Eschatologie

Der Begriff „Eschatologie“ geht auf das griechische Adjektiv „eschatos“ zurück und meint so viel wie die „Lehre von den letzten Dingen“ bzw. die Lehre von den Ereignissen, wie sie am Ende der Geschichte eintreten werden. Mehr noch, da die Christen glauben, dass sich in solchen Ereignissen der Sinn der Geschichte enthüllen wird, handelt die christliche Eschatologie von dem endgültigen Schicksal der Welt oder der tiefsten Bedeutung jeder geschöpflichen Existenz. Die meisten Endzeitereignisse – wie die Auferstehung von den Toten oder der letzte Kampf zwischen einem schrecklichen Tier und einem himmlischen weißen Reiter (Offb. 19, 11–21) – überschreiten jedoch die Geschichte, wie wir sie erfahren. So fragt die Eschatologie auch danach, wie diese Ereignisse verstanden werden sollen: wörtlich, so dass sich jede Einzelheit so ereignen wird, wie die Heilige Schrift sie beschreibt, oder figürlich, da diese Ereignisse sich tatsächlich auf Wirklichkeiten beziehen, die Raum und Zeit überschreiten, oder auf irgendeine andere Weise? Eschatologie hat sich herkömmlicherweise hauptsächlich mit dem letzten Ausbruch des Bösen beschäftigt, mit der Wiederkehr Jesu Christi, seinem Sieg über das Böse, mit der Auferstehung von den Toten und dem Dasein im Himmel, in der Hölle oder auf einer neuen Erde.

1. Biblische Endzeitvorstellungen

Die alttestamentlichen Bilder zeichnen das Ende der Geschichte wie das ideale Leben im „verheißenen Land": Die Natur wird Überfluss erzeugen, jeder wird alle Wohltaten genießen, und Frieden wird herrschen (Deut. 28, 1–14, Joel 2, 23–27). Als das Volk Israel jedoch Gott den Gehorsam verweigerte, wurde es verbannt und unter die Völker zerstreut. So kam es, dass die Visionen vom Höhepunkt der Geschichte auch die Rückkehr des Volkes Israel von den Völkern, gelegentlich auch mit einigen Heiden, erwarteten (Micha 4, 1–4, Jes. 66, 18–24). Wenn sie zurückgekehrt sein werden, wird Gott seinen Geist ausgießen (Jes. 32,14–20) und den Menschen ein neues Herz geben (Jer. 31, 31–34; Hes. 37, 1–14). Am Ende werden die Feinde Israels erobert werden und alle Lande werden über Gottes Herrschaft jauchzen (Ps. 97, Zach. 9, 9–10).

Um 530 v. Chr. kehrten einige Juden aus dem Exil nach Israel zurück, während viele andere in den fremden Ländern blieben. Mächtige Völker fuhren fort, diejenigen zu unterdrücken, die zurückgekehrt waren. Rechtschaffene Leute starben, ohne dass sie den Sieg Gottes erlebten. Deshalb begann die Eschatologie, die Vorstellung von der Auferstehung der Toten und ein letztes Gericht über die Gerechten und die Ungerechten einzuschließen. Als Jesus auf der Erde erschien, waren auch „apokalyptische“ Schriften im Umlauf. Sie beschrieben den letzten Kampf Gottes mit den feindlichen Völkern auf detaillierte Weise, indem sie viele Ereignisse, Orte und Personen miteinander verbanden – natürliche und übernatürliche. Die meisten Juden jedoch hegten einfachere Hoffnungen, die sich um drei Ereignisse bildeten: die Auferstehung von den Toten, die Ausgießung des göttlichen Geistes und die Sammlung (oder die endgültige Rückkehr) des gesamten Gottesvolkes.

Jesus verkündete, dass Gottes Königreich sogleich anbrechen werde (Mk. 1, 14–15). Das bedeutete, dass sich alle endzeitlichen Hoffnungen Israels bald erfüllen würden. Und als Jesus gestorben und auferstanden war, geschah das auch – allerdings auf unerwartete Weise. Die Auferstehung hatte sich ereignet – aber nur für eine Person. Gottes Geist war ausgegossen und Gottes Volk gesammelt worden – jedoch nicht hauptsächlich, als die Juden nach Israel heimkehrten, sondern als Sendung an viele Völker, die einige Juden und viele Heiden in Kirchen zusammenführte. Darüber hinaus waren Gottes Feinde sicherlich nicht zerstört worden.

