Humanismus und Täufertum

Die Vermutung, das Täufertum gehe in wichtigen theologischen Aussagen auf den Humanismus zurück, wie →Erasmus von Rotterdam ihn zu Beginn der →Reformation vertreten hatte, war bis in die 1930er Jahre ein Paradigma der Täuferforschung. Vor allem der vermeintliche Irenismus und Pazifismus des Erasmus, sein Vertrauen auf die moralischen Kräfte des Menschen, seine Forderung nach Versittlichung der Kirche und Nachfolge Christi schienen einem bestimmten Bild des historischen Täufertums zu entsprechen (→Täufer). Mit dem Aufkommen der konfessionell-affirmativen Täuferforschung der Bender-Schule und der so genannten revisionistischen Täuferforschung seit Ende der 1960er Jahre trat diese Frage wieder in den Hintergrund. Erst im Rahmen der Diskussion um „beyond polygenesis“ (→Täuferforschung) mehren sich wieder die Stimmen, die für das Täufertum eine positive Verbindung zum Humanismus (und hier vor allem zu Erasmus) behaupten.

1. Forschungsüberblick

Eine mögliche Verbindung von Täufertum und Humanismus vermuteten schon zeitgenössische Gegner des Erasmus, da dieser 1522 gemahnt hatte, es sei sinnvoll, Jugendliche nach eindringlicher Belehrung in fortgeschrittenerem Alter erneut zu taufen (Vorwort zu den Evangelienparaphrasen). Erasmus selbst wies jede geistige Verwandtschaft mit den Täufern zurück.

1885 publizierte der Freimaurer Ludwig Keller (1849–1915) die These, das Täufertum sei die letzte Erscheinungsform einer arkanen Tradition, die vom Urchristentum über mittelalterliche Bauhütten zu Erasmus führe und unmittelbare Nachfolge Jesu gefordert habe. Walther →Köhler schloss sich der These Kellers 1913 explizit an und verband sie mit Ernst →Troeltschs Systematisierung der christlichen Kirchen und Gruppen. Harold S. →Bender verneinte eine Abhängigkeit des Täufertums vom Humanismus, da sich das Täufertum als streng biblische Freikirche konsequent von Welt und Bildungsstreben abgewandt habe (anders Robert S. Kreider, Anabaptism and Humanism, 1951, und Hans J. Hillerbrand, Origins of Sixteenth-Century Anabaptism, 1962). Die revisionistische Täuferforschung lehnte die rein ideengeschichtliche Frage nach dem Verhältnis von „Täufertum“ und „Humanismus“ als methodologisch unzulässig ab. Nur wenige Forscher (Kenneth R. Davis, Erasmus as a Progenitor of Anabaptist Theology, 1973; Abraham Friesen, Erasmus, Anabaptism and the Great Commission, 1998; Andrea Strübind, „Eifriger als Zwingli“, 2003) haben seitdem versucht, das Täufertum als Erbe des Humanismus zu deuten. In der Humanismusforschung übernahmen nur Arthur Dickens und Whitney Jones in Erasmus the Reformer (1994) Positionen der älteren Täuferforschung, skeptisch blieben Leonhard Halkin, Érasme et l'anabaptisme (1982), und Marc Lienhard, Die Radikalen des 16. Jahrhunderts und Erasmus (1997).

2. Humanismus und Täufertum: Diskurs und Partizipation

Das historiographische Problem besteht in einer ideengeschichtlichen Verzerrung der Perspektive. In der mikrohistorischen Nahaufnahme sind (nur vor 1525) persönliche Kontakte späterer Täufer zu Humanisten bekannt, doch lassen sich inhaltliche Abhängigkeiten nicht eindeutig erweisen. Die geistesgeschichtliche Totale macht inhaltliche Analogien zwischen Täufertum und Humanismus (vor allem im Pazifismus, in der Forderung nach Spiritualisierung und Versittlichung der Religion, der Nachfolgeethik und nicht zuletzt in der Behauptung des freien Willens und in der Ablehnung einer doppelten Prädestination) sichtbar, entzieht sie aber zugleich der historischen Überprüfbarkeit. Daneben stellt sich die Frage, was als „Einfluss“ verstanden werden kann. Inhaltlich enge Determinierungen von Täufertum und Humanismus reduzieren „Einfluss“ auf Übereinstimmungen im Inhalt oder auf einzelne Kontakte, machen aber verallgemeinerungsfähige Antworten unmöglich. Versteht man „Humanismus“ und „Täufertum“ aber als offene Diskurse, an denen in unterschiedlichem Maße teilgenommen werden konnte, geraten die vielfältigen Partizipationsformen von Täufern am humanistischen Diskurs in den Blick. Dabei lassen sich fünf verschiedene Stufen unterscheiden.

