Kleine Gemeinde

1. Anfänge während des 19. Jahrhunderts in Russland (Ukraine)

Die Kleine Gemeinde war eine mennonitische Gemeinschaft (Denomination), die ihre Anfänge 1812 in der ersten Reformbewegung der neuen Molotschna (Molochnaia)-Kolonie im südlichen →Russland (der heutigen Ukraine) hatte. Dieses Datum ist insofern bemerkenswert, als es auf den Versuch Napoleons hinweist, in Russland einzudringen, ein Feldzug, der von mennonitischen Gemeindeführern stillschweigend mit geschenkten Pferden und Geld unterstützt wurde. Das war für die Gründungsmitglieder der Kleinen Gemeinde ein Wendepunkt. Sie hielten daran fest, dass eine solche Unterstützung die historischen Anschauungen der Mennoniten von der Wehrlosigkeit und der strikten Trennung von Kirche und Staat verletzte. Der Anführer dieser Bewegung war Prediger Klaas Reimer, einst noch Siedler in der Molotschna-Kolonie, die 1804 gegründet worden war. Er machte sich allgemein Sorgen um das geistliche Leben in der Gemeinschaft an der Grenze der Zivilisation. Reimers Vorstellung von der Kirche basierte auf Gewaltlosigkeit, Einfachheit und „demütiger Reue“, wie sie von einem genauen Studium der Heiligen Schrift und der Schriften der Täufer nahegelegt wurden. 1812 wurde Reimer von einer kleinen Gruppe, die seine Gefühle teilte, eingeladen, Gottesdienste in privaten Häusern in zwei mennonitischen Dörfern ohne Zustimmung der Kirchenältesten zu halten. Bald stellten die Mitglieder dieser Gruppe ihren Gottesdienstbesuch in den Hauptkirchen ein, und Reimer wurde die Verbannung aus der Kolonie angedroht. 1814 wählte ihn eine kleine Gruppe zum Ältesten einer separaten Kirche, die bald auf zwanzig Mitglieder angewachsen war. Die Mitglieder der ursprünglichen Mennonitengemeinde setzten jedoch ihre starke Opposition gegen die neue Gemeinschaft fort und verspotteten die neue Kirche als „Kleen-Gemeinda“, nicht nur zahlenmäßig als kleine Gemeinde, sondern auch als engstirnige Kirche. Dennoch wurde die Kleine Gemeinde für seinen intellektuell gesunden Konservatismus bekannt. 1833 veröffentlichte einer ihrer Prediger, Heinrich →Balzer, eine Broschüre mit dem Titel Verstand und Vernunft, in der die Ziele eines „einfachen Lebens in Christus“ und „brüderlicher Liebe“ erläutert wurden, denen sich die Kleine Gemeinde verschrieben hatte. Er argumentierte auf eindrucksvolle Weise in bäuerlicher Sprache auf bescheidenem Bildungsniveau. Die Kirche wuchs an und erreichte 1838 einhundertfünfundzwanzig Mitglieder.

Bereits 1843 hatte Johann →Cornies, der einflussreiche Vertreter der Landwirtschaftlichen Gesellschaft unter dem Eindruck der vorbildlichen Bauernhöfe und der hohen Moral dieser Gruppe seinen Einfluss genutzt, die Regierung zu überzeugen, die Kleine Gemeinde als eine offizielle Kirche anzuerkennen. Ihr wurde nun ein Rechtsstatus gewährt, wie ihn auch andere Kirchen erhalten hatten, und ihren Mitgliedern wurde erlaubt, sich zu den Gottesdiensten in ihren Privathäusern zu versammeln. Die Kleine Gemeinde blieb klein, intervenierte aber mehrmals gegen Ungerechtigkeiten, die der Kolonie widerfahren waren. So verteidigte sie auch diejenigen, die von den mennonitischen Behörden ins Gefängnis gesteckt worden waren. In den 1860er Jahren wurde die Kleine Gemeinde, wie viele Mennoniten in Russland sonst, mit dem Problem der Landknappheit konfrontiert und begann um 1865, Land für die Armen in ihren Reihen zu erwerben. Über einige Jahre zogen sie sich von ihren verstreuten Orten innerhalb der Molotschna-Kolonie in eigene Subkolonien zusammen, vor allem in sechs Dörfer in Borosenko. Hier errichteten sie 1872 ihr erstes Kirchengebäude. Gleichzeitig zog eine Reihe interner Spaltungen die Kleine Gemeinde in Mitleidenschaft: in den 1860er Jahren trennte sich eine Subkolonie auf der Krim ab und nannte sich jetzt Krimmer Mennonitenbrüdergemeinde, und in Borosenko spaltete sich die Kleine Gemeinde in zwei Gemeinden über der Frage nach dem rechten Gebrauch des →Banns.