Mit anderen Worten, Gottes Königreich war „schon“ angebrochen, aber es war „noch nicht“ ganz präsent. Das Neue Testament sieht auch eine Zukunft voraus, den letzten Ausbruch des Bösen, der vom Antichrist angeführt wird (1. Joh. 2, 18), ein schreckliches „Tier“ (Offb. 13, 1–10) und das Kommen Jesu, um sie zu besiegen und schließlich die Auferstehung zu bringen, Gericht und Bestrafung.

2. Von der frühen Christenheit zur Reformation

Bis zum vierten Jahrhundert waren die Christen sich sehr bewusst darüber, dass das Böse noch nicht ganz besiegt war, denn sie waren oft verfolgt worden, vor allem vom römischen Kaiser. Die Zerstörung des Bösen, so meinten sie, müsste die Niederlage Roms in irgendeiner Weise miteinschließen. Die meisten Christen erwarteten, dass die böse Welt nicht von einem himmlischen Reich fortgesetzt würde, sondern von einer veränderten Erde, wie sie im Alten Testament verheißen worden war, durch Überfluss ausgezeichnet, Gleichheit und Frieden. Im Leiden und Tod sehnten sie sich sehr danach, mit Jesus Christus vereint zu sein – aber nicht im Himmel, sondern während dessen zukünftiger Herrschaft auf der Erde, im „Tausendjährigen Reich“, wie oft gesagt wurde (Offb. 20, 4).

Um das vierte Jahrhundert herum begann sich die Endzeithoffnung in eine individuell personale und in eine gemeinschaftliche Dimension zu teilen. In der personalen Dimension sehnten sich die Menschen nach einer spirituellen Existenz im Himmel und fürchteten sich vor einer solchen in der Hölle. Himmel und Hölle wurden jetzt größtenteils als von der Geschichte getrennt vorgestellt, auch dass sie sich mit dem Tod eines jeden einstellen. Diese Vorstellung ging teilweise auf die griechische Weltanschauung zurück, in der die wahre Person als Seele angesehen wurde, die sich vom minderwertigen Leib im Tod trennt. Diese Vorstellung hat das Christentum immer mehr zu beeinflusst.

Mit der gemeinschaftlichen Dimension wurde das Christentum zur offiziellen Staatsreligion im Römischen Reich. Viele Kirchenmänner schlossen daraus, dass das Tausendjährige Reich – Christi irdische Herrschaft – nicht mehr in Gegnerschaft zu Rom stehen könne, sondern jetzt dessen Freud sei. Diese Herrschaft hatte ja gerade in Zusammenarbeit zwischen Kirche und Reich begonnen, welche die christlichen Wohltaten zu verbreiten half. Diese endzeitliche Verknüpfung der kirchlichen Sendung mit dem Auftrag des Staates unterzog die westliche Christenheit tiefgreifender Veränderungen.

Während des Mittelalters entstanden zahlreiche Endzeitbewegungen, die sich gegen die Verbindung von Kirche und Reich wandten und sie als die „beiden Tiere“ aus der Offenbarung des Johannes identifizierten (Offb. 13, 1–8 und 11–17), die sich der wahren Kirche Christi entgegenstellten. Diese Bewegungen, die oft viele sozial unterdrückte Menschen in ihren Reihen hatten, erwarteten das Tausendjährige Reich in aller Kürze, wie die frühe Kirche einst. Sie untermauerten diese Erwartung oft mit einer „apokalyptischen“ Theologie, die biblische Prophezeiungen und Symbole mit zeitgenössischen Personen und Ereignissen auf bizarre Weise verknüpfte.

Im Aufbruch der protestantischen Reformation war Europa von zahlreichen neuen sozialen Bewegungen erschüttert worden, die endzeitliche Spekulationen wachriefen. Die katholischen und die neuen protestantischen Anführer bezichtigten sich oft gegenseitig als „Antichrist“. Jahrhunderte lang waren die endzeitlichen Ängste auf der personalen Ebene durch die zunehmende Fixierung auf das Jüngste Gericht intensiviert worden, auch auf das Fegefeuer und die Hölle. Auf der gemeinschaftlichen Ebene glaubten viele protestantischen Anführer, ähnlich wie die Katholiken, dass die endzeitlichen Realitäten schon seit langer Zeit in der Kirche präsent waren und dass sie nun mit Hilfe des von Gott beauftragten Staates vorangetrieben werden.