(1) Nach dem Selbstverständnis der humanistischen „sodalitates“ (Konventikel) war nur Konrad →Grebel ein „humanista“. Unklar ist, wie sich bei ihm Gelehrsamkeit und Täufertum zueinander verhalten (Hans-Jürgen Goertz, Konrad Grebel, 2004). Nach Harold S. Bender ist Konrad Grebel trotz seines Humanismus Täufer geworden, für Andrea Strübind folgen die täuferischen Konventikel aus dem Humanistenkreis um Ulrich →Zwingli. Das Beispiel Grebels zeigt streng genommen nur, dass humanistische Bildung für einen Täufer kein Ausschlusskriterium war.

(2) Eine zweite Gruppe umfasst Täufer, die ein Hochschulstudium durchlaufen hatten (Balthasar →Hubmaier, Hans →Denck, Ludwig →Hätzer, Melchior →Rinck, Oswald Leber) und Verbindungen zu Humanisten besaßen. Da diese Art vor allem brieflicher Kontakte aber zur humanistischen Selbststilisierung gehörte, sind inhaltliche Abhängigkeiten noch nicht bewiesen. Die Briefwechsel besagen streng genommen nur, dass einige Täufer in ihrer vortäuferischen Zeit Kontakte zu Humanisten besaßen oder gerne besessen hätten.

(3) Eine dritte Stufe umfasst Täufer ohne akademische Bildung oder persönliche Kontakte, die über ausreichende Lateinkenntnisse (teilweise Griechisch) verfügten, um humanistische Literatur rezipieren zu können (z. B. Menno →Simons).

(4) Einem bloß formalen Begriff von Humanismus entsprechen Täufer, die Lateinkenntnisse und akademische Ausbildung, aber keine erkennbare Verbindung zum Humanismus oder zu humanistische Literatur besaßen (z. B. Bernhard →Rothmann, Hans Spittelmaier, vielleicht auch Leonhard Dorfbrunner).

(5) Humanistische Schriften wurden schließlich sogar in deutscher Übersetzung rezipiert. Vor allem die Paraphrasen des Erasmus wurden in der Zürcher Landschaft (Andrea Strübind, Eifriger als Zwingli, 135–147) und bei den mährischen Hutterern gelesen (Martin Rothkegel, Learned in the School of David, 236).

3. Humanismus im Täufertum als soziales Phänomen

Nach Claus-Peter Clasen besaßen 1525–1530 ungefähr 110 Täufer (ca. 3 %) eine formale Bildung, was etwa dem statistischen Mittel der Bevölkerung entspricht (Besuch der Lateinschule: ca. 20; Universitätsstudium: 9; Kontakte zur humanistischen Bildungselite: 4–5; selbst Mitglied der humanistischen Elite nur Grebel). Nach der chiliastischen Radikalisierung wandten sich die meisten Gebildeten vom Täufertum ab, das zu einer Bewegung von Bauern und Handwerkern wurde, 1530–1618 werden nur ca. 60 Gebildete aktenkundig (Claus-Peter Clasen, The Anabaptists, 9).

Es ist also zutreffend, dass ein großer Teil der führenden Täufer der ersten Stunde eine humanistische Ausbildung besaß, doch muss beachtet werden, wie eng der personelle ‚Flaschenhals' war. Von einem Einfluss des Humanismus auf das Täufertum darf deshalb nur mit drei wichtigen Einschränkungen gesprochen werden. Erstens: Schon in der Frühzeit kann nur eine Handvoll Personen zum humanistischen Diskurs gezählt werden. Zweitens: Die ‚humanistische Kompetenz' dieser Personen war sehr unterschiedlich. Drittens: Weder im Allgemeinen noch im Einzelnen ist eindeutig, welche Bedeutung ihre humanistische Bildung für ihre täuferischen Positionen hatte – ob humanistische Inhalte täuferische Positionen tatsächlich förderten oder die Genannten nur aufgrund ihrer formalen Ausbildung zu führenden Gestalten wurden.

Es ist kein Zufall, dass die Gründergeneration des Täufertums verschiedentlich humanistische Bildungsvoraussetzungen besaß. Aber es ist auch kein Zufall, dass humanistische, ja höhere Bildung insgesamt im weiteren Täufertum des 16. Jahrhunderts zunehmend als „Weltwissen“ abgelehnt wurde.

