Inhaltsverzeichnis

Balzer, Heinrich

geb. am 10. Juli 1800 bei Stuhm, Westpreußen, gest. am 1. Januar 1846 in Tiege (Südukraine) Russland; Prediger in der Kleinen Gemeinde in Ohrloff, Molotschnaja, Russland.

Heinrich Balzer war während der dreißiger Jahres des 19. Jahrhunderts Prediger in der →Kleinen Gemeinde in Ohrloff (Molotschnaja). 1818 war er höchstwahrscheinlich mit seiner Familie aus Westpreußen nach Russland eingewandert und in Tiege bei Ohrloff, einem aufstrebenden Dorf in der Gegend, sesshaft geworden, nachdem er wohl vorher geheiratet hatte. Am bekanntesten wurde er mit seiner 1833 geschriebenen Broschüre Verstand und Vernunft, die aber erst 1886/87 von J. G. Stauffer aus Quakertown, Pennsylvania, in Kirche unterm Kreuz veröffentlicht wurde. Die englischsprachige Welt der Mennoniten wurde 1948 auf diese Schrift durch den bekannten nordamerikanischen Historiker Robert →Friedmann aufmerksam gemacht, der sie übersetzt und unter dem Titel Faith and Reason in Mennonite Quarterly Review veröffentlicht hatte.

Vernunft war für Balzer das natürliche Vermögen des Menschen, sich einen eigenen Zugang zum Leben zu verschaffen. Im Gegensatz dazu stand die Art und Weise, wie Christen das Wort Gottes verstehen (Verstand) und das Leben im Gehorsam gegen Christus gestalten. Aus der Spannung zwischen gläubigem Verstehen und ungläubiger Vernunft ergab sich die Spannung zwischen Christen und Welt und der Vorsatz Balzers, vor modernistischen Entwicklungen in der Kirche zu warnen und sich der Anpassung an die Welt zu widersetzen. Die Beschäftigung mit dieser Schrift wirft ein bezeichnendes Licht auf die Zwei-Reiche-Lehre voraus, in der Friedmann später das Kernstück täuferischer Theologie selbst zu erkennen glaubte.

Balzer war der Sohn des Predigers Heinrich Balzer sen. (1773–1842), der in der frommen friesischen Gemeinde bei Danzig 1800 ordiniert worden war und später die Auswanderung westpreußischer Mennoniten nach Russland organisiert hatte. Über Balzer jun. ist nur bekannt, dass er in jungen Jahren in der friesischen Mennonitengemeinde der Molotschnaja zum Predigdienst eingesetzt wurde. Nach aufwühlendem geistlichem Ringen, das nach eigenen Worten zwei Jahre währte, verließ er seine alte Kirche und schloss sich 1833 der Kleinen Gemeinde an. Er schrieb von einem heftigen persönlichen Kampf zwischen Fleisch und Geist, einem Kampf, der erst beendet war, als Gott seinen Willen mit einem „starken Hammerschlag“ gebrochen hatte. In einem weitschweifigen Gedicht von vierhundert Zeilen erläuterte Balzer diese emotionale Trennung, indem er auf seine große Sorge über Geiz, Macht, das Streben nach „hochrangiger Stellung in der Welt“ und sogar Gewaltsamkeit zum Ausdruck brachte, die er in der alten Kirche beobachtete.

Wie andere Anführer der Kleinen Gemeinde vor ihm war Balzer von den Entwicklungen in der Molotschnaja tief betroffen, die das mennonitische Prinzip der Trennung von Kirche und Staat zu bedrohen schienen, ebenso die radikale Form der Gewaltlosigkeit und Einfachheit. Er widersetzte sich dem Tabakrauchen, einem frivolen und aufwendigen Lebensstil, schließlich auch körperlicher Züchtigung und Bestrafung mit Gefängnis, wie sie von mennonitischen Verwaltungsbehörden geübt worden waren.

