Hildebrandt, Gerhard

geb. am 23. März 1919 in Hierschau, Molotschnaja (Ukraine), Russland, gest. am 30. April 2007 in Göttingen (Beisetzung auf dem Mennonitenfriedhof in Hamburg- Altona am 15. Mai 2007); Lektor und Dozent am Seminar für Slawistik der Universität Göttingen, Prediger und Ältester, Vorsitzender der Vereinigung der Deutschen Mennonitengemeinden.

Gerhard Hildebrandt wuchs mit vier Geschwistern in einer bäuerlichen, mennonitischen Familie in der Südukraine auf. Nach zehn Jahren unbeschwerter Kindheit, in welcher den Kindern trotz der bolschewistischen Herrschaft die Geborgenheit im Elternhaus noch bewahrt bleiben konnte, wurde ab 1929 das Leben der Familie durch politischen Druck, Enteignung, Vertreibung von Haus und Hof, Hungersnot und Verbannung schwer belastet. In den Wäldern Nordrusslands musste die Familie bei härtester Arbeit große Not erleiden. Trotz dieser beschwerlichen Umstände gelang es G. Hildebrandt, seine Schulbildung zu erweitern und sich danach als „Fernstudent“ an einem pädagogischen Technikum für den Schuldienst ausbilden zu lassen. Seine erste Anstellung als Deutschlehrer erhielt er an einer dörflichen Oberschule in Susdal (nordöstlich von Moskau), dort war er das jüngste Mitglied im Lehrerkollegium; seine Schüler in der Oberklasse waren kaum jünger als er.

Nach dem Ausbruch des Krieges zwischen Deutschland und der Sowjetunion wurde er im Spätsommer 1941 Dolmetscher in der deutschen Wehrmacht. Wie er sich später erinnerte, war er aufgrund seiner sprachlichen Verständigungsmöglichkeiten mit der russischen bzw. ukrainischen Bevölkerung in der Lage, „manches Unheil abzuwehren“. Beim Rückzug der deutschen Truppen nach Westdeutschland geriet er in englische Gefangenschaft. Nach Kriegsende konnte er an einer württembergischen Schule eine Stelle als Grundschullehrer antreten und ein Jahr später dort als Hauptschullehrer arbeiten.

1947 nahm Gerhard Hildebrandt das Studium der Slawistik, der Osteuropäischen Geschichte und der Evangelischen Theologie an der Universität in Göttingen auf. Mit einer von Maximilian Braun betreuten Dissertation über den russischen Protopopen Avvakum (1620 – 1682) wurde er im Frühjahr 1956 promoviert und im darauffolgenden Sommersemester als Lektor für russische Sprache an der Universität Göttingen angestellt. Er erteilte dort nicht nur russischen Sprachunterricht, sondern war später, als Akademischer Oberrat, auch für die Organisation der Einführungskurse in die russische Sprache, sowie für den Unterricht in russischer Landeskunde, Osteuropäischer Geschichte und Literatur verantwortlich. Alle Lehrveranstaltungen hielt er in russischer Sprache ab.

Bereits während seiner ersten Studienjahre hatte Gerhard Hildebrandt dem Ältesten der Göttinger Mennonitengemeinde, Ernst →Crous, geholfen, die im weiteren Umkreis verstreut lebenden mennonitischen Flüchtlinge zu betreuen. 1951 wurde er zum Prediger gewählt und 1957 zum Ältesten ordiniert. Seine Gemeinde erstreckte sich von Bebra im Süden über Bielefeld und Detmold im Westen bis Peine-Braunschweig und Salzgitter im Osten. Aus der Gemeindegruppe in Bielefeld entwickelte sich später, durch Gerhard Hildebrandts Initiative, unterstützt von den westpreußischen Familien Wilhelm Wiebe und Lothar Hein, die Gemeinde in Bechterdissen (→Bielefeld und Umgebung), welche zahlreichen westpreußischen und russländischen Mennoniten zur neuen geistlichen Heimat wurde.

