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Täuferforschung

Es ist keineswegs so, dass sorgfältige, den täuferischen Bewegungen des 16. Jahrhunderts gewogene Darstellungen bis ins 20. Jahrhundert warten mussten und hauptsächlich in den Vereinigten Staaten von Amerika entstanden, wo religiöser Pluralismus und Trennung von Kirche und Staat in der Verfassung verankert sind. Wohl war es so, dass das Täufertum in den ersten fünfzig Jahren seiner Entwicklung religiöser Verfolgung ausgesetzt und 1529 sogar zum Kapitalverbrechen im Heiligen Römischen Reich erklärt worden war. Danach wurden aber wichtige bedeutende historische Darstellungen des Täufertums entweder von seinen Anhängern oder von Autoren geschrieben, die keinerlei Sympathie für die Verfolger der Täufer aufbrachten.

1. Frühmoderne Darstellungen

Einige der frühen Schriften über das Täufertum wurden von Reformierten in der Schweiz geschrieben, wie Heinrich →Bullingers Von dem vnverschampten fräfel, ergerlichen verwyrren, vnnd vnwarhafftem leeren, der selbstgesandten Widertouffern (1531) oder Der Widertoufferen vrsprung (1560) und Johannes Kesslers Sabbata (1530/31). Sie standen dem Täufertum zwar feindselig gegenüber, ihre Beschreibungen waren aber nuanciert und nicht ohne Wert. Sebastian →Francks Chronica (1531) verurteilte die Verfolgung der Täufer und enthielt manches informative Detail, alles wurde allerdings durch die besondere Perspektive ihres spiritualistischen Autors bzw. Kompilators gefiltert. In der holländischen Übersetzung wurde Francks Darstellung die wichtigste Informationsquelle für Leser in den Niederlanden. Hermann von Kerssenbroch, Lehrer in Münster während der katholischen Restauration, schrieb eine Chronik der Täuferherrschaft 1534 – 1535 (1573), die ein hohes Maß an dokumentarischer Evidenz aufwies, aber doch in eine umständliche Erzählung eingebettet war, die nicht nur feindselig, sondern auch unzuverlässig war. In ihrem Zuschnitt unparteiisch war die Geschichte des niederdeutsch-holländischen Täufertums, die 1559 und 1560 von Nikolaas Meyndertsz. von →Blesdijk geschrieben wurde, nachdem er sich vom Täufertum abgewandt und der reformierten Kirche angeschlossen hatte. Blesdijk war der Schwiegersohn von David →Joris. Besonders wertvoll ist Blesdijks lateinisch geschriebene Biographie seines Schwiegervaters Historia Vitae, doctrinae ac rerum gestarum Davids Georgi haeresiarchae.

In dieser Biographie stellte er dessen Anspruch heraus, der „dritte Daniel“ zu sein. Sie ist unsere Hauptquelle über das Treffen in Bocholt, wo die verschiedenen melchioritischen Gruppen 1536 miteinander über den weiteren Weg des Täufertums nach dem Zusammenbruch der Täuferherrschaft zu Münster beraten hatten.

Auch zur Geschichte der Hutterer gibt es feindselig eingestellte, polemische Widerlegungschriften und hutterische Selbstdarstellungen. Doch weder auf die einen noch auf die anderen ist wirklich Verlass. Zwei jesuitische Missionare, Christoph Erhard und Christoph Fischer, schrieben 1589 und 1607 kämpferische, aber inhaltsreiche Darstellungen; unbeabsichtigt anerkannten sie die Stärke der Hutterischen Gemeinschaften, die damals in so hohem Ansehen bei den aristokratischen Grundherren Südmährens standen. Das Werk, das als Die älteste Chronik der Hutterischen Brüder veröffentlicht wurde, ist die früheste Geschichte einer täuferischen Bewegung, die aus einer rein täuferischen Sicht geschrieben wurde. Sie ist der einzige Bericht von den ersten Glaubenstaufen am 21. Januar 1525 in Zürich. Für die frühe täuferische Geschichtsschreibung ist typisch, dass sie keinerlei Spuren einer „mennonitischen oder täuferischen Ökumenizität“ enthält. Sie ist eng, denominational ausgerichtet, „hutterisch“. Die Chronik wurde in den frühen siebziger Jahren des 16. Jahrhunderts von Caspar Braitmichel begonnen, der Material aus Francks Chronica für die Zeit vor 1520 verarbeitete und der Einträge bis 1542 vervollständigte, bis kurz vor seinem Tod. Sein Nachfolger, Hauptrecht Zapf, setzte dieses Werk bis 1591 fort und wurde dabei von einigen führenden Ältesten stark unterstützt, ließ sich aber von anderen von seiner Aufgabe ablenken, die nicht so viel Wert auf die Erschaffung einer „offiziellen Geschichte“ legten.

