Ethik

Der Ergänzungsband zur Mennonite Encyclopedia enthält keinen Eintrag zum Stichwort „Ethik“. Das ist umso erstaunlicher, als in der Tradition des Täufertums, die von den Mennoniten weitergeführt wird, der Akzent auf den Glaubensgehorsam und die Glaubenspraxis gelegt wird, während die an der Individualität des Glaubenden orientierte Rechtfertigung des Sünders aus Gnade allein, die Luther so deutlich zur Geltung gebracht hat, in den Hintergrund tritt. Statt eines Artikels zur „Ethik“ verweist dieser Ergänzungsband auf die Stichwörter, die für das ethische Denken bedeutsam sind: Nachfolge, Nonkonformität, Gerechtigkeit, Frieden, Bergpredigt, Hilfswerk, Entwicklung etc. und bestätigt damit die zentrale Stellung der Ethik in der Theologie der Mennoniten. Darauf hatte schon der Artikel von J. Lawrence Burkholder im 4. Band der Mennonite Encyclopedia (1959) deutlich hingewiesen. Dennoch bleibt unerklärlich, warum dieser Artikel nach vierzig Jahren nicht erneuert wurde, denn seither ist die Diskussion um den Charakter einer Ethik aus dem Geist des Täufertums intensiver als zuvor geführt und in den Beratungen der Kirchen um das christliche Friedenszeugnis in der Gegenwart fortgesetzt worden.

1. Zur Begründung der Ethik

Der Begriff „Ethik“ wird vom griechischen „Ethos“ (Sitte, Gewohnheit, Gesinnung) abgeleitet und bezeichnet die Lehre vom Verhalten und Handeln des Menschen in der Gemeinschaft, die seine Lebenswelt (Polis) ist. So hat, grob skizziert, Aristoteles die Ethik bestimmt und das Nachdenken über Ethik im Laufe der abendländischen Geschichte stark geprägt. Immer wieder bezogen sich Philosophen und Theologen auf seine Nikomachische Ethik und machten sich den einen oder anderen Akzent dieser Grundüberlegungen zur Ethik zu nutze. Nicht umstritten war, dass Regeln oder Gesetze gefunden werden mussten, das Zusammenleben der Menschen gedeihlich zu gestalten; umstritten dagegen war die Frage, ob solche Regeln und Gesetze normative Forderungen seien, die an jedem Ort und zu allen Zeiten gelten, oder ob sie nicht doch nur von Fall zu Fall eine gewisse Geltung beanspruchen dürfen. Aristoteles hatte einen Weg gesucht, zwischen dem Absolutheitsanspruch normativer Forderung, wie Platon ihn vertrat, und der Relativierung dieser Forderung durch die so genannten Sophisten zu vermitteln (Günter Bien, Grundpositionen der antiken Ethik, 64–71). Auch in der weiteren Entwicklung des ethischen Denkens haben sich extreme und gemäßigte Positionen von Zeit zu Zeit ergeben. Eine extreme Form der Ethik ist eine Prinzipienethik, deren Normen außerhalb jeder Anstrengung des Menschen zu suchen sind (transzendentale Begründung) und an jedem Ort und zu jeder Zeit zur Anwendung kommen müssen. Das andere Extrem ist eine Situationsethik, die Gründe für eine ethische Reaktion aus Anregungen bzw. Ansprüchen bezieht, die sich aus einer konkreten Situation ergeben und zu einer Gewissensentscheidung führen. Dazwischen liegen ethische Entwürfe, die aus kritischen Erörterungen der extremen Lösungsvorschläge entstanden sind: Gesinnungsethik, Pflichtethik, Ethik des Utilitarismus oder Pragmatismus, Tugendethik, Verantwortungsethik etc. Die Suche nach Begründungen für eine Ethik ist unabgeschlossen, und zumindest für eine Ethik aus dem Geist der Philosophie nicht zu erwarten: „Da es in der Philosophie keine niederschmetternden Argumente gibt und da jede Theorie Grenzen hat, grenzt die Hoffnung auf eine abschließende Begründung der Ethik an Größenwahn“ (Jean-Claude Wolf, Grundpositionen der neuzeitlichen Ethik, 92).

