Chiliasmus

1. Ursprünge chiliastischer Glaubensüberzeugungen

Der apokalyptische Gedanke, dass in den letzten Tagen die Gerechten unter den Toten auferstehen werden, um sich am goldenen Zeitalter von Tausend Jahren (griech. chilias, tausend) zu erfreuen, ist im hellenistischen Judentum aufgetaucht. Aus dieser Quelle ging dann die christliche Idee in Offbg. 20 hervor, dass Satan in den Abgrund gestürzt werde und die christlichen Märtyrer aus den Gräbern auferstehen und mit Jesus Christus tausend Jahre herrschen werden. Danach werde Satan für eine Weile wieder freigelassen, darauf werden eine große apokalyptische Schlacht und eine zweite Auferstehung der Toten vor dem letzten Gericht folgen. Die chiliastische Idee fand bei den Kirchenvätern einige Unterstützung; Augustin assoziierte das tausendjährige Königreich mit der Zeit zwischen dem Leben Jesu Christi auf Erden und seiner Wiederkunft. Im 4. und 5. Jahrhundert n. Chr., nachdem die Kirche von den ökumenischen Konzilen in Kleinasien geprägt worden war, erloschen die chiliastischen Glaubensüberzeugungen und wurden fortan als heterodox angesehen.

2. Eschatologische Erwartung in der frühen Reformation Deutschlands

Die Glaubensspaltung, die von der Reformation in der westlichen Christenheit herbeigeführt wurde, steigerte die eschatologische Erwartung in hohem Maße. Martin →Luther bezog sich stets auf die bevorstehende Wiederkunft Christi auf Erden. Die meisten Täufer teilten diese Auffassung, in den „letzten, gefährlichen Tagen“ zu leben – z. B. Michael →Sattler und die frühen Hutterer. Die meisten Täufer teilten mit Luther aber auch die Abneigung, den genauen Termin der Wiederkehr Christi zu errechnen. Christus werde „wie ein Dieb bei Nacht“ kommen.

3. Vom Chiliasmus zur Apokalyptik – neue Wege der Forschung

Jene Gestalten der radikalen Reformation, die einer intensiven Polemik durch die obrigkeitlich gestützten protestantischen Kirchen ausgesetzt waren – die Zwickauer Propheten, Thomas Müntzer, Hans Hut, Augustin Bader, Melchior Hoffman und die Propheten der Täuferherrschaft zu Münster – wurden einst so beschrieben, als hätten sie auf breiter Front das Tausendjährige Reich angestrebt, um den Titel „The Pursuit of the Millennium“ des vielbeachteten Buches von Norman Cohn zu übernehmen (1. Aufl. 1957, 2. Aufl. 1970). Diese Chiliasten wurden als verrufene Revolutionäre geächtet, als Vorläufer des →Dritten Reiches im 20. Jahrhundert. Mit den Untersuchungen Bernard McGinns, die seit der Mitte der 1970er Jahre erschienen, wurde jedoch vorsichtiger mit diesem Vorwurf umgegangen: „Apokalyptik“ hat den Chiliasmus bei Weitem übertroffen und wurde als das Bewusstsein definiert, sich auf einem vorherbestimmten Lauf der Geschichte auf ihr Ende hin zu befinden. So gesehen kann ein apokalyptischer Denker radikal, er kann auch konservativ sein und ist nicht notwendigerweise verrufen. Es war gewissermaßen das Pech von Günter List, dass seine Untersuchung Chiliastische Utopie und radikale Reformation (1973) genau zwischen das Interpretationsklima geraten war, das einerseits von Cohn und andererseits von McGinn bestimmt wurde. Er hatte nach einer chiliastischen Tendenz in der Radikalen Reformation gesucht. Aus heutiger Sicht tauchen chiliastische Vorstellungen nur vereinzelt und auch nur am Rande der Reformation der Radikalen auf.