Die Hutterische Chronik legte einen besonderen Akzent auf die hutterischen Märtyrer. Dasselbe galt für den holländischen mennonitischen Märtyrerspiegel, der mit Berichten von Michael →Sattlers →Martyrium und ebenso von zweiundzwanzig niederländischen mennonitischen Märtyrern unter dem Titel Het Offer des Heeren 1562 erschien. In den späteren sechziger Jahren veranlasste eine Spaltung unter den niederländischen Mennoniten die Gruppe der Friesen, in die nachfolgenden Ausgaben dieses Märtyrerspiegels nur ihre eigenen Märtyrergeschichten aufzunehmen und diejenigen aller anderen täuferischen und mennonitischen Gruppen auszuschließen. Dass dieser sich abschottende Trend umgekehrt wurde und dass die täuferisch/mennonitische Geschichtsschreibung ihren Halt fand, ist dem Waterländer Täuferführer Hans de Ries in seiner Historie der Martelaren ofte waerachtighe getuygen Jesu Christi (1615) zu verdanken. Darauf ist von Brad S. Gregory zurecht hingewiesen worden: „ (…) das Kriterium von de Ries, jemanden als Märtyrer zu anzuerkennen, schloss alle solchen hingerichteten friedfertigen Christen ein, die ´nach der Einsetzung Jesu Christi getauft worden waren´ – ein Satz, den er siebzehn Mal in der Einleitung gebrauchte (…). Entgegen der früheren Aneignung von Het offer des Heeren durch die Friesen erreichte de Ries nicht nur eine immense Ausweitung, sondern auch eine Internationalisierung und Zusammenführung täuferischer Märtyrerspiegel, die alle Variationen von Mennoniten mitsamt den Schweizer Brüdern und Hutterern einschloss.“ Die historiographische Bedeutung der niederländischen mennonitischen Märtyrerspiegel zeigte sich mit de Ries, nicht mit der besser und weithin bekannteren Sammlung von 1660, die Thielman Jansz van Braght zusammengestellt hatte. Nun war derjenige ein Täufer, der dem doppelten Kriterium der Glaubenstaufe und der Wehrlosigkeit genügte – ausgeschlossen waren die illegitimerweise Gewalttätigen wie die Münsteraner und Batenburger oder Personen wie David Joris, der die Glaubenstaufe für nicht unbedingt nötig hielt; ignoriert wurden Gestalten wie Balthasar Hubmaier, der dem Schwertgebrauch ordentlich eingesetzter Obrigkeiten zustimmte, grundsätzlich unbeachtet blieben auch die komplexen Gedanken eines Menno Simons oder Pilgram Marpeck über die Möglichkeiten einer christlichen Obrigkeit.

Die weitere bemerkenswerte Entwicklung der Historiographie des Täufertums und verwandter Bewegungen (die wir jetzt Spiritualisten nennen) verbindet sich mit dem Namen des radikalpietistischen Gottfried Arnold und dessen Unparteiischer Kirchen- und Ketzerhistorie (1699/1700). Arnold hatte zuvor die Geschichte der Alten Kirche und ihre Deformation, wie er es sagte, erforscht, die sich mit der Übernahme des christlichen Glaubens durch Kaiser Konstantin im 4. Jahrhundert vollzogen habe. In der Kirchen- und Ketzerhistorie ging er den vermeintlichen Impulsen nach, die zur Erneuerung des wahren Christentums unter den mittelalterlichen Ketzern und in der Reformationszeit geführt hatten. Damit schuf er die Grundlage für die Suche nach den mittelalterlichen Vorfahren der Nonkonformisten des 16. Jahrhunderts. Er sammelte Primärquellen, die sich auf die Täufer und Mennoniten bezogen, ebenso auf Thomas Müntzer und David Joris. Er griff die Anregung aus Sebastian Francks Chronica auf, die für die Perspektive, in der das Täufertum des 16. Jahrhunderts dargestellt wurde, so wichtig war und in der die heterodoxen christlichen Traditionen als die wahre Kirche erschienen seien: „Die Ketzermacher sind die eigentlichen Ketzer, und die Verketzerten sind die wahrhaft Frommen.“ Das war die Perspektive, die sich aus Arnolds pietistischer Religiosität ergab. „Damit wurden die Weichen“, wie Hans-Jürgen Goertz beteuert, „für eine neuzeitliche objektive Geschichtsschreibung gestellt.“