2. Auswanderung nach Kanada und den USA am Ende des 19. Jahrhunderts

Die Kleine Gemeinde war aber noch vereint, als sie sich der Massenauswanderung der Mennoniten in den 1870er Jahren im Zuge einer Änderung der Gesetze zur Befreiung vom Militärdienst in Russland anschloss. Zwei ihrer Mitglieder, David Klassen und Cornelius Toews, gehörten zur zwölfköpfigen Gruppe, die nach neuen Siedlungsorten in Kanada suchte und das sogenannte Canadian Mennonite Privilegum 1873 mitunterzeichneten. Anders als die anderen mennonitischen Gruppen in den 1870er Jahren siedelte die Kleine Gemeinde sowohl in Kanada als auch in den USA. Dreiviertel (158 Familien) der Gemeindemitglieder entschieden sich für zwei Orte in Manitoba und gründeten dort vier Dörfer im East Reserve (um das heutige Steinbach herum) und zwei Dörfer im Scratching River Reserve (in der Umgebung des heutigen Rosenort), ein Viertel (36 Familien) zog ins Jefferson County (Nebraska). Das war indessen eine Abspaltung, die den Leitlinien der Kirchenspaltung in Borosenko folgte. 1882 handelte es sich um einen Bruch und eine Aussöhnung in der Kleinen Gemeinde. Zunächst trennte sich ungefähr die Hälfte der kanadischen Kleinen Gemeinde unter dem Eindruck der Predigten des konservativen Erweckungspredigers John Holdeman aus den USA von der alten Gemeinde, um eine Ortsgruppe der Church of God in Christ, Mennonite, zu errichten. Sodann lud Jacob Kroeker den Anführer der verbliebenen Kleinen Gemeinde, Abraham Friesen aus Nebraska, ein, bei der Wiedererrichtung der Kirche in Manitoba behilflich zu sein. So fanden beide Gruppen wieder zueinander.

3. Auswanderungen im 20. Jahrhundert und theologische Anpassungen

Die Kleine Gemeinde unternahm Schritte, um die Kontinuität mit den früheren Wanderungen zu wahren. Als andere erweckliche Gemeinden, die Bruderthaler oder die Evangelical Mennonite Brethern insbesondere, die alten Wege sowohl in Manitoba als auch in Nebraska 1899 in Frage stellten, versammelte sich einige Prediger zu einer Konferenz in Blumenort, Manitoba. In einem Kommuniqué waren sie übereingekommen, sich wieder auf die Ideen der Einfachheit, Demut und der Absonderung von der Welt zu besinnen und vor allem obrigkeitliche Dienste abzulehnen, auch evangelistische Dienste, vierstimmigen Chorgesang, das Fotografieren des menschlichen Antlitzes und Lobreden während der Trauerfeiern. In Nebraska suchte die Kleine Gemeinde nach Farmland, auf dem sie ihre kommunitäre Gemeinschaft bauen konnte und fasste 1905 wieder in der halbtrockenen Ebene des Südwestens, im Meade County (Kansas), Fuß. Bemerkenswerterweise entschied sich die Kleine Gemeinde 1920 für den Gebrauch von Autos und zur selben Zeit, ihre Kinder in die öffentlichen Schulen zu schicken, sowie 1935 eine eigene Gemeindezeitschrift, The Familienfreund, herauszubringen. Auch für weitere Veränderungen zeigte sie sich aufgeschlossen. In den 1940er Jahren holte die Moderne die Kleine Gemeinde in Kansas und Manitoba ein: in Kansas führten evangelikale Impulse zur Auflösung der Kirche im Jahre 1944 und zur Gründung der unabhängigen Emmanuel Mennonite Church an ihrer Stelle; in Manitoba brach die erste Missionarin, Susanne Plett nach Bolivien auf und arbeitete später in Brasilien. Schließlich beendeten unterschiedliche Auffassungen von Evangelikalismus die Existenz der geeinten Gemeinde, als den lokalen Gemeinden ihre Autonomie gewährt wurde und eine Überwachung durch eine Konferenz eingeführt wurde. 1948 veranlasste eine Reaktion auf den Evangelikalismus und die Verstädterung fast 20 Prozent der Kleinen Gemeinde in Manitoba, sich in Los Jagueyes (Quellen Kolonie) im Bundesstaat Chihuahua (Mexiko) nahe der Siedlungen, die von der Kleinen Gemeinde in den 1920er Jahren errichtet worden waren, festzusetzen. Das war ein Schritt, der dann die Kleine Gemeinde noch in Manitoba ermutigte, sich 1952 als Evangelical Mennonite Conference (EMC) neu zu gründen und den Weg zu öffnen, sich noch intensiver dem Evangelikalismus zu verschreiben, ebenso den englischsprachigen Gottesdienst einzuführen sowie ein eigenes Missionsprogramm zu entwickeln und sich am Steinbach Bible Institute als Vollmitglied zu beteiligen.

