Apokryphen

1. Zum Begriff und zur Geschichte der Apokryphen

Unter „Apokryphen“ werden die „verborgenen“ oder „geheimen“ Bücher verstanden, die nicht in den hebräischen Kanon der Heiligen Schriften aufgenommen wurden und die gelegentlich nur anhangsweise in Bibelausgaben veröffentlicht sind: z. B. Judith, Esra, Weisheit Salomos, Tobias, Baruch, Makkabäer. Neben diesen alttestamentlichen gibt es auch neutestamentliche Apokryphen, die während der Prozesses der Dogmenbildung am Rande der Alten Kirche in häretischen Kreisen entstanden waren: z. B. das Thomas-Evangelium oder das Nikodemus-Evangelium. Den Apokryphen wurde nicht die Wertschätzung entgegengebracht, mit der die Schriften des Alten und Neuen Testament gelesen wurden. Dennoch wurden sie in die griechische Übersetzung des Alten Testaments, die Septuaginta, aufgenommen, ebenso in die lateinische Vulgata. In der Reformationszeit war die Geltung der Apokryphen deutlicher als zuvor begrenzt worden. Martin →Luther hat einige Apokryphen in seine deutsche Bibelübersetzung aufgenommen, sah in ihnen aber nur „Bücher, so der Heiligen Schrift nicht gleichzuhalten und doch nützlich und gut zu lesen sind“ (Martin Luther, Werke, WA DB 12, 2). Abweisender haben die reformierten Kirchen auf die Apokryphen reagiert. Sie fanden in ihren Bibelausgaben keinen Platz. Dagegen hat die katholische Kirche einige Apokryphen, nicht alle, auf dem Konzil zu Trient (1546) zu kanonischen Schriften erklärt. Umso mehr überrascht es, dass sich zahlreiche Texte der →Täufer und →Mennoniten bereits seit dem reformatorischen Aufbruch auf die Apokryphen beriefen.

2. Umgang der Täufer mit den Apokryphen

Christian Neff bestätigte 1913 die hohe Achtung, die den Apokryphen im frühen Täufertum und in den Mennonitengemeinden früherer Zeiten entgegengebracht wurde, und wies darauf hin, dass sie diese Schriften wegen ihrer zahlreichen ethischen Ausführungen besonders schätzten (Christian Neff, Art. Apokryphen, in: Mennonitisches Lexikon, Bd. 1, 77). In der Mennonite Encyclopedia vertraten Harold S. Bender und Nanne van der Zijpp dagegen die Meinung, dass die „Täufer und in ihrem Gefolge die Mennoniten aller Länder im Allgemeinen den großen Reformatoren und den protestantischen Kirchen folgten und die göttliche Inspiriertheit sowie den autoritativen Charakter der alttestamentlichen Apokryphen ablehnten“ (Harold S. Bender und Nanne van der Zijpp, Art. Apocrypha, Bd. 1, 136). Diese Einschätzung scheint auf eine einzige Stelle im Märtyrerspiegel gegründet zu sein, auf ein Zeugnis Jacques d´Auchys aus dem Jahre 1588, der den Apokryphen jede Offenbarungsautorität absprach, als er über seine Ablehnung der Fegefeuerlehre befragt wurde. Aber in seiner Antwort zitierte er aus der Weisheit Salomos auf eine Weise, die den deuterokanonischen Schriften ein erhebliches Gewicht zuzugestehen schien (Jonathan Seiling, Solae (Quae?) Scripturae, 8). Auf ähnliche Weise hat Adam Pastor die Autorität der deuterokanonischen Schriften abgewertet, als er meinte, man könne die Apokryphen durchaus zitieren, so wertvoll wie die kanonischen Schriften aber seien sie nicht (Alastair Hamilton, The Apocryphal Apocalypse, 1999, 132).

Inzwischen haben einige Täuferforscher die Berechtigung von Neffs Beobachtung nachgewiesen, so in Darstellungen, in denen die allgemeine Meinung unterstützt wurde, dass die Täufer die Apokryphen als verbindliche Texte für ihre Argumente in Anspruch genommen hätten (George H. Williams, Radical Reformation, 1962; Walter Klaassen, Anabaptism in Outline, 1981, 142; Alastair Hamilton, The Apocryphal Apocalypse, 1999; Jonathan Seiling, Solae (Quae?) Scripturae, 2006). Entscheidend dafür war offensichtlich, dass sie sich in irgendeiner Weise mit Situationen und Aussagen in den Apokryphen identifizieren konnten. So hat Johns gezeigt, dass 2. Makkabäer ein Text ist, der Trost in angefochtenen Zeiten der Verfolgung spenden wollte (Loren L. Johns, Reading the Maccabean Literature by the Light of the Stake, 2012). Seiling verglich den Umgang der frühen Täuferführer mit den Apokryphen von Fall zu Fall und untersuchte die besondere Rolle, die Andreas →Karlstadt in der Kontroverse spielte, die seit 1520 um den kanonischen Status der Apokryphen geführt wurde (Jonathan Seiling, Solae (Quae?) Scripturae, 2006; Calvin A. Pater, Karlstadt, 1984). Alastair Hamiliton nahm die Beschäftigung der Täufer mit apokalyptischen Texten in den Apokryphen in den Blick und untersuchte, in welchem Maße sie rezipiert wurden (Alastair Hamilton, The Apocryphal Apocalypse, 1999).