2. Darstellungen im 19. Jahrhundert

Diese objektive Geschichtsschreibung der unorthodoxen Protestanten wurde zunächst vor allem von Gelehrten aufgegriffen, die aus der tolerierten und wirtschaftlich wohlhabenden mennonitischen Gemeinschaft in den Niederlanden hervorgingen. Der holländische Mennonitenprediger Steven ten Cate schrieb um 1830 und 1840 regionalgeschichtliche Darstellungen der mennonitisch-taufgesinnten Bewegungen in den niederländischen Provinzen. 1844 veröffentlichte er ein Buch, in dem er versuchte, den waldensischen Ursprung der Mennoniten zu erweisen. In der nachfolgenden Generation schrieb J. G. de Hoop Scheffer, mennonitischer Prediger und Professor am Mennonitischen Seminar in Amsterdam, eine Geschiedenis de Kerkhervorming in Nederland van Haar onstan to 1531 (1873), in der die gewichtige These ausgearbeitet wurde (kürzlich modifiziert, aber nicht aufgegeben), dass Anhänger einer nichtlutherischen Auffassung vom Abendmahl, Sakramentarier genannt, die ersten Vertreter der Reformation in den Niederlanden waren, bis Melchior Hoffman 1531 das Täufertum einführte. Die holländischen Taufgesinnten waren die ersten unter den Mennoniten überhaupt, die eine gelehrte Zeitschrift auf den Weg bringen sollten, die der eigenen Geschichte galt: Doopsgezinde Bijdragen (1861 – 1919, dann 1975 wieder herausgebracht als neue Reihe, die noch Bestand hat). Samuel Cramer, ebenfalls Professor am erwähnten Seminar, war Mitherausgeber der Bibliotheca Reformatoria Neerlandica (1903 – 1914), der ersten Sammlung reformationsgeschichtlichen Quellenmaterials, das täuferische Dokumente miteinschloss.

Die Anfänge wissenschaftlicher Täufergeschichtsschreibung in Deutschland werden mit der Untersuchung über die Täuferherrschaft in →Münster markiert, die der Universitätshistoriker Carl A. Cornelius (Altkatholik) einleitete. Er gab Sammlungen von Dokumenten heraus, die sich auf die Ereignisse von 1534 – 35 in Münster bezogen. Leider behandelt seine ausgezeichnete Geschichte des Münsterischen Aufruhr (1855 – 1860) nur die Vorgeschichte der Täuferherrschaft. Wie dem auch sei, er arbeitete die Unzulänglichkeiten der Chronik Kerssenbrochs heraus, die zuvor die historische Sicht des münsterischen Täufertums beherrscht hatte, und veröffentlichte den nützlichen Augenzeugenbericht Heinrich Gresbecks.