Unermüdlich war Gerhard Hildebrandt neben seinen beruflichen und privaten Verpflichtungen – er heiratete und wurde vierfacher Familienvater – für seine Gemeindegruppen tätig, die teilweise nur unter schwierigen Bedingungen zusammenkommen bzw. in unzureichend ausgestatteten Räumen ihre Andachten abhalten konnten.

Die Predigten, die Gerhard Hildebrandt in seinen Gemeindegruppen hielt, waren in einer Frömmigkeitssprache gehalten, welche die Spiritualität des westpreußisch-russländischen Laienpredigertums der Mennoniten neu belebte. Er orientierte sich dabei an Vorbildern wie Bernhard →Kopper, Albert →Bartel, vor allem aber an seinem Großvater, dem russländischen Bauern und Prediger Gerhard Plett. So wurde er mit seiner schlichten, exegetisch solide erarbeiteten Predigtweise das gute Beispiel eines theologisch ausgebildeten „mennonitischen Laienpredigers“ nach dem Zweiten Weltkrieg. Er hat die Gemeinde bis ins Jahr 2002 geleitet.

Mit seiner Frau Julia, geb. van Delden, die einer Emder Mennonitenfamilie entstammt und damit ein eher liberales, städtisches Mennonitentum vertrat – sie hat in Göttingen Germanistik, Romanistik und Evangelische Theologie studiert -, öffnete Gerhard Hildebrandt sein Haus für Zusammenkünfte mit mennonitischen Studenten, denen die Gesprächs- und Leseabende dort zu einem nachhaltigen Erlebnis wurden: mit Studierenden aus Süd- und Norddeutschland, aus der Pfalz, Kanada und Paraguay, später auch aus den USA. Hier wurde Bibelarbeit betrieben, über theologische und literarische Neuerscheinungen diskutiert, auch über Probleme des Studiums und der kulturellen Angebote. Ebenso wurde das Mennonitentum selbst zum Gegenstand der Gespräche: Wie müssen die mennonitischen Gemeinden sich entwickeln, um Menschen in ihren veränderten Lebensräumen Orientierungen zu bieten?

Bald wurde Gerhard Hildebrandt zu einem wichtigen Berater im Vorstand der →Vereinigung der deutschen Mennonitengemeinden; 1978 wurde ihm der Vorsitz der Vereinigung offiziell übertragen, dessen Aufgabe er aber vertretungsweise schon seit 1976 wahrgenommen hatte. Hier sah er seine Aufgabe vor allem darin, sich mit seinen besonderen Erfahrungen und Kenntnissen von den unterschiedlichen Frömmigkeitstraditionen innerhalb des Mennonitentums für einen Zusammenschluss der Mennoniten in Deutschland einzusetzen. Gemeinsam mit Adolf →Schnebele suchte er nach Wegen, auf denen die Gemeinden der Vereinigung und des →Verbandes der Deutschen Mennoniten einander näher kommen könnten. Damit wurden dem Entwicklungsprozess beider Richtungen Impulse vermittelt, die später zur Gründung der →Arbeitsgemeinschaft Mennonitischer Gemeinden in Deutschland (AMG) führten.

Besonders bemühte sich G. Hildebrandt, die russlandmennonitischen Umsiedler für den Gedanken eines Zusammenschlusses der Mennonitengemeinden in Deutschland zu gewinnen. Von seiner eigenen „mennonitischen Entwicklung“ her schien ihm gerade für die Russlandmennoniten in ihrem neuen Land ein solches Ziel erstrebenswert und erreichbar zu sein. Doch bei zunehmender Ablehnung einiger Umsiedlergemeinden, mit den „Hiesigen“ in einem engen Gemeindeverbund zusammenzuleben, fühlte er sich schließlich bis an den Rand seiner Kräfte gefordert. Er legte den Vorsitz der Vereinigung daher 1986 nieder und konzentrierte seine nebenberufliche Arbeit nun vornehmlich auf den Verein zur Erforschung und Pflege des Kulturerbes des russlanddeutschen Mennonitentums, dessen Vorsitzender er war.