Abgesehen von den bereits genannten liegen noch mehrere Untersuchungen zum Umgang der Täuferführer mit den Apokryphen vor: zu Pilgram Marpeck (William Klassen, Covenant and Community, 1968), zu Peter Riedemann (Robert Charles Holland, The Hermeneutics of Peter Riedemann, 1970), zu Menno Simons (Karel Vos, Menno Simons, 1914; Henry Poettker, The Hermeneutics of Menno Simons, 1961). William E. Keeney meinte, dass sich sowohl Menno Simons als auch Dirk Philips über die Problematik bewusst waren, aber offensichtlich doch die Verbindlichkeit der Apokryphen anerkannten und aus ihnen zitierten (William E. Keeney, The Development of Dutch Anabaptist Thought, 1968, 38). Auch andere wie Hans Hut, Balthasar Hubmaier, Hans Denck, Ludwig Hätzer, Leonard Schiemer zitierten die Apokryphen in einer Weise, die sich nicht von den Hinweisen auf andere kanonische Texte unterschied (Jonathan Seiling, Solae (Quae?) Scripturae, 2006). In seine Übersetzung der alttestamentlichen Propheten (→Wormser Propheten) hatte Hätzer auch das apokryphe Buch Baruch aufgenommen und in einer ausführlichen Einleitung den geistlichen Wert einiger apokrypher Bücher beschrieben (1528), (Seiling, Ludwig Hätzer's 'Preface', 2006.) Auch die apokalyptischen Schriften des Alten Testaments wurden von anderen Anführern der Täufer hoch eingeschätzt (Alastair Hamilton, The Apocryphal Apocalypse, 1988, 1–16; und ders., The Apocryphal Apocalypse: The Reception, 1999).

Schließlich hat die protestantische Polemik dafür gesorgt, dass die Täufer und Mennoniten gegen Ende des 17. Jahrhunderts immer seltener auf die Apokryphen zurückgriffen (Alastair Hamilton, The Apocryphal Apocalypse, 1999). Bibeln wurden oft ohne die Apokryphen gedruckt, was die Laien höchstwahrscheinlich auf den Unterschied zwischen diesen Schriften und den übrigen Büchern des biblischen Kanons aufmerksam machte. So äußerte sich Hans de Ries expressis verbis über diesen Unterschied in Artikel 29 seines Glaubensbekenntnisses (Karl P. Koop, Early Seventeenth Century Mennonite Confessions, 1999, 153). Dennoch finden sich in den mennonitischen Bekenntnissen auch weiterhin Hinweise auf apokryphe Schriften, beispielsweise wird aus dem Buch Tobias bei amischen Trauungen immer noch zitiert (John Umble, An Amish Minister's Manual, 95–117).

3. Gründe für den Gebrauch apokrypher Belege

Es gibt zwei Schlüsselthemen bei den frühen Täufern, die mit apokryphen Schriftbelegen diskutiert werden: Einmal im Zusammenhang mit der Lehre vom Seelenschlaf, die von einer täuferischen Minderheit unter Hinweis auf 2. Esra 7, 32 vertreten wurde (George H. Williams, The Radical Reformation, 819), und zum anderen noch bedeutsamer die Lehre vom freien Willen, wie sie überall im Täufer- und Mennonitentum Verbreitung gefunden hatte. Belegt wurde sie mit Sir. 15, 14–17, und Weish. Salomos 1, 13. So unterschiedliche Autoren unter den Täufern wie Hans Denck, Leonard Schiemer und Dirk Philips nutzten den Sirachtext in ihren Schriften, um zu belegen, dass aus freien Stücken zwischen Gut und Böse, Leben oder Tod, Feuer oder Wasser gewählt wird (Jonathan Seiling, Solae (Quae?) Scripturae, 2006). Im Märtyrerspiegel wird Sir. 15, 14–17, insgesamt fünf Mal als Beleg angeführt. Einige Märtyrerzeugnisse weisen darauf hin, dass „Feuer oder Wasser“ bedeute, zwischen Leben und Tod zu wählen und andere zur Standhaftigkeit im Glauben zu ermahnen. Die Glaubensbekenntnisse weisen auf diesen Text als einen allgemeinen Schriftbeleg dafür hin, dass die Menschen mit einem freien Willen ausgestattet worden seien.