Etwas später lenkte der münsterische Archivar Ludwig Keller die Forschung auf einen irreführenden Umweg, indem er versuchte, den Anschauungen Sebastian Francks und Gottfried Arnolds, dass die verfolgten Ketzer die wahre Kirche bildeten, eine konkrete Gestalt zu geben. In Die Reformation und die älteren Reformparteien (1885) führte er die Idee einer Sukzession „altevangelischer Bruderschaften“ ein, die die zeitliche Lücke zwischen der alten, vorkonstantinischen Kirche und der Reformation ausfüllen sollte. Ergiebiger war der Beitrag Alfred Heglers zur Erforschung des reformationszeitlichen Nonkonformismus in seiner Untersuchung zu Geist und Schrift bei Sebastian Franck (1892). Hier wurde Francks mystischer Spiritualismus über die Reformatoren und Täufer gestellt und wies auf die Kristallisation der drei Reformationstypen in der Religionssoziologie Ernst →Troeltschs voraus. In Deutschland vor dem Ersten Weltkrieg war die vorherrschende liberal protestantische Erinnerung an die Täufer in der Reformationszeit keineswegs feindselig eingestellt, obwohl konfessionalistische Kirchenhistoriker fortfuhren, die Täufer (und auch einander im theologischem Richtungsspektrum des Protestantismus) zu denunzieren. Wie Adolf v. Harnack in seinem Lehrbuch der Dogmengeschichte 1910 schrieb: „Dank der Forschung der letzten Jahre sind uns die Portraits herausragender Christen in täuferischen Kreisen vor Augen geführt worden; und nicht wenige dieser ehrwürdigen und strengen Männer sind uns verständlicher als ein heroischer Luther oder der eiserne Wille eines Calvin.“

3. Europäische Täuferforschung im 20. Jahrhundert

Wie manches andere in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg waren auch Ernst Troeltschs Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen (1912) eine Zusammenfassung der Entwicklungen des 19. Jahrhunderts. Indem er die „Idealtypen“ seines Freundes Max Weber übernahm, entwarf Troeltsch eine Religionssoziologie, die den Kirchentyp vom Sektentyp und von der Mystik unterschied, die „in gewissen Elementen“ des Neuen Testaments begründete, selbstständige Zweige der christlichen Idee waren. Er wollte von den gesellschaftsumspannenden, staatsgebundenen protestantischen Kirchen die Bewegungen unterscheiden, die Gemeinden zu bilden versuchten, die sich auf freiwillige Mitgliedschaft gründeten, und die Individualisten, die sich sowohl von den größeren Kirchen als auch von den Freiwilligkeitsgemeinden kritisch auf Distanz hielten (Sebastian Franck war der Archetyp eines religiösen Individualisten. Aber Troeltsch ordnete ihn anderen, vor allem Kaspar v. Schwenckfeld zu). Troeltsch entwarf seine Typologie auf einer durchgängigen Kenntnis der monographischen Forschung seiner Generation und hielt sich an die Sicht des liberalen Protestantismus, der Luther und dessen Rechtfertigungslehre gegenüber nicht sonderlich engagiert eingestellt war, was Karl Holl ihm kritisch in seinem Essay Luther und die Schwärmer (1923) vorhielt. Holl stand für die Vorrangigkeit der Dogmatik und für die polemische Auseinandersetzung in deutschen theologischen Untersuchungen nach dem Ersten Weltkrieg. Er behauptete, dass Thomas Müntzer die zentrale Rolle unter den „Schwärmern“ eingenommen habe (ein polemischer Begriff, mit dem Luther alle seine nichtkatholischen Gegner der Reformationszeit belegte) und dass allen ein mystischer Zug gemeinsam gewesen sei. Grundsätzlich bestritt Holl das mystische Element in Luthers eigener Religiosität. Unter Verweis auf Heinrich →Bullingers Feststellungen betrachtete er Müntzer als den Anfänger einer in sich zusammenhängenden täuferisch-spiritualistischen Bewegung, die gegen Luthers maßgebliche Reformation rebellierte. Er sah in den Täufern, die Gemeinden aufbauten, und in den spiritualistischen Individualisten Fälle einer allmählichen Degeneration der Mystik, die Müntzer vertrat. Der Hauptgedanke war, dass Müntzers „mystisch geartete Frömmigkeit“ nach und nach verkümmerte, bis sie sich schließlich im Rationalismus der Aufklärung auflöste. Dahinter stand Holls Überzeugung, dass die Rechtfertigungslehre (in der überaus eigenartigen Form, wie er sie sich vorstellte) das Wesen des Evangeliums von Jesu Christus ausmachte. Wie Holl betonte, war seine Abhandlung, anders als Troeltschs Buch, ganz und gar auf Originalquellen gegründet. In den Schriften, die er in Luther und die Schwärmer verarbeitete, gehörten neben Texten Müntzers auch solche von Sebastian Franck, George Fox und einige Traktate Karlstadts. Konrad →Grebel, Felix →Mantz, Michael →Sattler, Balthasar →Hubmaier und Menno →Simons werden nicht erwähnt. Das bedeutet, dass Holls Eindruck von den Täufern in starkem Maße von Sebastian Franck geprägt ist. Dass Holls Ansichten in dieser Abhandlung im ganzen ernst genommen wurden, lag an der Zustimmung, die sein Buch über Martin Luther von 1921 gefunden hatte. In diesem Buch schienen Luthers Schriften zu einer Dogmatik gestaltet worden zu sein, wie es den Bedürfnissen des protestantischen Deutschlands in den 1920er Jahren entsprach.