Mittlerweile fühlten sich Bauern und Angehörige der Unterschicht von ihren Herrschern ernstlich unterdrückt. Sie forderten gemeinschaftlichen Zugang zur Allmende, zu Wäldern und Gewässern, Erlass schwerer Abgaben und kirchlicher Gebühren, auch das Recht, ihre Gemeinde allein zu regieren. Wiederum brachen „apokalyptische“ Bewegungen auf und kündigten die unmittelbare Zerstörung der Bösen und die Heraufkunft einer gerechten Welt an, gegründet auf eine Mischung aus biblischen Texten und geistlichen Leitsätzen. Schließlich brach der Bauernkrieg aus. Der apokalyptische Anführer Thomas →Müntzer schloss sich dem Bauernheer gegen die Adligen an, die schließlich die Aufständischen niedermetzelten und deren Ländereien verwüsteten.

3. Täuferische Vorstellungen vom Ende der Welt

Täufer, die größtenteils unteren sozialen Schichten angehörten, waren stärker von endzeitlichen Vorstellungen beeinflusst worden als die meisten anderen sozialen Gruppen. Ihre Endzeitvorstellungen können in zwei Typen eingeteilt werden, die hier apokalyptisch und nichtapokalyptisch genannt werden (→Apokalyptik). Vor allem das oberdeutsch-österreichische und niederländische bzw. niederdeutsche Täufertum war hauptsächlich von apokalyptischen „Sendboten“ oder „Aposteln“ gegründet worden. In Oberdeutschland und Österreich wirkte der von Thomas Müntzer beeinflusste Hans →Hut. Ein Jahr nach der Niederlage der Bauern bei Frankenhausen in Thüringen wurde Hut getauft, missionierte zunächst vor allem unter denjenigen, die mit dem →Bauernkrieg in Berührung geraten waren, und verkündete ihnen die unmittelbare Wiederkunft Jesu Christi. Hut und viele andere, die er dazu beauftragt hatte, tauften und sammelten Gläubige in lose organisierten Gemeinden, wo sie teilweise ihr Hab und Gut miteinander teilten und den Lehren Jesu folgten. Sie verpflichteten sich, ihre Feinde zu lieben und das ihnen in Verfolgungen zugefügte Leid zu ertragen – bis in die letzten Tage. Dann sollten sie das Schwert aus der Scheide ziehen und helfen, die Gottlosen zu vernichten. Hut entwickelte eine komplizierte Chronologie der Endzeitereignisse, teilweise aus Stellen der Heiligen Schrift, und sah Jesu Wiederkunft für den 31. Mai 1528 voraus. Er wurde jedoch 1527 gefangen genommen, gefoltert und kam auf mysteriöse Weise mehrere Monate vor der angekündigten Wiederkunft Jesu bei einem Brand im Gefängnis um. Nach dem ausgebliebenen Ereignis begann das Täufertum in Oberdeutschland und Österreich allmählich abzunehmen.

In den Niederlanden bekehrte Melchior →Hoffman viele Menschen mit lebendigen apokalyptischen Verheißungen und Aufforderungen, sich auf den Glauben taufen zu lassen, zum Täufertum. Hoffman meinte, dass einige Obrigkeiten die Täufer schützen, später, dass sie die Feinde Christi zerstören und eine irdische Theokratie errichten würden – noch vor der Wiederkunft Christi. Hoffman forderte seine Anhänger jedoch nicht auf, selbst in den Kampf zu ziehen. Das mutete er den Reichsstädten zu, allen voran Straßburg. Wie Hut so prophezeite auch Hoffman, dass Christus seine Herrschaft zunächst in bestimmten Städten errichten würde. Hoffmans Nachfolger Jan Matthijs war davon überzeugt, dass das im westfälischen →Münster geschehen würde, und forderte die Täufer auf, dorthin zu ziehen. Nachdem die Täufer auf legale Weise in Münster an die Macht gekommen waren, wurden soziale Unterschiede eingeebnet und die →Gütergemeinschaft eingeführt. Die Stadt wurde von reichsständischen und bischöflichen Truppen belagert, und die Täufer bewaffneten sich, um der Belagerung zu trotzen. Schließlich wurde die Stadt in ein endzeitliches Königreich umgewandelt, in dem Christus erwartet werden sollte. Die Täuferherrschaft wurde unter dem Belagerungsdruck zunehmend militant, verfolgte und richtete Andersgläubige hin und führte die Vielweiberei ein, um das durch Verfolgung und Abwanderung gestörte Sozialgefüge der Stadt nicht noch mehr zerfallen zu lassen. Nachdem die Stadt im Juni 1535 gefallen war, wurden zahlreiche Täufer hingerichtet, Frauen und Kinder bestraft. Münster wurde fortan zu einem Symbol apokalyptischer Schreckensherrschaft – über die folgenden Jahrhunderte hinweg.