Bibliografie (Auswahl)

Cornelis Augustijn, Erasmus und Menno Simons, in: ders. (Hg.), Erasmus. Der Humanist als Theologe und Kirchenreformer, Leiden u. a. 1996, 339–354. - Harold S. Bender, Conrad Grebel, c. 1490 – 1526. The Founder of the Swiss Brethren sometimes called Anabaptists, Goshen, IN, 1950. - Wolfgang Beul-Kunkel, Vom Humanismus zum Täufertum. Das Studium des hessischen Täuferführers Melchior Rinck an der Leipziger Artistenfakultät, in: Archiv für Reformationsgeschichte 93, 2002, 26–42. - Edward K. Burger, Erasmus and the Anabaptists, Diss. Univ. of California, Santa Barbara 1977. - Claus-Peter Clasen, The Anabaptists in South and Central Germany, Switzerland and Austria. Their Names and Occupations, Places of Residence and Date of Conversion 1525–1618, Scottdale, PA, 1978. - Kenneth R. Davis, Erasmus as a Progenitor of Anabaptist Theology, in: Mennonite Quarterly Review 47, 1973, 163–178. - Ders., Anabaptism and Asceticism. A Study in Intellectual Origins. Scottdale, PA, 1974. - Arthur G. Dickens und Whitney Jones, Erasmus the Reformer, London 1994. - Erasmus, Opera Omnia, Bd. 7, hg. von Jean LeClerc, Leiden 1706. - Heinold Fast, The Dependance of the Swiss Anabaptists on Luther, Erasmus and Zwingli, in: Mennonite Quarterly Review 30, 1956, 104–119. - Abraham Friesen, Humanism and Anabaptism. A Study of Paradigmatic Similarities, in: Manfred P. Fleischer (Hg.), Harvest of Humanism in Central Europe. Essays in Honor of Lewis W. Spitz, St. Louis, Mo., 1992, 233–261. - Ders., Erasmus, Anabaptists and the Great Commission, Grand Rapids, MI, 1998. - Leonhard Halkin, Érasme et l'anabaptisme, in: Marc Lienhard (Hg.), Bibliotheca Dissidentium. Scripta et Studia 1, Baden-Baden 1983, 66–77. - Thor Hall, Possibilities of Erasmian Influence on Denck and Hubmaier in their Views on the Freedom of the Will, in: Mennonite Quarterly Review 35, 1961, 149–170. - Hans J. Hillerbrand, Origins of Sixteenth-Century Anabaptists. Another Look, in: Archiv für Reformationsgeschichte 53, 1962, 152–180. - Heinz Holeczek, Die volkssprachliche Rezeption des Erasmus von Rotterdam in der reformatorischen Öffentlichkeit, 1519–1536, Stuttgart und Bad Cannstatt 1983. - Ludwig Keller, Die Reformation und die älteren Reformparteien. In ihrem Zusammenhang dargestellt. Leipzig 1885. - Walther Köhler, Art. Wiedertäufer, in: Religion in Geschichte und Gegenwart, Tübingen 1913, Sp. 2016–2019. - Robert S. Kreider, Anabaptism and Humanism. An Inquiry into the Relationship of Humanism to the Evangelical Anabaptists, in: Mennonite Quarterly Review 26, 1952, 123–141. - Marc Lienhard, Die Radikalen des 16. Jahrhunderts und Erasmus, in: M. Mout, H. Smolinsky und J. Trapman (Hg.), Erasmianism. Idea and Reality. Proceedings of the Colloquium 19. - 21. September 1996, Amsterdam u. a. 1997, 91–104. - Marina Münkler, Volkssprachlicher Früh- und Hochhumaismus, in: Marina Münkler und Werner Röcke (Hg.), Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur, Bd. 1, Die Literatur im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit, München 2004, 77–96. - Leonhard v. Muralt, Glaube und Lehre der schweizerischen Wiedertäufer in der Reformationszeit, Zürich 1938. - C. Arnold Snyder, Birth and Evolution of Swiss Anabaptism, in: Mennonite Quarterly Review 80, 2006, 501–646. - Andrea Strübind, Eifriger als Zwingli. Die frühe Täuferbewegung in der Schweiz, Berlin 2003. - Darren T. Williamson, Erasmus of Rotterdam's Influence on Anabaptism. The Case of Balthasar Hubmaier. Diss. phil., Simon Fraser University, Vancouver, Kanada, 2005.

Anselm Schubert

 
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