Während der Holl-Troeltsch-Kontroverse wurden weniger spektakuläre, aber um so wichtigere Schritte im weiteren Gang der täuferisch/mennonitischen Forschung mit dem Erscheinen des Mennonitischen Lexikons (erste Lieferung) unternommen, das von Christian →Hege und Christian →Neff herausgegeben wurde und erst sehr viel später nach dem Tod der beiden Begründer 1967 von anderen zum Abschluss gebracht wurde. Hege war die treibende Kraft hinter der Gedenkschrift zum 400jährigen Jubiläum der Mennoniten (1925) und redigierte auch die ersten Hefte der Mennonitischen Geschichtsblätter (1936 – 1940). 1920 begann der Verein für Reformationsgeschichte, eine kritische Edition der deutschsprachigen Täuferquellen zu planen. Diese Quellensammlungen erschienen ab 1930 unter dem Titel Quellen zur Geschichte der Wiedertäufer (nach dem Zweiten Weltkrieg geändert in Quellen zur Geschichte der Täufer) und wuchs bis 2007 auf siebzehn Bände an. Die Quellen zu den Täufern in der deutschsprachigen Schweiz wurden in einer separaten Reihe als Quellen zur Geschichte der Täufer in der Schweiz, inzwischen in vier Bänden veröffentlicht (1952 – 2008), zumindest ein weiterer Band wird noch erwartet.

Parallel dazu begann die Erforschung des mährischen Täufertums, besonders der Hutterer, mit der Entdeckung hutterischer Handschriften, die Joseph v. Beck in ungarischen Archiven fand. Er meinte damals, dass die hutterische Bewegung ausgestorben sei und behandelte sie wie eine kaiserlich-habsburgische Antiquität. Seine Geschichts-Bücher der Wiedertäufer in Österreich-Ungarn (1883) leiteten Forschungen ein, die von dem österreichischen Historiker Johann Loserth fortgesetzt wurden. Loserth erweiterte den Blickwinkel J. v. Becks und bezog das Täufertum aller österreichischer Provinzen mit ein, auch Balthasar Hubmaier als den Begründer des mährischen Täufertums. In seinen achtziger Jahren begann Loserth noch, Pilgram Marpeck zu studieren, indem er mit Christian Heges Reproduktion der Vermahnung in der bereits erwähnten Gedenkschrift von 1925 arbeitete und eine Edition der Verantwortung 1929 herausgab.