Diese offensichtliche Anlehnung an Texte apokrypher Schriften, um die Lehre vom freien Willen zu rechtfertigen, vermag die Auffassung zu begründen, dass die Autoren täuferisch-mennonitischer Tradition im Gebrauch deuterokanonischer Schriften wie Sirach und Weisheit Salomos den Katholiken näher stehen als den Protestanten.

Zusammenfassend können mehrere Gründe für den nachhaltigen Gebrauch der Apokryphen unter Täufern und Mennoniten angegeben werden: 1. Die Bedeutung, die einige Schlüsselstellen als Beleg für Lehren haben, die den Unterschied zu den Hauptreformatoren markieren (z.B. Lehre vom freien Willen); 2. Das spiritualistische Schriftverständnis mancher Täufer, das den Unterschied zwischen kanonischen und apokryphen Schriften einebnet; 3. der betont ethische Gehalt und Wert apokrypher Aussagen; 4. Verwendung apokrypher Hinweise in der konfessionellen Polemik (auch gegen Katholiken); 5. Apokalyptische Züge in apokryphen Schriften, die die Phantasie mancher Täufer anregten (Alastair Hamilton, The Apocryphal Apocalypse, 1999); 6. Schriften wie 2. Makkabäer, die den Märtyrern Trost und Mut zusprachen (Loren Johns, Reading the Maccabean Literature, 2012).

Bibliografie (Auswahl)

Quellen

Ludwig Hätzer und Hans Denck Hg., Baruch der Prophet. Die Histori Susannah. Die Histori Bel, Worms 1528. - Andreas Karlstadt, De Canonicis Scripturis Libellus (1520), wiederabgedruckt in: Karl A. Credner, Zur Geschichte des Kanons. Halle/S. 1847. - Ders., Weliche biecher Biblisch seind, Wittenberg 1520. - Jonathan Seiling, Ludwig Hätzer's 'Preface' to Baruch, Susanna and Bel and the Dragon, in: Mennonite Quarterly Review 80, 1, 2006, 35–42.

Literatur

Harold S. Bender und Nanne van der Zijpp, Art. Apocrypha, in: Mennonite Encyclopedia. Bd. 1, 1976, 136. - Alastair Hamilton, The Apocryphal Apocalypse: The Reception of the Second Book of Esdras [4 Ezra] from the Renaissance to the Enlightenment, Oxford 1999. - Ders., The Apocryphal Apocalypse: 2 Esdras and the Anabaptist Movement,in: Nederlands Archief voor Kerkgeschiedenis 68, 1988, 1–16. - Robert Charles Holland, The Hermeneutics of Peter Riedeman (1506–1556), Basel 1970. - Henry H. Howorth, The Origin and Authority of the Biblical Canon According to the Continental Reformers, in: The Journal of Theological Studies, 8, 1907, 321–365. - Loren L. Johns, Reading the Maccabean Literature by the Light of the Stake: Anabaptist Appropriations in the Reformation Period, in: Mennonite Quarterly Review 86, 2, 2012, 151–173. - William E. Keeney, The Development of Dutch Anabaptist Thought and Practice from 1539–1564, Nieuwkoop 1968. - Walter Klaassen (Hg.) Anabaptism in Outline, Kitchener, ON, 1981. - William Klassen, Covenant and Community. Grand Rapids, MI, 1968. - Karl P. Koop, Early Seventeenth Century Mennonite Confessions of Faith: The Development of a Tradition, Toronto (Unveröffentl. Diss.) 1999. - Siegried Meurer, Die Apokryphenfrage im Ökumenischen Horizont, Stuttgart 1989. - Christian Neff, Art. Apokryphen, in: Mennonitisches Lexikon, Bd. 1, 1913, 77. - Calvin A. Pater, Karlstadt as the Father of the Baptist Movements: The Emergence of Lay Protestantism, Toronto 1984. - Henry Poettcker, The Hermeneutics of Menno Simons, (unveröffentl. Diss.) Princeton University, 1961. - Jonathan Seiling, 2006 Solae (Quae?) Scripturae: Anabaptists and the Apocrypha, in: Mennonite Quarterly Review 80, 1, 2006, 5–34. - John Umble, An Amish Minister's Manual, in: Mennonite Quarterly Review 15, 1941, 95–117. - George Hunston Williams, The Radical Reformation. 1. Aufl., Philadelphia, PA, 1962.

Jonathan Seiling

 
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