Dieser Verein, von G. Hildebrandt 1989 in Göttingen mitbegründet und von seiner Frau als Schriftführerin begleitet, trägt in seiner Mischung von altansässigen und aus Russland zugewanderten, auch kanadischen Mitgliedern dazu bei, dass die Traditionen der russländischen Mennoniten für diese selbst und ihre Nachkommen verständlicher gemacht werden, um sie zur Orientierung in der Gegenwart besser nutzen zu können. Die Ablösung G. Hildebrandts von der aktiven Mitarbeit im Verein fand im April 2005 statt, der Vorsitz ging auf Johannes Dyck, ebenfalls ein Gründungsmitglied, über. Diese weiterhin vielversprechende Arbeit wird fortgeführt.

Seit seiner Mitarbeit in diesem Verein wurde Gerhard Hildebrandt zu einem Historiker des Mennonitentums. Davon zeugen drei Veröffentlichungen: die von ihm und seiner Frau herausgegebenen Briefe von Männern und Frauen aus der Verbannung unter dem Titel Aber wo sollen wir hin (1998), dann 200 Jahre Mennoniten in Russland (2000), ein ebenfalls gemeinsam herausgegebener Sammelband, und schließlich der von G. Hildebrandt übersetzte und edierte Quellenband Die Mennoniten in der Ukraine und im Gebiet Orenburg (2006).

In seinen letzten Jahren arbeitete er an einer Geschichte der Mennoniten in Russland (1927 – 1941). Diese Arbeit konnte er nicht mehr abschließen, doch geblieben ist eine kürzere, eindrucksvolle und wegweisende Abhandlung, die er unter dem Titel Die Kolonisation am Beispiel der Mennoniten zu dem von Gerd Stricker herausgegebenen Sammelband Deutsche Geschichte im Osten Europas (1989) beisteuerte. Diese gut bebilderte Abhandlung stellt eine Skizze dessen dar, was Gerhard Hildebrandt als Alterswerk vorgeschwebt haben mochte.

Schriften

Protopop Avvakum in seinem Selbstverständnis, UniDiss Göttingen 1956. - Das Leben des Protopopen Avvakum, von ihm selbst niedergeschrieben, aus dem Altrussischen übersetzt und herausgegeben von Gerhard Hildebrandt, Göttingen 1965. - Von Zieselmäusen, Popen und Mennoniten (Interview mit Hans-Jürgen Goertz), in: Mennonitische Geschichtsblätter 1999, 141–156. - Die Kolonisation am Beispiel der Mennoniten, in: Gerd Stricker, Deutsche Geschichte im Osten Europas, Berlin 1989, 261–322. - Gemeinsam mit Julia Hildebrandt (Red.), 200 Jahre Mennoniten in Russland, hg. vom Verein zur Erforschung und Pflege des Kulturerbes der russlanddeutschen Mennoniten, Göttingen 2000. - Hg. im Auftrag des Göttinger Arbeitskreises, Die Mennoniten in der Ukraine und im Gebiet Orenburg. Dokumente aus Archiven in Kiev und Orenburg, Göttingen 2006.

Literatur

Hans-Jürgen Goertz, Gerhard Hildebrandt zum 80. Geburtstag, in: Mennonitische Geschichtsblätter 1999, 139 f. - Ders., Gerhard Hildebrandt 1919–2007, in: Mennonitische Geschichtsblätter 2007, 179–183. - Hans Adolf Hertzler, Dr. Gerhard Hildebrandt – 23. März 1919 bis 30. April 2007. Ein Nachruf, in: Die Brücke. Täuferisch-mennonitische Gemeindezeitschrift, 4, 2007, 38. - Peter Letkemann, In Memoriam: Gerhard Hildebrandt (1919–2007), in: Mennonite Historian, Winnipeg, Man., 2009, 5.

Hans-Jürgen Goertz und Julia Hildebrandt

 
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