2. Die Bemühung um das Humanum – die Aufgabe der Ethik

Die Aufgabe einer Ethik, wie sie dem Geist der christlichen Botschaft entspricht, wird nicht an den philosophischen Bemühungen um eine Grundlegung der Ethik vorbeigehen, sondern im Zusammenhang und in Rufnähe zu diesen Bemühungen erfasst werden müssen, zumal die großen geistigen Bewegungen der Menschheit den säkularen Menschen genauso berühren, seinem Leben Sinn und Richtung verleihen, wie sie denjenigen betreffen, der sein Leben an der christlichen Botschaft ausrichtet. Christen sind wie Nichtchristen in gleicher Weise genötigt, sich mit den Problemen auseinanderzusetzen, die ihnen das Leben schwer machen und die um eines gedeihlichen Zusammenlebens der Menschen willen zu lösen sind, d. h. die sich vom Humanum her und nicht erst mit dem Vernehmen der christlichen Botschaft stellen und nach Lösungen verlangen. Hier gilt, was Wolfgang Trillhaas jeder christlichen Ethik ins Stammbuch geschrieben hat: „In aller Ethik ist das Humanum das Erste und das Christianum das Zweite“ (Wolfgang Trillhaas, Ethik, 6). →Aufklärung und Historismus sind ein tiefer Einschnitt in die Bemühungen aller Menschen der Neuzeit, ihrem Verhalten und Handeln einen lebenswerten Sinn zu geben. Einerseits wird die Vernunft zum Forum, vor dem sich Verhalten und Handeln zu verantworten haben – vor keiner anderen Instanz. Den berühmtesten Ausdruck hat diese Forderung in dem Kategorischen Imperativ Immanuel Kants gefunden: „handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werde“ (Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, 70). So wird der Vernunftgebrauch zum Inbegriff sittlichen Handelns selbst. Das „Sittengesetz“ wird von allen materiellen Elementen befreit bzw. Verbindungen gelöst, es wird deontologisiert, d. h. es steht in sich selbst und versetzt den Menschen in die Lage, in aller Autonomie aus sich selbst heraus verantwortlich gegenüber allen Mitmenschen zu handeln. Andererseits sind alle Werte, die dem Verhalten und Handeln der Menschen einen Sinn verleihen, von dem Ort und von der Zeit bestimmt, in denen sie zur Geltung gebracht werden. Freiheit, Gerechtigkeit und Brüderlichkeit, um nur diese zu nennen, sind nicht zeitlose oder absolute Werte, sondern geschichtlich bedingt und begrenzt. Sie sind relativ. Christliche Theologie und Ethik sind nicht verpflichtet, sich zum Sprachrohr dieser neuzeitlichen Entwicklungen zu machen, sie werden aber den Vernunftanspruch neuzeitlicher Subjektivität verarbeiten müssen, wenn sie ihre Vorschläge ausarbeiten, wie Menschen mit ihrem Leben fertig werden und ihrer Welt einen Sinn geben sollen.

Die entscheidenden Fragen, die jedes Lehrbuch der Ethik zu beantworten hat, stellen sich im Verhalten der Menschen zueinander und im Handeln miteinander ein. Hier gilt es, die richtigen Antworten zu finden, Antworten, die über das Wohl und Wehe der Menschen entscheiden, im Sinne der Reformation des 16. Jahrhunderts gesprochen, über ihr Heil. So wird deutlich, dass im praktischen Vollzug des Glaubens beispielsweise das Menschsein des Menschen auf dem Spiel steht, also auch seine Stellung vor Gott und Gottes Einstellung zu ihm. Die reformatorische Rechtfertigungslehre, dass der Sünder aus Gnade allein gerecht gesprochen wird, hatte zunächst alle Kräfte für den Aufbau einer evangelischen Theologie absorbiert, so dass keine eigenständige Ethik entwickelt werden konnte. Es dauerte wohl ein halbes Jahrhundert, bis sich im Luthertum die Einsicht Bahn brechen konnte, „dass gute Werke für das Christenleben notwendig seien und doch kein Verdienst vor Gott bedeuten könnten“ (Wolfgang Trillhaas, Ethik, 11). In ihr volles Recht ist die Ethik aber trotzdem nicht eingesetzt worden. Sie wurde nur zum „Nachsatz der Dogmatik“ (ebd., 11). Einen anderen Weg hatten im reformatorischen Aufbruch die →Täufer beschritten. Wenn sie in der →Nachfolge Jesu Christi den Kern christlicher Religiosität zu sehen meinten, war das nicht der Versuch, die Rechtfertigungsbotschaft (Lehre) zu verdrängen, sondern ihr eine konkrete Gestalt in der religiösen Praxis zu geben. Dafür steht die berühmte Aussage Hans Dencks: „Das mittel (der Vermittler des Heils) aber ist Christus, welchen nyemandt mag warlich erkennen, es sey dann, das er im nachvolge mit dem leben“ (Hans Denck, Schriften, II, 45). So wurde die Theologie in der Ethik zur Sprache gebracht. Zwischen beiden grundsätzlich zu unterscheiden, ist müßig, denn Dogmatik und Ethik sind miteinander zusammenhängende Teile der Theologie. Wie eng beide ineinander gedacht werden, hat sich in neuerer Zeit besonders eindrucksvoll in der Kirchlichen Dogmatik Karl →Barths gezeigt. Werden Dogmatik und Ethik aber weiterhin als getrennte Disziplinen geführt, dann hat das heute – anders als im 19. Jahrhundert etwa – nur noch einen pragmatischen Grund. Auch in der Theologie sind die Probleme so komplex und kompliziert geworden, dass es ratsam ist, um auf der Höhe der Zeit zu bleiben, sich die Arbeit in Forschung und Lehre aufzuteilen. Besonders auf dem Gebiet der Ethik ist die Theologie darauf angewiesen, eine Zusammenarbeit mit zahlreichen wissenschaftlichen Disziplinen zu suchen, der Philosophie, den Sozial- und Kulturwissenschaften, der Psychologie, Biologie, Medizin und Technologie beispielsweise, so dass eine Spezialisierung des theologischen Fächerkanons unumgänglich ist. Nur so lässt sich das Mitspracherecht der Theologie in allen Fragen, die sich den Menschen stellen, sichern, und so wird die Theologie dazu beitragen, ein menschenwürdiges Leben für alle zu fördern.