4. Zwickauer Propheten, Thomas Müntzer und Hans Hut

Um wie Luther und die traditionelle Geschichtsschreibung mit den →Zwickauer Propheten zu beginnen, waren diese Gemeindeglieder Thomas →Müntzers, bevor er Zwickau 1521 verlassen musste, eine Erfindung der lutherischen Polemik. Sie waren nicht einmal eine in sich fest gefügte Gruppe und trugen nichts zum Verständnis der apokalyptischen oder revolutionären Strömungen in der radikalen Reformation bei. Thomas Müntzer selbst verfolgte sicherlich die Vorstellung von einer Richtung, die Gott für die Geschichte vorsah. Das hat sich vor allem in seiner Fürstenpredigt über Dan. 2 gezeigt. In den Jahren 1524 und 1525 führte ihn diese apokalyptische Perspektive dahin, hohe Erwartungen in die um ihn entstehende Erhebung der Bauern zu setzen. Doch wie Emmet McLaughlin überzeugend gezeigt hat, teilte er nicht Luthers Überzeugung, dass Jesus Christus bald kommen werde. Stattdessen erwartete er eine neue Kirche, die vom Heiligen Geist geführt wird und die besten Momente der Heilsgeschichte aufnimmt, wie sie im Alten und Neuen Testament beschrieben sind. Die wörtliche Deutungsabsicht, mit der er dem Alten Testament begegnet, hat seine Auffassungen von der Ausführung des göttlichen Willens sicherlich blutrünstig und brutal eingefärbt. Müntzers Scheitern führte seinen Anhänger Hans →Hut, den großen Missionar der Täufer, zu einem stärker supranaturalistisch ausgeprägten Konzept vom Plan Gottes. Jesus sollte Pfingsten 1528 zurückkehren – dreieinhalb Jahre nach dem Ende des →Bauernkriegs. Hut wurde gefangen genommen und starb Ende 1527. Seine Augsburger Gemeinde wartete aber weiter auf die Erfüllung seiner Vorhersagen. Einer der Gemeindeleiter, Augustin Bader, erfuhr die Verzweiflung über das Ausbleiben der Wiederkunft Jesu zu Pfingsten 1528 und der übernatürlichen Befreiung besonders intensiv.

5. Der Chiliasmus Augustin Baders

Augustin →Bader war der erste Täufer, der eine authentisch chiliastische Botschaft formulierte. Er war ein Weber und unterstellte sich dem Einfluss Oswald Lebers, eines vom Ausgang des Bauernkriegs enttäuschten Priesters, der sich nach dem Aufstand in einer jüdischen Gemeinde in Worms versteckt hielt. Bader, der sich nur mit wenigen Anhängern umgab, kombinierte Huts täuferische Gedanken mit der christlichen Kabbala, wie sie der humanistische Hebraist Johannes Reuchlin vertrat, und authentisch jüdischem Chiliasmus. Mit Hilfe kabbalistischer Berechnungen legte er den Großen Tag auf Ostern 1530 fest. Die Türken würden die alte gottlose Ordnung zerstören, dann würde Bader auf Grund seiner geistlichen Erleuchtung zum messianischen König gewählt werden. Er und seine direkten Nachkommen würden tausend Jahre herrschen. Anselm Schubert hat in seiner neuen Biographie Baders dem modernen Zeitgenossen geholfen zu verstehen, wie in einer Atmosphäre religiöser Erregung solch ein Ansinnen alles andere als eine Geisteskrankheit gewesen sei. In der Reformationszeit wurde es unweigerlich als Verrat gedeutet und brutal unterdrückt.