Die taufgesinnte/mennonitische Geschichtsschreibung in den Niederlanden entwickelte ihren eigenen Weg, was bis zu einem beträchtlichen Maße noch bis heute gilt. Am Ende des Ersten Weltkriegs, und den Jahren 1917 bis 1921, engagierten sich zwei taufgesinnte Pfarrer und Täuferforscher, Karel Vos und W. J. Kühler, in einer hitzigen Kontroverse über die Beziehungen der frühen niederländischen Täufer zur Täuferherrschaft in Münster. Beide gingen davon aus, dass das niederländische Täufertum nicht in der Schweiz 1525, sondern mit der apokalyptischen Botschaft Melchior Hoffmans 1530 in Emden entstand. Auch verneinte weder der eine noch der andere, dass es intensive Kontakte zwischen den niederländischen und münsterischen Täufern in den Jahren 1534/35 gab. Vos meinte jedoch, das niederländische Täufertum sei im Wesentlichen eine sozial-revolutionäre Bewegung der unteren Bevölkerungsschichten gewesen und so auch geblieben sei, bis Menno Simons in den 1540er Jahren intensiv zu wirken begann. Kühler betrachtete das frühe niederländische Täufertum zwar als eine apokalyptische, aber friedfertige Bewegung, deren Anhänger von den Ereignissen zu Münster getäuscht und verwirrt worden seien. Der marxistische Historiker A. F. →Mellink versuchte 1953, das Buch von de Hoop Scheffer über den Sakramentarismus fortzusetzen, hielt aber entschieden an dem Standpunkt von Karel Vos fest und kritisierte Kühlers Schriften als eine Version mennonitischer Apologetik. Doch scheint Kühler erst kürzlich das letzte Wort mit dem Erscheinen der meisterhaften Darstellung Samme →Zijlstras, eines Schülers von Mellink, erhalten zu haben: Om de ware gemente en de oude bronnen. Geschiedenis van de dopersen in de Nederlanden 1531 – 1675 (2000). Unter dem starken Eindruck des bedeutenden Kirchenhistorikers Sjouke →Voolstra wies Zijlstra eine Klassenanalyse der täuferisch-mennonitischen Bewegung zurück, und im Gegensatz zu seinem Vorgänger, W. J. Kühler, richtete er sein Augenmerk mehr auf die 75 % der Konservativen, die sich selbst „Mennoniten“ nannten, als auf die liberale Minderheit der Taufgesinnten/Doopsgezinden. Menno Simons selbst, der Namenspatron der Bewegung, wurde mit Vorbehalt von taufgesinnten Forschern in den Niederlanden betrachtet, vor allem weil er die strikten Bannvorschriften in seinen späteren Jahren guthieß, die in erheblichem Maße zur Spaltung der niederländischen Täufer beitrugen. Aufgrund von Mennos Bannvorschriften legte die liberale Waterländer Gruppe den Namen „Mennonit“ ab und nannte sich selbst Taufgesinnte/Doopsgezinde.

In seiner Biographie aus dem Jahre 1973 wies der lutherische Kirchenhistoriker Christoph Bornhäuser auf Mennos Suche nach einem frommen Herrscher hin, der ihm und seinen Anhängern Schutz gewähren würde, auf einen Glaubensgrundsatz, der Menno mit Melchior Hoffman verband. Ein anderer Glaubensgrundsatz, der von Menno und den konservativen Mennoniten (und der auch von den Täufern zu Münster 1534/35) gelehrt wurde, war eine Christologie, die annahm, dass Christi menschliche Natur direkt vom Himmel auf Erden ohne einen wesentlichen Anteil Marias gekommen sei. Sjouke Voolstras Untersuchung Het Woord is Vlees geworden (1982) bestätigte die Bedeutung dieser charakteristischen mennonitischen Christologie. Die neuere Studie von Helmut Isaak zu Menno Simons and the New Jerusalem (2006) wirft wichtige Fragen über Menno Simons Beziehungen zum melchioritischen Täufertum der Münsteraner auf, deren Beantwortung von der Datierung und der kompositorischen Anordnung seiner frühen Schriften abhängt (das ist ein anderes Thema als die Datierungsfragen der tatsächlich vorhandenen Auflagen seiner Schriften, die von Irvin B. →Horst zufriedenstellend beantwortet wurden). Horst, ein nordamerikanischer Kirchenhistoriker an der Universität von Amsterdam, trug auf bedeutsame Weise zur niederländischen Täuferforschung bei, indem er die Herausgabe der vielbändigen Documenta Anabaptistica Neerlandica, die 1975 mit einem von A. F. Mellink herausgegebenen Band eingesetzt hatte, förderte, ebenso auch die neue Reihe der Doopsgezinden Bijdragen (ab 1975). Die Forschungen zur Täuferherrschaft von Münster nahm im 20. Jahrhundert eine ähnliche Entwicklung wie die Erforschung des niederländischen Täufertums. Sie begannen mit dem grundbrechenden prosopografischen Studie von Karl-Heinz Kirchhoff (1973) und wurden von den münsterischen Lokalhistorikern Ralf Klötzer und Ernst Laubach weitergeführt. Diese Interpretationen lehnten die marxistische Klassenanalyse ab und zeigten, dass es ein repräsentativer Teil der Stadtbevölkerung war, der den radikalen Reformer Bernhard →Rothmann unterstützte, und dass die Verteidigung der städtischen Unabhängigkeit mehr als religiöser Fanatismus ihr eigentliches Motiv war, Münster gegen ihre Belagerer zu verteidigen. Sogar Jan van Leiden scheint nun eher ein kämpferischer Anführer gewesen zu sein, der mit einer schier unbezwingbaren Krise fertig zu werden versuchte, als ein lasziver, möglicherweise sogar geistesgestörter Scharlatan.