3. Die „Besserung des Lebens“ – der Akzent im Täufertum

Die Täufer haben den meritorischen Charakter der guten Werke wie die Reformatoren in Wittenberg, Zürich und Genf verworfen, wohl aber haben sie darauf bestanden, gute Werke als Früchte des Glaubens im Sinne des Jakobusbriefes (Jak. 2, 17) hervorzubringen (→Rechtfertigung). Die Gründe für diese Akzentverschiebung, die sich noch innerhalb des allgemeinen reformatorischen Aufbruchs vollzogen hat, mögen vielfältig sein. Ein wesentlicher Grund ist offenbar die besondere Art der Täufer gewesen, das antiklerikale Auseinandersetzungsmilieu der frühen Reformationszeit zu verarbeiten. Der Kampf gegen die nachlässige Amtsführung und das lasterhafte Leben des Klerus, die sie für den Niedergang der Christenheit verantwortlich machten, hat sie veranlasst, im Gegenzug zum verkommenen Priester etwa den lauteren Lebenswandel der frommen Laien herauszustellen bzw. die Kirche, die über die Hierarchie des Klerus definiert wurde, durch die Kirche zu ersetzen, die aus glaubensgehorsamen Laien gebildet wird (→Antiklerikalismus, →Allgemeines Priestertum). In diesem Sinne hatte Menno Simons der Ecclesia Antichristi die Ecclesia Christi entgegengesetzt. So ging es den Täufern in erster Linie um eine „Besserung des Lebens“, d. h. um einen lauteren, moralisch integren Lebenswandel in der Nachfolge Christi, aber auch um eine Verbesserung der allgemeinen Lebensverhältnisse: um einen schlichten Gottesdienst genauso wie um gegenseitige Hilfe im Alltäglichen und um den Verzicht auf Zwang und Gewalt im öffentlichen Leben (vgl. Hans-Jürgen Goertz, Die Täufer, 67–75). Wie der aufständische „gemeine Mann“ im Bauernkrieg um 1525 strebten auch die Täufer eine Welt der Nächstenliebe und Brüderlichkeit an (→Bauernkrieg). Von solchen kräftigen ethischen Impulsen war ihre Religiosität geprägt, wie sie vor allem in der Nachfolge Jesu Christi in Erscheinung trat (s. Harold S. Bender, The Anabaptist Vision, 1943). Das brachte viele gegen sie auf, katholische und protestantische Geistliche ebenso wie weltliche Obrigkeiten, das strahlte auch auf ihre Umgebung aus und ebnete ihren Gemeinden den Weg, nach leidvoller →Verfolgung und →Martyrium als bescheidene und willfährige Glaubensgemeinschaften, als die „Stillen im Lande“, im privilegierten Schutz weltlicher Obrigkeiten überleben zu können (→Konfessionalisierung). So könnte von einer Ethisierung des Glaubens gesprochen werden, die sowohl die anfängliche Aufmüpfigkeit der Täufer erklärt als auch ihre spätere Untertänigkeit. Sie erklärt auch, wie es kam, dass sich Täufer und Mennoniten – vor allem in den Niederlanden und Nordwestdeutschland – einerseits dem Geist der →Aufklärung mit ihrer exzeptionellen Bemühung um eine Neubegründung der Moralität öffneten und andererseits dem →Pietismus mit seinem die religiöse Subjektivität erfassenden Ernst, sich von einem Leben in Sünde abzukehren und ein Leben im Glaubensgehorsam zu führen.

4. Ethik in der mennonitischen Theologie der Gegenwart

J. Lawrence →Burkholder hat Ende der fünfziger Jahre des letzten Jahrhunderts mit einiger Verwunderung festgestellt, dass trotz der ethischen Akzentuierung der eigenen Tradition niemand im Mennonitentum versucht habe, „to treat ethics systematically as a seperate theological discipline“, und er hat das auf eine „simple piety“ und eine „theological naiveté“ zurückgeführt, die den Mennoniten eigen war (J. Lawrence Burkholder, Art. Ethics, 1079). Ihr einfaches Leben hat ihnen offensichtlich genügt, eine Selbstgenügsamkeit, die sie als dankbare und gehorsame Antwort auf das ihnen gewährte Heil in Jesus Christus verstanden. Diese Haltung, die sich zu einer resistenten Mentalität herausgebildet hatte, wurde in neuerer Zeit allmählich von dem Bedürfnis zahlreicher Mennoniten verändert, auf theologisch reflektierte Weise Rechenschaft von den Grundlagen und Auswirkungen ihrer traditionellen Glaubenspraxis abzulegen. Bereits Burkholder hatte diese Aufgabe mit seiner Dissertation über das Problem sozialer Verantwortung (Princeton 1958) in Angriff genommen und war zu Lösungen gelangt, die bei den theologischen Vertretern des traditionellen Mennonitentums in Nordamerika auf Befremden stießen. Er wies auf die Grenzen einer perfektionistisch angelegten Ethik hin und bemühte sich, für eine Ethik zu werben, die sich nicht scheute, ohne konfessionelle Vorbehalte Verantwortung für Staat und Gesellschaft direkt zu übernehmen (J. Lawrence Burkholder, The Limits of Perfection, 1993/1996). Ebenfalls in Augenhöhe mit Theologen anderer Konfessionen sind in neuerer Zeit dann vor allem drei Konzepte entwickelt worden, in denen sich die Verknüpfung von Dogmatik und Ethik auf besonders eindrucksvolle Weise darstellt: in der Konstruktiven Theologie Gordon D. Kaufmans, in der Theologischen Sozialethik John Howard Yoders und in der Grundlegung der Ethik in der klassischen Theologie, wie A. James Reimer sie auszuarbeiten begann.