6. Apokalyptischen Visionen im melchioritischen Täufertum

In Jahr 1530, das Bader für den Großen Tag vorgesehen hatte, setzte Melchior →Hoffman seine Art des Täufertums in Emden (Ostfriesland) in Gang. Seit 1526 hatte er den Termin für die Wiederkunft Christi auf 1533 festgesetzt. Er bezog die Erwartungen, die er aus der Offenbarung des Johannes ableitete, auf die freie Reichsstadt Straßburg. Im Frühjahr 1533 wurde Hoffman in Straßburg inhaftiert. Die nächsten zehn Jahre verbrachte er im Gefängnis bis zum Ende seines Lebens. Seine Bewegung entglitt ihm schnell und wurde von dem wohl derangierten Haarlemer Bäcker Jan Matthijs weitergeführt. Im Januar 1534 begannen Sendboten des Jan Mattijs Erwachsene im westfälischen →Münster zu taufen. Am 23. Februar gewannen Sympathisanten der Täufer die jährlichen Ratswahlen in der Stadt. Danach erschien Jan Matthijs, der die Wahlen abwartete, in der Stadt, die jetzt zum Neuen Jerusalem ausgerufen wurde. Es sagte voraus, dass die Welt vor Ostern 1534 (5. April) schrecklich gestraft würde und dass nur Münster eine Stadt der Zuflucht für die Auserwählten sei. Diese Ankündigung des Propheten setzte eine größere Wanderungsbewegung der Melchioriten aus den Niederlanden und Westfalen nach Münster in Gang. Viele wurden von den Habsburger Behörden zurückgehalten, 2500 Einwanderer erreichten jedoch Münster, wo sie in den Häusern untergebracht wurden, die von katholischen und evangelischen Einwohnern verlassen worden waren, um der Herrschaft der Täufer und der militärischen Belagerung zu entfliehen, die Ernst von Waldeck, der Fürstbischof Münsters, Ende Februar eingeleitet hatte. Nachdem der 5. April 1534 ohne übernatürliche Ereignisse verstrichen war, brach der Prophet Jan Matthijs aus der belagerten Stadt aus und stürzte sich selbstmörderisch in den Tod. Das Schicksal Münsters wurde fortan von dem nächsten hervorragenden Propheten, Jan Bockelson van Leiden, beherrscht. Er wurde im September zum König gekrönt, zum messianischen David, der die verbliebenen unerfüllten Weissagungen der Heiligen Schrift erfüllen werde, bevor er sein Königreich Christus, dem wahren, ewig herrschenden Salomon übergeben werde. Münster wurde in einer Reihe von Veröffentlichungen Bernhard →Rothmanns, des Reformators der Stadt, in die Heilsgeschichte eingeschrieben. Es waren vor allem seine radikalen sakramentaristischen Glaubensüberzeugungen, die Münster für das Eindringen melchioritischer Anschauungen geöffnet hatten. Rothmanns Schriften, die den Melchioriten in den umliegenden Gebieten die Ereignisse in Münster erklären sollten, sind apokalyptisch, aber nicht chiliastisch orientiert. Sein Thema, das auf der Titelseite eines seiner wichtigsten Werke erschien, war Restitution (1535). Nach Rothmann war die Heilsgeschichte eine Serie von Abfall und Restitution. Der erste Abfall unter der berüchtigten Jezebel wurde mit einer dreieinhalbjährigen Dürre bestraft, die vom Propheten Elia verkündet worden war. Ein zweiter Abfall endete in einer zwanzigfachen Vergrößerung des ersten Abfalls in der Babylonischen Gefangenschaft und dauerte siebzig Jahre. Die wahre Kirche fiel in Hurerei einhundert Jahre nach der Auferstehung Jesu Christi; und eine zwanzigfache Multiplikation der Babylonischen Gefangenschaft brachte einen Niedergang der Kirche von 1400 Jahren hervor, der mit der großen Restitution ca. 1533 oder 1534 beendet wurde, mit dem Anbruch der Täuferherrschaft in Münster. Obwohl König Jan van Leiden und Rothmann ihr davidisches Reich in Münster als die einzig legitime Herrschaft auf Erden betrachteten, scheinen sie sich keine Sorgen über eine Eroberung der ganzen Welt gemacht zu haben. Der Rest der Welt sollte von ihrem Modell und Beispiel lernen.

7. Chiliastische Resignation bei Jan van Leiden

Als die militärische Situation der belagerten Stadt im Frühjahr 1535 immer hoffnungsloser zu werden schien, fasste Rothmann die Möglichkeit ins Auge, das täuferische Münster könne durchaus noch „unter die Füße des Tieres“ aus dem Traumgesicht Daniels getreten werden (Bernhard Rothmann, Schriften, 441). Nun schien Münster zum Archetyp nicht eines gegenwärtigen, sondern eines zukünftigen Gottesreiches geworden zu sein. Die chiliastische Stellungnahme des gefangenen Königs Jan van Leiden im Verhör mit Antonius Corvinus, der im Januar 1536 aus Wittenberg angereist war, war ein letzter Versuch, die Bedeutung der täuferischen Stadt vernünftig zu erklären. „Ir muesset aber das geistliche reich Christi (…) so in die zeit des leidens gehoert, von den andern Reich, so nach der aufferstehung, ein zeitlang, nemlich tausent jar in dieser Welt, on alle widerstand sein vnd wehren sol, eigentlich wissen abzusondern. Denn alle Sprueche, so von geistliche reich Christi, hin vnd wider in der Schrifft gesagt warden, gehoeren in die zeit des leidens. Die andern aber, so in den Propheten, vnd in Apocalypsi, von leiblichen Reich sagen, gehoeren in die zeit der glory vnd herrligkeit, so Christus in dieser Welt mit den seinen haben sol“ (Antonius Corvinus, Acta, 1536). So wurde das täuferische Münster schließlich der vorchiliastischen Zeit des Leidens zugeordnet.

Der Chiliasmus war eine vereinzelte und marginale Idee unter den Täufern, die den stärksten Ausdruck bei Augustin Bader und Jan van Leiden, dem verheißenen David, fand. Beide standen unter dem Einfluss jüdischer Apokalyptik und alttestamentlicher Messiaserwartung.

Bibliografie

Quellen

Antonius Corvinus, Acta, Handelung, Legation vnd Schriffte, in: Martin Luther: Schriften, Wittenberg 1557, Bd. 2, fol. 363v. ff. - Thomas Müntzer: Schriften und Briefe. Kritische Gesamtausgabe, hg. von Günther Franz, Gütersloh 1968. - Die Schriften Bernhard Rothmanns, hg. von Robert Stupperich, Münster i. W. 1970.

Literatur

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James M. Stayer

 
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