4. Die „Bender-Schule“ (1927 – 1962)

Nach der Gründung von Mennonite Quarterly Review 1927 wurden die mennonitischen Colleges in Nordamerika zum Zentrum der Täuferforschung. Gegründet wurde diese Zeitschrift von Harold S. →Bender, dem Dean des Mennonite Biblical Seminary in Goshen (Indiana). Bender blieb ihr Schriftleiter bis zu seinem Tod im Jahre 1962. Er selbst hatte sich vorgenommen, die „mennonitische Ökumenizität“ zu fördern, und setzte sich dafür ein, finanzielle Mittel in den nordamerikanischen Mennonitengemeinden einzuwerben, um die Täuferforschung in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg zu unterstützen. So waren es nordamerikanische Resourcen, die eine kontinuierliche Veröffentlichung der einzelnen Bände der Quellen zur Geschichte der Täufer zu ermöglichen halfen. Ebenso wurde die vierbändige Mennonite Encyclopedia zwischen 1955 und 1959 veröffentlicht, die zahlreiche Artikel aus den ersten Bänden des Mennonitischen Lexikons übernahm (darunter sind auch Artikel aus dem noch unfertigen Bd. 3 gewesen) und von Bender und seiner Frau Elizabeth übersetzt worden waren (ein Ergänzungsband folgte 1990). Bender sammelte am Goshen College und am nahegelegenen Mennonite Seminary in Elkhart (Indiana) einige Täuferforscher um sich, wie John C. →Wenger, Clarence →Bauman und John H. →Yoder, ebenso unterstützte er die Übersiedlung Robert →Friedmanns aus Österreich an die Western Michigan University in Kalamazoo (Mich.), den führenden Hutterer-Forscher. Cornelius →Krahn, ein mennonitischer Auswanderer aus Russland, richtete ein paralleles Zentrum zur Erforschung von Menno Simons und des niederländischen Täufertums in seinen dreißiger Jahren als Professor am Bethel College in North Newton, Kansas, ein. Am Bluffton College (Ohio) hatte sich Henry C. Smith der Erforschung des Mennonitentums angenommen und versucht, in manchem ein Korrektiv zur Bender-Schule zu sein. Benders eigene Forschungen konzentrierten sich auf die schweizerischen Anfänge des Täufertums, damit kam er auf kongeniale Weise der schweizerischen und pfälzischen Herkunft der deutschen Bevölkerung in Pennsylvanien entgegen, die den Kern der Mennonite Church in den USA bildete. 1935 hatte Bender seine Promotion an der Universität Heidelberg, vom Zwingliforscher und den Täufern wohl gesonnenen Walther →Köhler betreut, abgeschlossen. Zur selben Zeit begegnete er Fritz →Blanke, Professor an der Universität in Zürich, der damals gerade das Zürcher Täufertum studierte und der das Datum für die ersten Glaubenstaufen am 21. Januar 1525 als wahrscheinlich erwiesen hatte. Benders Dissertation wurde unter dem Titel Conrad Grebel c. 1498 – 1526. The Founder of the Swiss Brethren Sometimes Called Anabaptists. erst 1950 veröffentlicht. Für die Biographie und die theologischen Leitgedanken Grebels ist es ein Pionierwerk. Bender meinte, dass Grebels Versuch, im September 1524 mit Thomas Müntzer in Verbindung zu treten, ohne sein Wissen um den gewalttätigen Fanatismus Müntzers geschah und eine kritische Distanz zu Müntzers reformerischen Aktivitäten allgemein an den Tag legte. Bender schätzte den Anteil Grebels an der Entstehung des Täufertums ein wenig zu hoch ein und berücksichtigte die Beiträge von Felix →Mantz und, hinter diesem, Andreas Bodenstein von →Karlstadt nicht stark genug, wie später von Ekkehard Krajewski (1958) und Calvin A. Pater (1984) gezeigt wurde. Wohl ebenso einflussreich wie die Grebel-Biographie war Benders Versuch, den Charakter des Täufertums in Anabaptist Vision (1944) zu bestimmen, in seiner Antrittsrede als Präsident der American Society of Church History. Er meinte, dass die Täufer drei Leitgedanken aus dem Neuen Testament übernommen hätten: Nachfolge (Heiligung des Lebens), freiwillige Mitgliedschaft in der Gemeinde und Friedfertigkeit bzw. Wehrlosigkeit. In einem Aufsatz in der Theologischen Zeitschrift (1952) bestand er darauf, dass das genuine Täufertum, das 1525 in Zürich entstand, in keinerlei Verbindung mit den Zwickauer Propheten oder Thomas Müntzer stand. Doch die Überschneidungen von Täufern und Anhängern Müntzers in Mitteldeutschland zurückzuweisen, ging sogar für John S.→ Oyer, einem jüngeren Fakultätsmitglied am Goshen College und später Benders Nachfolger als Schriftleiter von Mennonite Quarterly Review, zu weit. Oyer hatte sich in seiner Dissertation besonders intensiv mit dem mitteldeutschen Täufertum beschäftigt und war zu einem begründeten Urteil gelangt.