(1) In einem autobiographischen Rechenschaftsbericht bekennt sich Gordon D. →Kaufman zum ethischen Akzent seiner mennonitischen Tradition und stellt die „religiösen und metaphysischen Wahrheitsansprüche“ in den Dienst der Bemühungen um ein „richtiges Leben“ (Gordon D. Kaufman, The Mennonite Roots of My Theological Perspective, 3). Das gilt auch für sein Spätwerk In the Face of Mystery (1993), in dem kaum direkte Anspielungen auf seine mennonitischen Wurzeln zu erkennen sind, dennoch ist das Bemühen, „ein Bild oder eine Konzeption des menschlichen Lebens in der Welt unter Gott“ hervorzubringen, ein Akzent, der dem täuferischen Anliegen einer „Besserung des Lebens“ ähnlich ist. Verlässlicher, als die religiösen oder metaphysischen Wahrheiten in „Beziehung“ zu den „Dingen, wie sie wirklich sind“ zu setzen, ist es allemal, die „pragmatischen Implikationen für sich entwickelndes menschliches Leben und Wohlergehen“ zu beschreiben (Gordon D. Kaufman, The Mennonite Roots of My Theological Perspective, 3). Im Untertitel nennt Kaufman sein Spätwerk „A Constructive Theology“ und setzt seine theologische Arbeit damit von einer hermeneutisch verfahrenden Theologie ab, die ihre Aufgabe darin sieht, die biblischen Texte und kirchlichen Traditionen in unsere Zeit zu übersetzen. Auf diese Weise werde seiner Meinung nach auch die gesamte Weltsicht (Ontologie, Kosmologie) einer vergangenen Zeit, aus der heraus die christliche Botschaft entstanden ist, mit in die Gegenwart transportiert und zum Gegenstand des Glaubens erklärt. Ihm kommt es stattdessen darauf an, die christliche Botschaft, die er dem biblischen Text entnimmt, aus unserer Zeit heraus neu zu Sprache zu bringen, nämlich herauszufinden, was es heisst, sich unter dem Symbol „Gott“ oder „Christus“ (Symbol, weil dem Menschen keine direkte Gotteserkenntnis möglich ist) im Leben zu orientieren und moralisch zu verhalten: in Liebe zum Mitmenschen, friedfertig und versöhnlich. Darin sieht Kaufman die einzige Möglichkeit, von der Präsenz Gottes in unserer Zeit her zu denken und ihn in der Wirklichkeit zur Sprache zu bringen, wie sie sich dem Menschen heute erschließt und als historische Entwicklungsstufe des „Humanum“ darstellt. So bemüht Kaufman sich unentwegt darum, den biohistorischen Entwicklungszustand des Menschen in seiner Welt zu ergründen, schließlich in Beziehung zu Gott zu setzen und der in der Christologie sichtbar gewordenen Norm auszusetzen, wie ein humanes Leben aussehen soll. Damit liefert er die christliche Botschaft nicht an die Denk- und Erkenntnismöglichkeiten und -zwänge der →Moderne aus, wie ihm oft vorgeworfen wurde, sondern bringt sie in unserer Zeit so zur Sprache, wie sie einst aus der Weltsicht ihrer Zeit – im Urchristentum oder im Täufertum – zur Sprache gebracht wurden.

Dreierlei ist bemerkenswert: Erstens verändern sich die Werte, die das moralische Leben bestimmen, im Laufe der Geschichte, sie sind relativ und nicht in einem absoluten Sinne normativ. Das wird nach Relativism, Knowledge, and Faith (1960) gleich noch einmal besonders intensiv auf die Arbeit an der Ethik in The Context of Decision. The Theological Basis of Christian Ethics (1961) bezogen und in der Aufsatzsammlung zu Nonresistance and Responsibility and Other Mennonite Essays (1979) auf die typisch mennonitische Problematik der Friedensethik zugespitzt. Zweitens wird Gott im Rahmen dieser konstruktiven Theologie in der Lebenswelt der Menschen als „Kreativität“ wahrgenommen. Es ist allerdings nicht die berechenbare Kreativität des Menschen, sondern die in ihr wirkende, sie aber auch transzendierende „serendipitous creativity“, die Kaufman im Zusammenhang mit dem symbolischen Gottesverständnis erörtert (Gordon D. Kaufman, In Face of Mystery, 273–280 u. ö.). Diese Kreativität führt zur Entfaltung des Humanum in dem biohistorischen Entwicklungsprozess des Menschen und schafft Neues. Drittens erschließt diese Theologie so neue Räume des Verhaltens und Handelns, in denen die Menschen sich auf eine vorher noch unbekannte Weise orientieren, nach neuen Regeln des Verhaltens suchen und weiter auf den Weg zu ihrer Menschwerdung begeben werden. Darin wird sich die „erlösende Liebe“ (redemptive love) als „wahrlich richtig und gut für die Menschen“ erweisen (Gordon D. Kaufman, Nonresistance and Responsibility, 115, Anm. 8). So hat Kaufman den ethischen Impuls seiner täuferisch-mennonitischen Tradition modernisiert und in veränderten Situationen auf freiere Weise zur Sprache gebracht, als es traditionellerweise geschah. Trotz der irreversiblen Erfahrung der Relativität der Werte hat Kaufman es nicht aufgegeben, nach der Normativität des Humanum zu suchen (Gordon D. Kaufman, In Face of Mystery, 125–140). Wohl waren die Täufer von der Absolutheit ihrer ethischen Normen überzeugt, doch es ging ihnen nicht darum, diese doktrinär zu begründen und zu verteidigen, sondern allein darum, sich im Alltag an gottgewollten Normen zu orientieren und das Leben danach zu gestalten. Daran hat sich auch Kaufman orientiert.