Das apokalyptische Täufertum wurde von einer sozial-religiösen Vision geleitet, wie sie im Alten Testament und in der frühen Christenheit zu finden ist. Diese täuferische Apokalyptik wurde aber mit zahlreichen Vorhersagen angereichert, die sich nicht erfüllten oder oft in gewaltsamen Aktionen endeten. Angesichts der tragischen Folgen dieser Vision, kann es kaum überraschen, dass andere Endzeitlehren im Täufertum ohne diese ausgearbeiteten Vorhersagen und militanten Aktionen auskamen.

Auch die nichtapokalyptisch geprägten Endzeitvorstellungen identifizierten den Papst oft mit dem „Antichrist“ und sahen in einigen katholischen und protestantischen Bräuchen, wie der Kindertaufe, Erfindungen einer alt gewordenen, dämonischen und falschen Kirche (Offbg. 13, 11–18). Auch schrieben sie verschiedene Ereignisse, wie sie sich gerade vollzogen hatten, entweder Gott oder Satan zu. Diese nichtapokalyptischen Täufer warteten darauf, dass Gott die Bösen bestrafen und die Frommen „sehr bald“ erretten würde. Aber sie vermieden es, dafür einen bestimmten Zeitpunkt zu nennen oder solche Ereignisse in ein kosmisch überhöhtes Szenario einzuzeichnen.

Die Täufer in der Schweiz gebrauchten Metaphern vom Tausendjährigen Reich, um die Zukunft zu beschreiben. Aber es ist nicht klar, ob sie sich diese Zustände jenseits von Zeit und Raum buchstäblich oder nur figürlich vorstellten. Balthasar →Hubmaier, der aus der Schweiz nach Mähren geflohen war, wies alle Zukunftsberechnungen zurück. Als Hans Hut die Wiederkehr Jesu für ein Datum in dreieinhalb Jahren vorhersagte (Pfingsten 1528), erwiderte Hubmaier, wohl im Scherz, dass die Heilige Schrift, die Hut zur Begründung hinzugezogen hatte, Sonnenjahre meinte, was auf 1277 Jahre hinausgelaufen wäre. Hubmaier konzentrierte sich stattdessen auf das Jüngste Gericht, das die guten Werke belohnen und Rache an den Verfolgern nehmen werde. Eben weil der Termin unklar sei, würde er die Wachsamkeit der Menschen erhöhen. Hubmaier erwartete, dass Jesus wiederkehren, die Toten auferstehen und wir Christus begegnen werden. Aber Jesus würde nicht umherziehen, um die Erde zu verwandeln. Er würde vielmehr dort oben bleiben und wir mit ihm.

In Süddeutschland und in der Schweiz, ebenso in den Niederlanden, fassten die Hauptanführer der Täufer nach Hut und der Täuferherrschaft zu Münster das Heil als Vergöttlichung der Menschen auf oder als Teilhabe der Menschen an der Natur Gottes (2. Petr. 1–4). Die Frage stellt sich, ob die endzeitliche Vollendung der Erlösung die Christen über das raum-zeitliche Universum erheben würde? Obwohl die Hutterer die Erde mit körperlichem Einsatz veränderten, sah Peter →Riedemann in allem Materiellen und Zeitlichen etwas, das uns „fremde ist“, die Natur des Gläubigen aber sei „Geist“ (Peter Riedemann, Rechenschaft, 86 und 47). Paulus sagt zwar, dass „nun schon hier in den rechten und wahren Gläubigen das ewige Leben“ seinen Anfang nehme (ebd., 38), er äußert sich aber kaum über das Leben nach dem Tod, er sagt nur, dass unser Leib wie der verklärte Leib Jesu zu „seiner herrlichen Klarheit“ gelangen werde (ebd., 39). Ansonsten wiesen die Hutterer in ihren Bußpredigten vor allem auf die Schrecken des Weltgerichts am Ende der Tage hin. Riedemann veranschaulichte dieses Geschehen im Zusammenhang mit der Wiederkunft Jesu und sprach die Erwartung aus, dass dann auch die verfolgten Christen errettet würden.