Historiker haben Balzers Ideen unterschiedlich beurteilt. James Urry meinte, dass die Entdeckung der Schriften des fortschrittlichen süddeutschen Mennoniten Abraham Hunzinger Balzer allmählich dazu geführt habe, sich der Kleinen Gemeinde anzuschließen. Hunzinger forderte ein Ende der Regeln für die mennonitische Binnenheirat und den Militärdienst, das Ende des Banns und die Zustimmung zum besoldeten Predigtdienst. Balzer war zutiefst besorgt, dass die Säkularisation die mennonitische Gemeinde erfassen und schließlich zu ihrer Auflösung führen könnte. Er sah eine Entwicklung voraus, die mit dem „Streben nach größerem Reichtum“ und weltlicher Gelehrsamkeit begann, dann zu kultureller Bildung, einer säkularisierten Ethik und der Gemeinschaft mit „verweltlichen“ Christen, zur Verwicklung ins allgemeine Geschäftsleben und zur Übernahme obrigkeitlicher Ämter, schließlich auch zum Militärdienst führen würde. Delbert →Plett hat Balzers Widerstand gegen das Eindringen des Pietismus in die friesischen Gemeinden betont. Übereinstimmung besteht darin, dass Balzer sich der Kleinen Gemeinde anschloss, weil er davon überzeugt war, sie „stünde in Kontinuität mit dem wahren Glauben der Mennoniten“.

In seinem Aufsatz über Balzer meinte Robert Friedmann, dass Verstand und Vernunft eine bedeutsame Schrift sei, weil sie nichts weniger als eine philosophische Grundlegung eines täuferischen Glaubens darstelle. Friedmann unterstrich Balzers Versuch, einen Dualismus zu vermeiden, der auf der einen Seite einen gefährlichen Rationalismus und Säkularismus sah und auf der anderen Seite einen ungesunden, emotionalen, hochgradig individualistischen Pietismus. Friedmann bemerkte, dass Balzers Arbeit während des 19. Jahrhunderts in Russland unbekannt blieb, wohl aber eine Gruppe, nämlich die Kleine Gemeinde, deren Veröffentlichung unterstützte. Zahlreiche Exemplare dieser Broschüre befinden sich im Nachlass von Familien, die zur Kleinen Gemeinde gehörten.

Die Anziehungskraft, die von dieser Broschüre für konservative Gruppen ausging, ist evident. Balzers Botschaft ist: Idealismus, Einfachheit in Christus, liebevolle Zuwendung unter den Gemeindegliedern, Demut, Gleichheit und gemeindliches Zusammengehörigkeitsgefühl. In Verstand und Vernunft lobt Balzer Menno →Simons, weil dieser die einfachen biblischen Lehren von Friedfertigkeit und Aufrichtigkeit, Absonderung von der Welt und vor allem von der Identifikation mit den Kleinen und Schwachen wieder entdeckt habe. Balzer meinte, dass unter den verschiedenen Berufen der bäuerliche Beruf derjenige sei, der den Kindern Gottes anstehe. Er sei einer „echten Einfachheit in Christus“ am förderlichsten. Die Erziehung sollte einfach gehalten werden und nur dem schlichten Glauben und der bäuerlichen Lebenswelt dienen.

Balzers Schrift mag in der Mitte des 19. Jahrhunderts in Russland wenig beachtet worden sein, aber ihre Botschaft ist ein Kommentar zu den tiefen Veränderungen, denen sich die Mennoniten in jener Zeit unterzogen.

Schriften

Faith and Reason: The Principles of Mennonitism Remembered in a Treatise of 1833, übers. und hg. von Robert Friedman, in: Mennonite Quarterly Review 22, 1948, 75–93. - Der Balzer Brief! Oder eine Geschichte und Gedicht wie und warum Lehr. Heinrich Balzer ist ausgegangen, Plum Coulee, Man., 1903 (übers. in: Delbert F. Plett (s. u.), 214–247 (abgedr. In: Delbert. F. Plett (s. u.), 237–247.

Literatur

Delbert F. Plett, Heinrich Balzer: Defender of the Faith, in: ders., The Golden Years: The Mennonite Kleine Gemeinde in Russia, 1812–1849, Steinbach, Manitoba, Canada, 1985, 214–236. - James Urry, Rev. Heinrich Balzer 1800–1846: A Biography and Interpretation. Leaders of the Mennonite Kleine Gemeinde in Russia, 1812–1874. Steinbach, Manitoba, Kanada, 1993, 295–304. - Ders., Nur Heilige. Mennoniten in Russland, 1789–1889, übers. von Elisabeth L. Wiens, Steinbach, Manitoba, Kanada, 2005.

Royden Loewen

 
www.mennlex.de - MennLex V :: art/balzer_heinrich.txt · Zuletzt geändert: 2020/05/09 17:44 (Externe Bearbeitung)     Nach oben
© 2010 - 2020 Mennonitischer Geschichtsverein e.V. | Impressum | Kontakt: webmaster@mennlex.de | Umsetzung: Benji Wiebe, mennox.de |
Artikel drucken
| ODT Export | PDF Export