Für ihre Zeit haben die Täufer gewollt, was Kaufman für seine Zeit durchdacht hat: Gott in ihrem alltäglichen Leben wirksam zu sehen und zu verehren. Allerdings haben sie in dem antiautoritären Zug, den sie im antiklerikalen Fahrwasser frühreformatorischer Auseinandersetzungen ausbildeten, und der Mahnung, keinen Glaubenszwang auszuüben, noch nicht die relativistische Konsequenz erkennen können, wie Kaufman sie sich nach Aufklärung und Historismus zu ziehen genötigt sah. Wo die pazifistische Forderung auf offene Ohren stößt, wird sie von Kaufman als eine gestaltende Kraft akzeptiert. Sobald sie aber auf Zurückhaltung oder Widerstand stößt und sich weder im Staat noch in der Gesellschaft durchsetzen lässt, versteht Kaufman „redemptive love“ als Aufforderung, niemandem eine pazifistische Haltung aufzudrängen und in entsagungsvoller Liebe sogar soweit zu gehen, ein Vorgehen in Staat und Gesellschaft zu unterstützen, die dem Pazifismus unter Umständen widerspricht, wenn sie nur den Vorsatz stärkt, „to become more clearly aware of its own highest convictions“ (Gordon D. Kaufman, Nonresistance and Responsibility, 51). So vertritt Kaufman eine pazifistische Position, die in der Lage ist, die Liebe Gottes, aus der sie lebt, gegen ihre eigene Perversion zur Geltung zu bringen: entsagungsvoll, ohne Zwang und Absolutheitsanspruch. Der Pazifist braucht aus seiner ethischen Überzeugung keinen Hehl zu machen, selbst wenn er denjenigen unterstützt, der sich nicht zu einer pazifistischen Position durchringen kann oder das aus guten Gründen auch nicht darf. Darin sieht Kaufman aber keinen Kompromiss, den der Pazifist eingeht und die ethische Forderung der Nachfolge Christi verwässert, sondern das Gegenteil: die unerschütterliche, sich aus der Liebe herleitende Verantwortung für den anderen Menschen und die Gesellschaft (Gordon D. Kaufman, Resistance and Responsibility, 75 und 78). Darin dürfte die Norm zu sehen sein, unter der sich das Humanum entwickelt. Diese Norm ist nicht im Jenseits verankert, unabhängig von Ort und Zeit, Kaufman sieht sie in Jesus verkörpert, aber nicht im göttlichen Ursprung Jesu autoritativ begründet. Entscheidend ist, dass diese Norm für diejenigen überzeugend ist, die sich für sie entscheiden und für die sie sich im Diesseits von Fall zu Fall aktualisiert und realisiert. Liebe ist Zuwendung zu demjenigen, der ihrer bedürftig ist, und scheut sich nicht, sich auch in den Tiefen der Sünde mit jedem zu solidarisieren, der Rat und Hilfe braucht. Darin ist sie kompromisslos. Wird die Liebe so aufgefasst, ergibt sich bei Kaufman eine Weiterung der ethischen Problematik über Fragen des traditionell mennonitischen Pazifismus hinaus. Eine solche Veränderung deutete sich in seiner Theologie für das Nuklearzeitalter (1987) bereits an und beherrschte sein späteres Denken von Grund auf. So fühlte Kaufman sich für die Gestaltung der internationalen Beziehungen mit verantwortlich und wurde zu einem entschiedenen Kritiker der amerikanischen Interventionspolitik unter George Bush. Auch suchte er das Gespräch mit anderen Weltreligionen und setzte sich dafür ein, alle Kräfte gegen gewaltorientierte Auseinandersetzungen und das militärische Zerstörungspotential der Staaten zu mobilisieren und die Schöpfung zu bewahren (s. auch sein Kapitel über „An Ecological Ethic“, in: In Face of Mystery, 194–209).