Höher als alle anderen Täufer schätzte Pilgram →Marpeck das Materielle ein. Schließlich aber würden Zeit, alle nichtmenschlichen Lebewesen und Obrigkeiten vergehen, unser verklärte Leib jedoch würde nach der Auferstehung der Toten sein Fleisch und Blut behalten. Marpeck bezog die Eschatologie auf die Gesellschaft und lehrte, dass sich der Papst, als Christus verstellt, mit der Herrschaft Kaiser Konstantins im vierten Jahrhundert vermählt und die Reichsgewalt zur „babylonischen Hure“ umgewandelt habe (Offb. 17). Nach Jahrhunderten hätten sich die protestantischen Reformatoren trotz des verheißungsvollen Beginns der Reformation noch einmal aufs Neue mit der weltlichen Herrschaft vermählt.

In den Niederlanden nahmen Dirk →Philips und Menno →Simons endzeitlich geprägte Bilder auf, spiritualisierten sie aber in ihren Interpretationen. So deutete Philips die „neuen Himmel“ auf die Gläubigen, in denen Christus wohnt, und die „neue Erde“ auf die Herzen der Gläubigen (2. Petr. 3,13; Offbg. 21, 1). Obwohl Philips die Vergöttlichung des Menschen behauptete, bestand er jedoch auf der Meinung, dass die Menschen stets Geschöpfe bleiben und niemals in Gott hineingezogen würden. Das bestätigte auch Marpeck, wenn er behauptete, dass die Menschen Fleisch und Blut blieben.

Menno Simons ordnete Predigt und Theologie um die Ankündigung an, dass der Tag der Gnade oder des Heils jetzt schon angebrochen sei (2. Kor. 6, 2). Er verstand das in neutestamentlichem Sinn: Das Ende der Geschichte sei gekommen und die Königsherrschaft Gottes „schon“ präsent. Das sei der Grund, warum er jetzt schon danach trachtete, den eschatologischen Lehren Jesu zu folgen, obwohl die Kirchen den Anbruch des göttlichen Reiches wiederholt auf die Zeit der Vollendung in weiter Zukunft verschoben hatten. Gleichzeitig meinte Menno Simons auch, dass dieser Tag „noch nicht“ da sei, aber „näher komme“, doch jetzt schon deutlich auf die Zukunft hin dränge. Da Menschen aber seinen Anbruch zurückweisen können, bringt dieser Tag bereits jetzt das Gericht über die Menschen – wie auch später im Weltgericht.

Sowohl die apokalyptischen als auch die nichtapokalyptischen Anschauungen haben gezeigt, wie Gott und die bösen Mächte in der Vergangenheit wirkten und noch aktiver in der Gegenwart, einer Zeit der Trübsale, in der das Weltgericht und die Erlösung immer näher rückten. Nichtapokalyptische Täufer weigerten sich aber, diese Ereignisse, die Heilige Schrift und geistliche Leitbilder in kosmisch überhöhten Szenarien miteinander zu verbinden oder vorherzusagen, wann und wo diese endzeitlichen Ereignisse eintreten würden. Darüber hinaus entbehrten ihre Visionen vom Tausendjährigen Reich wie diejenigen von der leiblichen Auferstehung der Toten fast alle materiellen Züge, zumindest wenn es um eschatologische Vorstellungen ging. Dennoch wurde ihre Glaubenspraxis von der Vision des irdischen Herrschaft Gottes geleitet. So scheint es sogar, dass einige nichtapokalyptische Täufer die Endzeitvisionen herunterspielten, um jeden Hinweis auf eine Verbindung mit der Täuferherrschaft zu Münster zu verhindern.

4. Von der Reformation zur Gegenwart

Nachdem sich die apokalyptischen Wirren der Reformationszeit gelegt hatten, kehrten viele Christen wieder zu der personalen Auffassung der Eschatologie zurück, die sich auf den Himmel und die Hölle außerhalb der Welt konzentrierte, wie sie sich nach dem Tod eines jeden Menschen einstellen würden. Im Hinblick auf die Gesellschaft erhoben die protestantischen Kirchen genauso wie die katholische Kirche den Anspruch, sie würden die Herrschaft Christi gemeinsam mit dem Staat zum Wohl aller wahrnehmen. Diese eschatologische Sichtweise ließ nach und nach die Vorstellung vom Fortschritt in der Welt entstehen und die westliche Gesellschaft mit ihren christlichen Wurzeln und wissenschaftlichen Errungenschaften als eine allen anderen überlegene Zivilisation verstehen – besonders wenn es ihr gelänge, sich weltweit auszubreiten.