1954 trennte sich die Kleine Gemeinde von der EMC in Manitoba und wurde zu einer eigenen Körperschaft − immer noch unter ihrem ursprünglichen Namen. Obwohl klein an Mitgliederzahl sollte sie durch natürliches Wachstum und geringe Austrittsquote zulegen. 1958 errichtete sie eine zweite Kolonie in Amerika, als sie sich an der mennonitischen Auswanderung nach British Honduras, 1980 wieder in Belize umbenannt, beteiligte und dort die Spanish Lookout Colony ins Leben rief. Sie wiederbelebte sich nochmals in Manitoba während der 1970er Jahre, als viele Mitglieder aufgrund der wirtschaftlichen Probleme in Mexiko und der Gewaltexzesse in Belize nach Kanada zurückkehrten, wenn auch an neue Orte wie den Interlake District in Manitoba und das Zentrum von Nova Scotia im fernen Osten Kanadas. In den 1980er Jahren ließ sich die Kleine Gemeinde auf eine Art konservatives Programm ein und kam oft Wünschen aus Gemeinden der →Old Colony nach einer Kirche nach, die sich einer Reform der Erziehung geöffnet hatte. In den folgenden Jahrzehnten bemühte sich die Kleine Gemeinde um das Entstehen von Ablegern in der großen Swift Colony in Mexiko, im Süden Ontarios und in Alberta (Kanada), schließlich auch in Bolivien. Die großräumig angelegte Gemeinde unterhielt ein weitreichendes Besuchsprogramm der Prediger und ein Netzwerk privater Schulen, ebenso hielt sie an alten Institutionen wie dem Waisenamt fest, um gerechte Erbschaften zu ermöglichen, und eine Reihe von Genossenschaften und Gesellschaften gegenseitiger Hilfe. In Los Jagueyes, der ersten Kleinen Gemeinde in Südamerika, unterhielt sie einen streng auf Erziehungsmaterial ausgerichteten Verlag. Oft wurden englische und deutsche Materialien übersetzt und den eigenen Schulen zur Verfügung gestellt. Um 2016 hatte die Kleine Gemeinde in sechs Ländern 5600 Mitglieder in ungefähr fünfzig Gemeinden.

Die Geschichtsschreibung der Kleinen Gemeinde wurde über die Jahre hin intensiv betrieben. Als Kirche mit einem starken historischen Selbstbewusstsein ist sie eine eingefleischte Archivarin ihrer Quellen. Die kanadische EMC veröffentlichte 1962 eine Gemeindegeschichte über ihre anderthalb Jahrhunderte, richtete Archive in den Mennonite Heritage Archives in Winnipeg ein und feierte 2012 das zweihundertjährige Gründungsjubiläum der Kleinen Gemeinde. Die wichtigste historiographische Entwicklung wurde 1982 eingeleitet, als der Laienhistoriker Delbert F. Plett die erste von ungefähr zwölf Darstellungen der Gemeindegeschichte veröffentlichte und mit der Meinung verknüpfte, dass die Kleine Gemeinde die „Anabaptist Vision“ (das täuferische Leitbild) besser als alle anderen Mennonitengemeinden verwirklichte.

Bibliografie

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Royden Loewen

 
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