(2) Auf eine andere Weise hat John Howard →Yoder die theologischen und ethischen Aspekte der christlichen Botschaft zusammengezogen und das Heilsangebot Gottes in Jesus Christus in der Begrifflichkeit einer Sozialethik erörtert. Den Akzent seines theologischen Denkens hat er im Anschluss an seine Studien zum frühen Täufertum in der Schweiz auf die Ekklesiologie gelegt. Die Kirche ist für ihn die „messianische Gemeinschaft“, die auf dem Weg in das Königreich Gottes am Ende der Tage ist und sich in ihrer sichtbaren Gestalt jetzt schon als eine „Gesellschaft“ präsentiert, in der die Menschen nicht mehr nach den Regeln der gefallenen Schöpfung leben, sondern wie sich ihnen in der Nachfolge Jesu Christi, der diese andere Gesellschaft gestiftet hat, das Leben in miteinander versöhnter, vom Frieden durchdrungener und Frieden schaffender Gemeinschaft als alternative, ganz andere Gesellschaft jetzt schon nahe legt. In diesem Sinne sprach Yoder von der „Otherness of the church“ (John Howard Yoder, The Royal Priesthood, 53–64). Yoder trennt sehr deutlich zwischen Kirche und Welt und findet den Grund dafür in der Wende vom alten zum neuen Äon, die sich in Kreuz und Auferstehung Jesu Christi vollzogen hat. Auch wenn Christus der Herr der Kirche und der Herr der Welt ist und die Mächte dieser Welt entmachtet sind, bleibt die Trennung bestehen. Die Kirche bekennt sich zu Jesus Christus als ihrem Herrn, während die Welt dieses Bekenntnis verweigert. Dennoch sind die staatlichen und gesellschaftlichen Institutionen in den Dienst der Schöpfung genommen worden. Die Obrigkeit ist die Dienerin Gottes, die darauf eingestellt (hingeordnet) wurde, die Bösen zu strafen und die Guten zu schützen (Röm. 13, 4), um auf diese Weise zu vermeiden, dass die Welt, so sehr sie gegen Gott rebellieren mag, im Chaos versinkt. Die Machtbefugnisse der Obrigkeit finden aber ihre Grenze an der Kirche Jesu Christi, und umgekehrt wird die Kirche nach Yoder sich hüten, mitregierend in den Machtbereich des Staates einzugreifen und seine Geschäfte bzw. den Lauf der Geschichte zu kontrollieren. Das ist seiner Meinung nach aber mit der →konstantinischen Wende geschehen und hat zum Verlust einer eigenständigen christlichen Ethik geführt. Dem Staat gegenüber kann die Kirche, so fordert Yoder, nur mit ihrem Wort und mit ihrer Existenz Zeugnis davon ablegen, dass Gott sich die Welt mit ihren Institutionen ganz anders gedacht hat, als sie ist. Mit ihrer Existenz, die in ihren Praktiken einen sichtbaren Ausdruck findet, wird sie nicht ohne konkreten Einfluss auf das Geschehen in Staat und Gesellschaft sein und auf diese Weise zeigen, dass sie Verantwortung für Staat und Gesellschaft übernimmt. Das beschreibt Yoder in Body Politics (2001) und zeigt, dass die Welt das Anderssein der Kirche wahrzunehmen weiß, aber den Sinn ihrer Praktiken nicht in ihrem eigentlichen Sinn, wohl aber in analoger Weise versteht. Um zwei Beispiele zu geben: In der →Taufe beispielsweise werden die sozialen und ethnischen Unterschiede unter den Menschen eingeebnet, das könnte als Anregung aufgefasst werden, ein weltliches Gemeinwesen auf eine egalitäre Basis zu stellen. In der Bergpredigt Jesu wird die Feindesliebe als ein Verhalten verkündigt, das zur Versöhnung der Menschen miteinander führt. Das könnte dazu anregen, im weltlichen Bereich Konflikte und Auseinandersetzungen auf gewaltfreie Weise zu lösen oder zu versuchen, militärische Kampfhandlungen so schnell wie möglich einzustellen, ohne den eigenen Untergang befürchten zu müssen.

Yoder wird nicht müde zu beteuern, dass die Kirche anders ist als die Welt, weil sie jetzt schon ist, was sie bezeugt: das Heil, das Gott in der Zuwendung zu den Menschen und in der Gemeinschaft mit ihnen jetzt schon bereitstellt. Ihrer inneren Struktur nach ist diese Kirche eine Art „Polis“ als eine neue Schöpfung, die nicht nur verheißen wird, sondern jetzt schon Wirklichkeit geworden und allenthalben sichtbar ist. So geht es Yoder vor allem und zuerst darum, das Leben, das Verhalten und Handeln der Menschen in dieser von Jesus gestifteten neuen Polis zu beschreiben und für die eigene Gegenwart auszulegen. Nicht von ungefähr hat er das Buch, das diese Aufgabe einzulösen versucht, unter dem Titel The Politics of Jesus (1972) veröffentlicht und eine spätere Abhandlung, die das Handeln der Kirche thematisiert, unter dem Titel The Body Politics (1984) geschrieben. „Politik“ ist hier alles, was Jesus in seinem Erdenleben sagte und tat, wie er sich das Zusammenleben der Menschen vorstellte, was er von seinen Nachfolgern erwartete und was er ihnen in Aussicht stellte. Yoder spricht von „Politik“, weil es um die Verhältnisse und ihre Regelung in einem neuen Gemeinwesen geht, das anders ist als alle Gemeinwesen unter den Bedingungen der gefallenen Schöpfung. Im Grunde ist „Politik“ der Inbegriff des Heils und des Ethos, das in diesem neuen Gemeinwesen präsent ist und herrscht, und die Beschreibung dieses Ethos ist „Sozialethik“. Zweierlei ist daran bemerkenswert: Erstens orientiert Yoder die christliche Ethik, was gewöhnlich im ethischen Denken der Theologen anderer Konfessionen seiner Meinung nach nicht der Fall ist, am Wirken des irdischen Jesus. Er wird zur „Norm“ ethischer Einsichten und Forderungen heute. Zweitens wird Sozialethik, die alle Verhältnisse und Praktiken in einer Gemeinschaft thematisiert, in der jetzt schon das Heil verwirklicht ist, zum Evangelium. So spricht Yoder nicht nur davon, dass die Ekklesiologie, sondern auch das „Königreich Gottes“ Sozialethik sei (in: John Howard Yoder, The Royal Priesthood, 102; in: John Howard Yoder, The Priestly Kingdom, 80). Wie das „Königreich Gottes“ als frohe Botschaft verkündigt wurde und sich in seinem Nahen schon das Heil vollzog, so wird auch in der Sozialethik, die Jesus vertrat, das Evangelium gesehen. Darin ist die Normativität kirchlicher „Praktiken“ begründet. So ist christliche Ethik im Sinne Yoders nicht etwas anderes als Theologie, sie ist vielmehr der Kern der Theologie.