Viele Christen verbanden diese Gedanken mit ihren Bemühungen, das Reich Gottes auf Erden zu errichten. Im 19. Jahrhundert verliehen diese Gedanken dem nordamerikanischen Evangelikalismus, der viele soziale Reformen angeregt und zahlreiche Missionsgesellschaften gegründet hatte, und der liberalen Theologie in Europa starke Impulse. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts jedoch wurden beide Bemühungen, die Eschatologie mit der Fortschrittsidee zu verbinden, heftig kritisiert. Einige Theologen in Europa meinten, dass mit der neutestamentlichen Eschatologie die Herrschaft Gottes in die Weltgeschichte eingebrochen sei. Mit dieser Vorstellung wurden die gesellschaftlichen Entwicklungen eher radikal kritisiert als unterstützt.

In Nordamerika verkündeten viele konservative Evangelikale, dass die Geschichte nicht dem Reich Gottes, sondern ihrer eigenen Zerstörung entgegenlaufe. Erst danach würde das göttliche Reich auf übernatürliche Weise entstehen.

Dagegen deuteten die Entwürfe einer „Theologie der Hoffnung“, die in den sechziger und siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts entstanden waren, Gottes radikalen Eingriff in die Welt nicht als Zerstörung der Geschichte, sondern als den bereits vollzogenen Anbruch der göttlichen Herrschaft in der Geschichte. Wenn die Auferstehung, der Heilige Geist, die Sammlung des Volkes Gottes und das Tausendjährige Reich als dynamische Wirklichkeiten „schon“ präsent sind, verleihen sie dem Leben kraftvolle Impulse, die die Gesellschaft nicht heiligt, sondern kritisiert und herausfordert. Da diese Wirklichkeiten jedoch „noch nicht“ ganz präsent sind, treibt die von ihnen geweckte Hoffnung die Christen an, diese gute Nachricht in die sündige und leidgeplagte Welt zu tragen und dieser Hoffnung gemäß zu leben. Das neue eschatologische Leben verändert Personen und Situationen. Aber es erregt auch Widerstand und zieht manches Leid auf sich. Die positiven Veränderungen, die von Gottes Geist herbeigeführt werden, rufen keinen kontinuierlichen Fortschritt hervor, sicherlich keinen, der irgendeine Zivilisation begünstigte. Diese Art der Eschatologie zieht aber besonders stark marginalisierte und unterdrückte Menschen an und wird von einigen Befreiungstheologen in der Dritten Welt aufgenommen und weiterentwickelt.

5. Impulse aus dem Täufertum – zur Eschatologie heute

Zeitgenössische Täufer sind von dieser Eschatologie beeinflusst worden, besonders wie sie von Jürgen Moltmann, der den Täufern und ihren Nachfahren stets mit Sympathie begegnet, entwickelt wurde. Moltmann schlug in seiner Theologie der Hoffnung (1964) vor, die Eschatologie, die gewöhnlich am Ende der systematischen Theologie steht, an den Anfang zu stellen. Das haben Thomas Finger in seiner zweibändigen Christian Theology (1985/1989) und James McClendon im zweiten Band seiner Systematic Theology mit dem Titel Doctrine (1994) auch versucht. Ansonsten problematisieren aber nur wenige mennonitische Theologen heute die traditionelle Anordnung der eschatologischen Themen. Mennonitische Theologen folgen gewöhnlich John H. Yoder, der solche Themen nicht nur als ethische, sondern auch als eschatologische Themen betrachtete, wenn sie sich heute auf die sozialen Implikationen der Eschatologie konzentrieren.

Diese Theologen betonen wie Menno Simons, dass mit der „Zeit der Gnade“ eine ganz neue Art zu leben möglich geworden sei. Sie befassen sich mehr mit der Dynamik der gegenwärtigen Situationen als mit den Vorhersagen für die Zukunft. Mit Yoder stellen sie Jesu Auferstehung in den Vordergrund und verstehen sie als Gottes Bestätigung des Kreuzes und der Lebensweise Jesu, die zum Kreuz führte. Sie sehen in der Sammlung des Volkes Gottes die Bildung christlicher Gemeinden, die in dem Versuch, Jesus Christus nachzufolgen, neue sozial-politische Optionen vor aller Welt sichtbar machen.

