der das Ziel verfolgt, der engen, stagnierenden oder sonst wie einschränkenden Abhängigkeit von den verderblichen Quellen der Tradition zu entkommen. In diesem Zusammenhang wird die Berufung auf die Tradition als eine unbedachte Wiederholung der Vergangenheit verstanden, als ein Impuls, der oft als dunkel und bedrückend beschrieben wird. Dagegen wird die Verheißung der Aufklärung mit dem menschlichen Vermögen identifiziert, besonders mit der unbegrenzten Fähigkeit, von seiner Vernunft Gebrauch zu machen. Das Konzept der Tradition ist sehr eng mit Religion verknüpft und wird mit der profanen Kategorie der Vernunft kontrastiert.

Um zur Metapher der Sprachspiele zurückzulenken: Tradition spielt in unterschiedlichen methodischen Denkbewegungen eine Rolle. Anstatt Tradition wegen ihrer Verbindung mit bestimmten menschlichen Leistungen zurückzuweisen, sind wir hier aufgefordert, eher mehr menschlichen Einsatz zu fördern und Tradition zugunsten der Vernunft aufzugeben. Einst als Bedrohung des Glaubens angesehen, wird Tradition jetzt als ein Symbol des Glaubens betrachtet, als ein Überbleibsel aus einer Zeit, in der Menschen sich auf den Glauben verließen, um sich in einer komplexen Welt zurechtfinden zu können. So wird nahegelegt, einen im Wesentlichen irrationalen Glauben und eine ihn stützende Tradition auf der Suche nach Vernunft und einem umfassenderen und freieren Sinn für Menschlichkeit aufzugeben.

3. Ambivalentes Traditionsverständnis der Mennoniten

Im Licht dieser beiden unterschiedlichen Kontexte, in denen die Tradition eine bedeutsame Rolle spielt, wundert es nicht, dass sie soviel Verwirrung stiftet. Wie im akademischen Diskurs der Gegenwart allgemein ist diese Irritation auch in der Welt der Mennoniten zu beobachten. Mennoniten werden oft als ein Beispiel jener Kirchen angesehen, in denen das protestantische Schriftprinzip gegen die Tradition zum Zuge kommt. Gleichzeitig werden die Mennoniten als ein Beispiel für diejenigen erwähnt, die sich einer eher traditionellen Art zu leben verpflichtet haben, als eine Welt, die sich dem säkularen Humanismus widersetzt. Vielleicht ist diese Zweideutigkeit der Grund dafür, dass die zeitgenössischen mennonitischen Theologen dazu neigen, das Konzept der Tradition größtenteils mit Schweigen zu übergehen. Sicherlich gibt es Diskussionen darüber, wie mennonitische Theologie in Beziehung zur sogenannten christlichen Tradition zu verstehen sei. Das bekannteste Beispiel dafür ist der lang anhaltende Austausch zwischen A. James →Reimer und J. Denny Weaver über die Frage, wie Mennoniten den Status der klassischen christlichen Glaubensbekenntnisse bzw. der Dogmenbildung verstehen sollten. Wie Weaver es sieht, bedeuten die zentralen Grundforderungen mennonitischer Theologie, die er als praktische oder politische Forderungen beschreiben würde, einen tiefen Bruch mit der eher theoretisch oder metaphysisch orientierten Tradition des orthodoxen Christentums, wie sie sich seiner Meinung nach in den klassischen Glaubensbekenntnissen widerspiegelt. Trotz solcher Argumente über das Wesen und den Wert der „Tradition“ haben mennonitische Theologen nicht die Neigung verspürt, das Traditionsverständnis in den Mittelpunkt ihrer Arbeit explizit und voll entwickelt zu rücken.

Allerdings haben Mennoniten gelegentlich andere Theologen angeregt, viel Energie darauf zu verwenden, über das Traditionsverständnis nachzudenken. Das bekannteste Beispiel ist Stanley Hauerwas, der zahlreiche ausgesprochen mennonitische Aussagen über Christus, die Kirche und die Botschaft des Friedens gegen Kritik in Schutz nimmt, wenn er sich im Anschluss auf Alasdair MacIntyres Versuch darauf einlässt, das Konzept der Tradition gegen einige der Standartauffassungen von Tradition zu rehabilitieren, von denen oben gesprochen wurde. Hauerwas nimmt sich des Traditionskonzepts als einer Alternative zum „universalen“ Anspruch der Vernunft oder den Erfahrungen an, wie sie für den theologischen Liberalismus kennzeichnend sind. Sein Traditionsverständnis ist ein Aspekt seiner Vorstellung von Kirche als einer politischen Körperschaft. Christentum ist die Geschichte eines Volkes, das aus der Welt herausgerufen und die Wahrheit Christi empfangen hat. Unter anderem bezeichnet „Tradition“ die fortwährende Aufgabe, sich zu bemühen, diesem Ruf in konkreten sozialen und historischen Verhältnissen einen Sinn zu verleihen. Wie Hauerwas es selbst sagt: „Obwohl sich Revolutionen ohne Tradition ereignen können, ist Politik von Tradition abhängig, denn Politik ist nichts anderes als das Gespräch einer Gemeinde mit sich selbst, über die verschiedenen Möglichkeiten ihr Leben zu verstehen und zu erweitern.“ Tatsächlich kann die Diskussion, die notwendig ist, um die Tradition zu bewahren, als ein Selbstzweck betrachtet werden, sofern es die Mittel für die Gemeinde bereitstellt, die Werte zu entdecken, die allen, die zu ihr gehören, gemeinsam sind. Ohne die Autorität der Tradition, eine solche Diskussion zu führen, gäbe es keine Möglichkeit für die Gemeinde, der Wahrheit über sich selbst und über die Welt näher zu kommen“ (Stanley Hauerwas, A Community of Character, 61).