Dieser Entwurf einer Ethik, der aus dem Geist des Täufertums entwickelt wurde, hat stark in die Mennonitengemeinden weltweit hineingewirkt und ist im Rahmen der ökumenischen Bewegung diskutiert ( vgl. Fernando Enns, Friedenskirche in der Ökumene, 156–200), mit zunehmendem zeitlichen Abstand allerdings hier und da modifiziert oder auch kritisiert worden. Als besonders problematisch wird empfunden, dass der Aspekt des Glaubens im Leben des Einzelnen gegenüber dem korporativen Aspekt der Gemeinde stark in den Hintergrund gerückt und dass die Kirche auf ungebrochene Weise mit dem Heil identifiziert wurde. Kritisch zu betrachten ist auch, dass das Thema des Heils, aber ebenso die Sozialethik im profanen Sinn auf die Politik eng geführt wird und weite Bereiche der menschlichen Lebensäußerungen, auch Bereiche der neueren Zivilisationen, wie sie von der biblischen Botschaft noch nicht vorhergesehen werden konnten, unberücksichtigt bleiben. Schließlich dürfte es problematisch sein, ethische Probleme im profanen Bereich nur aus der Perspektive der Kirche in den Blick zu nehmen und zu behandeln. Geht es in der Ethik aber um die Bewältigung der Lebenswelt durch den Menschen, dann müssen geistliche und weltliche Aspekte zunächst einmal mit gleichem Recht ins Auge gefasst und zur Geltung gebracht werden, bevor nach Lösungen gesucht werden kann (Yoders Positionen werden modifiziert aufgenommen oder weitergeführt beispielsweise von: Chris Huebner, A Precarious Peace, 2006; Glen H. Stassen (Hg.), Just Peacemaking: The New Paradigm for the Ethics of Peace and War, 2008; Yoders Positionen werden neuerlich einer fundamentalen Kritik unterzogen beispielsweise von: Paul Martens, The Heterodox Yoder, 2012; Hans-Jürgen Goertz, Radikaler Pazifismus im Gespräch, 2013).

(3) Gemeinsam ist Kaufman und Yoder das Bemühen, Theologie und Ethik aus einer Wurzel zu entwickeln; grundverschieden aber sind die Ergebnisse ihrer Veröffentlichungen. Kaufman ist stärker an den Fragen orientiert, die sich dem theologischen Denken mit Aufklärung und Historismus, auch den Entwicklungen einer Weltzivilisation stellen (→Globalisierung), während Yoder in der Tradition der Historischen Friedenskirchen denkt und sich stärker am biblischen Zeugnis orientiert und die Nähe zu einem theologischen Denken meidet, das nicht bereit ist, die Tradition des Konstantinianismus aufzugeben. Auf unterschiedliche Weise sind Impulse aus der Theologie Kaufmans und Yoders aufgenommen und miteinander vermittelt worden beispielsweise von Harry Huebner, Duane K. Friesen und Daniel Liechty. Besonders interessant aber ist, wie sich beide Entwürfe im theologischen Werk A. James →Reimers widerspiegeln. Er versucht, die Defizite zu problematisieren, die er hier und da empfindet, und einen eigenen Weg zu finden, Theologie und Ethik aufeinander zu beziehen. Das deutete sich bereits im Titel seiner Aufsatzsammlung Mennonites and Classical Theology: Dogmatic Foundations for Christian Ethics (2001) an. Um die theologische Begründung der Ethik hat er sich zunächst bemüht. Das ehrgeizige Projekt einer Ethik, das folgen sollte, ist nur noch ansatzweise in seinem geplanten Projekt zu einer Anabaptist-Mennonite Political Theology zur Ausführung gelangt (A. James Reimer, An Anabaptist-Mennonite Political Theology: Theological Presuppositions, 29–44; ders., Christians and the War. A Brief History of the Church’s Teachings and Practices, 2010). Auch Reimer hält an der Einheit von Theologie und Ethik fest. Wohl aber kritisiert er eine Theologie, die sich in ihrer ethisch-politischen Zuspitzung erfüllt (Yoder), ebenso eine Theologie, die eine neue Gottesvorstellung mit Rücksicht auf die im Historismus relativierten Wahrheiten konstruiert (Kaufman). Solchen theologischen Entwürfen, so unterschiedlich sie sind, fehle das Fundament der klassischen Theologie (altkirchliches Dogma), eine in der Trinität wurzelnde theologische Ontologie oder Metaphysik: „Only an ethic which is grounded beyond itself in the very structure of reality (…) can give human action stability and durability in the face of temporary setbacks“ (A. James Reimer, Mennonites and Classical Theology, 15). Gemeint hat Reimer mit „structure of reality“ aber eine andere Realitätswahrnehmung und Wirklichkeit als diejenige der Moderne. Auf diese Weise strebte er eine Friedensethik an, die in einem weiteren Wirklichkeitsrahmen (trinitarisch: Schöpfung, Erlösung, Vollendung) als dem kirchlichen und als dem moderner Subjektivität diskutiert wird und zu einer Theologie der politischen und gesellschaftlichen Institutionen („Law“ und „Just Policing“) führen sollte.