Dieser Ausblick weist fast alle apokalyptischen Merkmale zurück. Seine Verfechter behaupten beispielsweise, dass die Offenbarung des Johannes die Absicht verfolge, nur die eigene Zeit dazustellen und nicht die fernere Zukunft. Sie halten aber an einem apokalyptischen Merkmal fest, an der weitgespannten Aktivität der dämonischen Mächte. Sie verstehen diese Mächte als das innere Ethos oder den Impetus der Institutionen, sozialen Ordnungen und Ideologien, die durch systemisch begründete Herrschaft und Gewalt wirken. Jesu dienende, gewaltfreie Art, stellte sich gegen diese Mächte, und sein Tod und seine Auferstehung besiegten sie (Kol. 2, 15; Eph. 1,19–23; Eph. 4, 8–9). Dieses eschatologische Urteil und dieser Triumph über das Böse bestehen fort, sofern die Kirche demselben Weg folgt (Eph. 6, 10–18).

Dennoch gehören Institutionen, soziale Ordnungen und Weltanschauungen zum menschlichen Leben, wie Gott es geschaffen hat. Diese Formen werden nur böse, wenn ihr inneres Ethos, „die Mächte“, versucht, sie mit absoluter Geltung auszustatten. Das bringt sie gegen Gott und Gottes Plan für das Leben der Menschen auf, wie es am besten in Jesu Lehre vom Königreich Gottes zum Ausdruck gebracht wird. Für die meisten Mennoniten heute sind diese Mächte nicht von menschlichen Lebensformen zu unterscheiden, wie es bei dämonischen Erscheinungen der Fall sein müsste. Stattdessen repräsentieren sie für Theologen wie Norman Krauss und Duane Friesen die kollektiven negativen Potenzen oder die geballte Triebkraft der sozialen Konstruktionen der Menschen. Auch wenn Gott diese Mächte „schon“ gerichtet hat, sind sie noch nicht ganz verdammt und zerstört und machen noch nicht wie in der Apokalyptik den Weg für das Tausendjährige Reich Christi frei. Gottes Gericht erlöste auch diese Mächte in gewisser Weise. Diese Annahme scheint mit der zeitgenössischen täuferischen Kritik an der gewaltsamen Vollstreckung des Gerichtsurteils einherzugehen. So können einige positive soziale Entwicklungen „schon“ in den letzten Tagen erwartet werden.

Die Zukunft versieht die präsentische Eschatologie mit einer Vision vom Ziel der Geschichte und mit der Gewissheit, dass Gott schließlich die Oberhand gewinnen wird. Doch wie das geschehen soll oder welche Ereignisse dahin führen werden, wird selten erörtert. Ein Grund dafür ist, dass Versuche, die Zukunft vorherzusagen, als Bemühungen verstanden wird, die Zukunft zu kontrollieren, wie es imperialistische Nationen, oft von den Kirchen unterstützt, taten und immer noch tun. Jesus zeigte indessen, dass die Weigerung, die Geschichte zu kontrollieren, und das sich geduldige Verlassen auf das Handeln Gottes den wahren Weg in die Zukunft weisen.

In den Versuchen, die Geschichte zu kontrollieren, ordneten täuferische Theologen sie oft in apokalyptische Szenarien ein und identifizierten biblische Gestalten und Ereignisse mit gegenwärtigen. Solche Szenarien tauchten unzähligen Male in der Vergangenheit auf und waren allesamt falsch. Die Geschichte der Täufer zeigt, wie tragisch dieses Versagen sein konnte. Die Mennoniten sollten heute vorsichtig mit Vorhersagen sein, die auf die Erfüllung alttestamentlicher Prophezeiungen setzen, besonders die Rückkehr der Juden nach Israel. Das Neue Testament zeigt stattdessen, dass das Volk Gottes, Juden und Heiden, aus allen Ländern durch Mission gesammelt werden und dass die wichtigsten eschatologischen Prophezeiungen inzwischen „schon“ erfüllt sind.

Während die Mennoniten heute die soziale Dimension der Eschatologie zur Geltung bringen, erwähnen nur wenige die personale Dimension. Menschen jedoch, die Jesu Weg der Geduld und des Glaubensgehorsams folgen, müssen mit strenger Gegnerschaft und Fehlschlägen rechnen. Darüber hinaus beklagen oder fürchten besonders die Armen und Unterdrückten, in denen eine endzeitliche Hoffnung geweckt wurde, den ungerechten Tod ihrer Kinder, ihrer Freunde und ihren eigenen Tod. So ist zu fragen, ob sie nicht eine weltweite Vision vom Höhepunkt der Geschichte und der Gewissheit vom Sieg Gottes brauchen, aber ebenso Hoffnung und Zuversicht für sich selbst und diejenigen, die sie lieben. Die christliche Eschatologie hat die personale Dimension häufig zugunsten der sozialen hervorgehoben. Nun stellt sich aber die Frage, ob es wünschenswert sei, die personale Dimension zu vernachlässigen. So wichtig es heute ist, die soziale Dimension mit Nachdruck zu betonen, so misslich wäre es, sich kaum noch um die personale Dimension der Eschatologie zu bemühen.