Ebenso muss in dieser Beziehung Jeffrey Stout genannt werden, der meint, dass der Versuch, mennonitische Theologie mit der Abhandlung MacIntyres über Tradition zu verbinden, problematisch sei. Stout weist darauf hin, dass der mennonitische Theologe John Howard →Yoder sich in genau den Aspekten von Hauerwas und MacIntyre unterscheidet, die am engsten mit ihrer Berufung auf Tradition verknüpft sind. Um es kurz zu sagen, Stount meint, Yoders Theologie sei beweglicher, flüssiger, verwundbarer und aufgeschlossener für die Welt der anderen als der „neue traditionalistische“ Ansatz, wie er mit Hauerwas und MacIntyre in Verbindung gebracht wird. Nach Stout ist die „neue traditionalistische“ Berufung auf die Tradition von einem Wunsch geleitet, sich die Identität gegen die Bedrohung durch radikales Anderssein zu bewahren und zu behaupten. Er verweist auf die freundlichere Einstellung Yoders gegenüber einem radikalen Anderssein und führt das auf die Tatsache zurück, zumindest implizit, dass Tradition nicht als eine zentrale Kategorie in seinem Werk wirksam sei.

Aus all dem ist zu schließen, dass Mennoniten in einem zweideutigen Verhältnis zur Tradition stehen. Einige mögen darin ein Problem sehen. Vielleicht ist es aber angemessen, dass Mennoniten keine bewusst definierte Position zum Wert der Tradition als solcher entwickelt haben. Auf der einen Seite sind sie argwöhnisch gegenüber den verschiedenen Weisen, wie Tradition als ein Machtinstrument und ein Werkzeug, mit dem andere ausgeschlossen werden können, genutzt wurde, eine Weise, mit der Kontrolle über den Frieden Christi ausgeübt werden konnte. Auf der anderen Seite bleiben Mennoniten der Nachfolge Christi verpflichtet, in dem Glauben zu handeln und zu arbeiten, den sie als Gabe Gottes ererbt haben. In der Tat, Mennoniten behaupten, dass diese beiden Forderungen sich gegenseitig einschließen. So könnte die mennonitische Ambivalenz gegenüber der Tradition tatsächlich als eine der Schlüsseldefinitionen ihres Glaubens verstanden werden.

Bibliografie (Auswahl)

Stanley Hauerwas, A Community of Character: Toward a Constructive Christian Social Ethic, Notre Dame, Ind., 1981. - Ders., Casuistry in Context: The Need for Tradition, in: The Hauerwas Reader, hg. von John Berkman and Michael Cartwright, Durham, NC, 2001. - Harry Huebner, Imagination/Tradition: Disjunction or Conjunction?, in: Echoes of the Word: Theological Ethics as Rhetorical Practice, Kitchener, ON, 2005. - Alasdair MacIntyre, Three Rival Versions of Moral Enquiry: Encyclopaedia, Genealogy, and Tradition, Notre Dame, Ind., 1990. - A. James Reimer, The Nature and Possibility of a Mennonite Theology, in: ders., Mennonites and Classical Theology: Dogmatic Foundations for Christian Ethics, Kitchener, ON, 2001, 161–181. - Ders., Theological Method, Modernity, and the Role of Tradition, in: ders., Mennonites and Classical Theology: Dogmatic Foundations for Christian Ethics, Kitchener, ON, 2001, 21–35. - Ders., Trinitarian Orthodoxy, Constantinianism, and Radical Protestant Theology, in: ders., Mennonites and Classical Theology: Dogmatic Foundations for Christian Ethics, Kitchener, ON, 2001, 247–271. - Jeffrey Stout, Democracy and Tradition, Princeton 2004. - J. Denny Weaver, Perspectives on a Mennonite Theology, in: Conrad Grebel Review 2, 3, 1984, 189–210. - John Howard Yoder, The Priestly Kingdom: Social Ethics as Gospel., Notre Dame, Ind., 1984. bes. The Authority of Tradition, 63–79.

Chris K. Huebner

 
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