5. Zukunftsaufgaben der Ethik

Die trinitarische Begründung der Ethik setzt ein Wahrheitsverständnis voraus, das einer Zeit entstammt, in der noch nicht zwischen einer Objektivität des Wissens und einer Objektivität des Glaubens unterschieden wurde. Nachdem ein solches Verständnis auf dem Weg in die Neuzeit zerrüttet wurde, ist es schwer, ihm beizupflichten, ohne ein „sacrificium intellectus“ zu begehen. Wird dieses Wahrheitsverständnis aber als ein kerygmatisch formuliertes Gesprächsangebot verstanden, kann es dazu dienen, die Selbstsicherheit der aufklärerischen Erkenntnistheorie und des historistischen Relativismus der Werte zu erschüttern und dem Menschen zu helfen, selbst herauszubekommen, was sein Leben wirklich trägt und erhält. Nur selten wird er auf die Idee kommen, dass er es selber sei. So gesehen wäre ein Theologe, der sich unter die Philosophen mischt, die nicht nur die zerstörerischen Entgleisungen der Moderne kritisieren (Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung, 1944/1969), sondern sich auch der Grundlagen einer aufklärerischen Erkenntnistheorie nicht mehr sicher sind und vorschlagen, den Weg der Aufklärung noch einmal anders zu gehen (Michel Foucault, Was ist Aufklärung?, 1984/1990), ein willkommener Gesprächspartner. Wahrheit liegt nicht hinter uns, sie schwebt auch nicht über uns, sondern begegnet uns von der Zukunft her immer wieder neu als eine Realität, die dem Leben, das wir zu führen haben, einen Sinn gibt und anregt, unser Verhalten und Handeln auf Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden auszurichten, die allen Menschen verheißen sind. Eine Ethik der Zukunft wird flexibler mit der radikalen Friedensforderung umgehen, als es bisher oft geschah. Eine solche Ethik wird eher bereit sein, mit allen Kräften guten Willens, innerhalb und außerhalb der Kirche, gemeinsame Sache zu machen, und nicht ständig versichern, dass die Gründe und Motive, die Christen zum Handeln bewegen, eigentlich andere sind als diejenigen ungläubiger Menschen. In dieser Ethik wird angeregt, die kleinen Chancen der Freiheit, Gerechtigkeit und des Friedens gemeinsam zu ergreifen: z. B. in diakonischen Werken und in der Entwicklungshilfe, in der Friedensarbeit („peacebuilding“) und in Programmen zur Versöhnung in Krisengebieten, zur Konfliktregelung, zu restaurativer Gerechtigkeit und schließlich in der Hinwendung zum Modell des „gerechten Friedens“ und den Initiativen zur „Dekade zur Überwindung der Gewalt“ (Fernando Enns), wie sie vom Ökumenischen Rat der Kirchen ausgerufen wurde. Im Rahmen des staatlich organisierten Wohlfahrtswesens, der Polizeigewalt oder der Friedenstruppen im Auftrag der Vereinten Nationen wird riskiert werden müssen, auch in den Grauzonen zwielichtiger Aktionen mit zu beraten und denen zu helfen, die in Not geraten sind. Hier werden manche guten Vorsätze aufgegeben, und hier ist das Versagen oft unausweichlich. Es gilt, was Reimer so formuliert hat: „The atoning work of Christ, through the Holy Spirit, forgives us our sins, even our violence, without excusing them“ (A. James Reimer, Christians and War, 173). Diese Zuwendung Gottes, die aktualisierte Rechtfertigung des Sünders, ist die Drehscheibe, die Ethik und Theologie, auch Individualethik und Sozialethik, Wirtschaftsethik, Medizinethik, Wissenschaftsethik, Tierethik und Umweltethik aufs Engste miteinander verbindet, aus der Verzweiflung über das misslingende Leben heraushilft und „Mut zum Sein“ (Paul Tillich) weckt.

Eine Ethik der Zukunft wird sich auf die Innovationen der technischen und medizinischen Entwicklung einlassen und in der komplexer werdenden Welt keine Chance auslassen, nach den Bedingungen eines guten Lebens auch dort Ausschau zu halten, wo das vorher nicht geschah bzw. noch nicht geschehen konnte. Schließlich wird es notwendig sein, für die Sachzwänge, denen Menschen zunehmend ausgesetzt sind, ohne noch erkennen zu können, wer sie verursacht hat, eine Ethik der anonymen Beziehungen zu entwickeln, einer Einstellung zu den Dingen, die uns umgeben und die wir gebrauchen, auch zu den Nahrungsmitteln und im weiteren Sinne zur Natur (Ökologie). Von den Gebrauchs- und Luxusgütern, die unter menschenunwürdigen Arbeitsbedingungen in Ländern des Fernen Ostens hergestellt und in den Kaufhäusern des Wesens angeboten werden, geht beispielsweise eine ethische Forderung aus, die auf Menschen zurückweist, die für uns anonym und ohne Gesicht bleiben, von denen wir nichts wissen und die für uns ohne Interesse sind. Diese Dinge lassen aber die Frage entstehen, ob ein Boykott der von ihnen hergestellten Güter ihre Existenzbedingungen verbessern oder nicht doch verschlechtern würde. Eine solche Ethik wird nicht die Denkmuster, Urteile und Empfehlungen einer personalen oder sozialen Ethik herkömmlicher Art übernehmen, sondern angesichts der Undurchschaubarkeit, Unerträglichkeit und Aussichtslosigkeit der Situation nach Empfehlungen für Reaktionen suchen, wie sie bisher nicht vorauszusehen waren und mit den traditionellen ethischen Kategorien nicht zu finden sind. Eine Ethik der Zukunft ist eine Ethik, die sich von Tag zu Tag verändert, um den Mühen und den Verheißungen des Lebens gerecht zu werden: der unabgeschlossenen Menschwerdung des Menschen.

Bibliografie (Auswahl)

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Hans-Jürgen Goertz

 
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