Quellen (Auswahl)

Balthasar Hubmaier, Schriften, hg. von Gunnar Westin und Torsten Bergsten (Hg.), Gütersloh 1962, 219–220; 324–326; 473–476. - Zu Hans Hut: Glaubenszeugnisse oberdeutscher Taufgesinnter, hg. von Lydia Müller, Leipzig 1938, 10–37. - Peter Riedemann, Rechenschaft unsrer Religion, Lehre und Glaubens, 3. Aufl., Cayley, Alberta, Kanada 1974, 38–39. - Pilgram Marpeck, Aufdeckung der babylonischen Huern (Anonyme Flugschrift) in: Hans Joachim Hillerbrand, An Anabaptist Treatise of the Christian and the State, in: Mennonite Quarterly Review 32, 1, 1958, 28–47. - Pilgram Marpeck, Von der Liebe Gottes und vom Kreuz Christi (Augsburg 1546/47), in: Briefe und Schriften oberdeutscher Täufer 1527–1555. Das >Kunstbuch< des Jörg Probst Rotenfelder gen. Maler, bearb. von Heinold Fast und Martin Rothkegel, Gütersloh 2007, (Nr. 13) 372–387. - Menno Simons, Dat Fundament des Christelycken Leers, hg. von H. W. Meihuizen, Den Haag 1967. - Menno Simons, Tegens de grouwelicke ende grootse blasphemie van Jan van Leyden, Amsterdam 1627, auch in: Opera Omnia, Amsterdam 1681, 619–631 (in der Forschung wird 1535 als Entstehungsdatum angenommen).

Literatur (Auswahl)

Klaus Deppermann, Melchior Hoffman. Soziale Unruhen und apokalyptische Visionen im Zeitalter der Reformation, Göttingen 1979. - Claude Baecher, Les Eschatologies de la Haute Vallee Rehnane en Debat avec les Réformateurs (1524–1525), Strasbourg 1996. - Jürgen Moltmann, Theologie der Hoffnung. Untersuchungen zur Begründung und zu den Konsequenzen einer christlichen Eschatologie. München 1964. - John Howard Yoder, Peace Without Eschatology?“, in: Ders., The Royal Priesthood, Grand Rapids, Mich., 1994, 144–167. - Philip LeMasters, The Import of Eschatology in John Howard Yoder's Critique of Constantinianism, San Fransisco, Cal., 1992. - Nathan Kerr, Christ, History and Apocalyptic, Eugene, Or., 2009. - Ted Grimsrud, Michael Hardin (Hg.), Compassionate Eschatology, Eugene, Or., 2011. - Loren Johns (Hg.), Apocalypticism and Millennialism, Kitchener, Ont., 2000. - Loren Johns, Facing Revelation's Beasts, in: Johns (Hg.), Apocalypticism, 364–379. - J. Nelson Kraybill, Apocalypse and Allegiance, Grand Rapids, Mich., 2010. - Thomas Finger, Christian Theology: an Eschatological Approach, 2 Bde., Scottdale, Pa., 1985/1989. - Ders., Outlines of a Contemporary Believer's Church Eschatology: a dialogue with James McClendon, in: Johns (Hg.), Apocalypticism, 290–305. - James McClendon, Systematic Theology: Doctrine, Nashville 1994. - Ders., In Light of the Last Things: a Theology for the Believers' Church, in: Perspectives in Religious Studies 18, 1991, 71–78. - Norman Kraus, An Instrusive Gospel? Downers Grove, Ill., 1998. - Duane Friesen, Christian Peacemaking and International Conflict, Scottdale, Pa., 1986. - Walter Klaassen, Living at the End of the Ages. Apocalyptic Expectation inthe Radical Reformation. Lanham, Maryland, und London 1992. - John D. Roth und James M. Stayer (Hg.), Companion of Anabaptism and Spiritiualism, 1521–1700. Leiden 2007.

Thomas Finger

 
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