John Howard →Yoder war zweifellos der prominenteste Intellelektuelle und Theologe der jüngeren Generation der „Goshen-Schule“, die nach dem Zweiten Weltkrieg entstand. Wie Bender konzentrierte auch er sich auf das Schweizer Täufertum und nahm noch genauer den theologischen Herausbildungsprozess des Täufertums aus der Reformation Zwinglis in Augenschein. Er arbeitete den „Wendepunkt“ in der schweizerischen Reformation heraus, den er im Dezember 1523 sieht, als Zwingli sein Projekt eines evangelischen Abendmahls in die Tat umzusetzen verschob, weil er dafür nicht die Zustimmung des Rates gewinnen konnte. Yoders Hauptwerk, wie das Benders, entstand aus den Studien für eine Dissertation an einer europäischen Universität, in diesem Fall in Basel (1957). Diese Arbeit wurde in zwei Bänden veröffentlicht: Die Gespräche zwischen Täufern und Reformatoren, 1523 – 1538 (1962) und Täufertum und Reformation im Gespräch (1968). Besonders das zweite Buch, ein ausgesprochen theologisches Werk, wollte zeigen, dass das „Täufertum“ ein befriedigender Ausdruck des neutestamentlichen Christentums gewesen sei als die reformierten Bemühungen, eine Kontinuität zwischen dem Bund des Alten und dem Bund des Neuen Testaments zu konstruieren. Yoder wollte damals vor allem den religiösen Pazifismus der nordamerikanischen Mennoniten unter den deutschen und niederländischen Mennoniten verbreiten, die das traditionelle täuferische Prinzip der Wehrlosigkeit inzwischen aufgegeben hatten. Auch engagierte er sich in den Diskussionen um Krieg und Frieden im Weltrat der Kirchen. In Bezug auf diese Themen zeigte er kein Verständnis für die Absonderung von Welt, wie sie der Hutterer-Forscher Robert →Friedmann als die grundlegende Botschaft der Täufer in Doctrine of the Two Worlds (1957) beschrieben hatte. Die Anthologie, das →Kunstbuch genannt, das in Pilgram Marpeck nahe stehenden Kreisen entstanden war und von deutschen Pastor Heinold →Fast gemeinsam mit J. F. Gerhard →Goeters in der Burgerbibliothek zu Bern wiederaufgefunden wurde, erlaubte es Yoder, der Enge der Konzeption zu entkommen, die Friedmann für das ursprüngliche Täufertum entwickelt hatte. Fast hat im Grunde sein ganzes Gelehrtenleben lang darangesetzt, die Verbindung der Täufer zu Marpeck auszuarbeiten. Zunächst hat er eine ausgezeichnete Edition der Täuferquellen zur Ostschweiz (1973) vorgelegt, eine Gegend mancher Aktivitäten Marpecks, und dann nahm er die editorische Arbeit am Kunstbuch selbst in Angriff. Für Yoder und Fast war das Studium Marpecks so bedeutsam, weil es Gründe lieferte, keine wesentlichen Differenzen zwischen Marpeck und dem ursprünglichen schweizerischen Täufertum annehmen zu müssen. Das Leugnen denominationeller Unterschiede innerhalb des Täufertums war für die Anschauung vom „evangelischen Täufertum“ wichtig, einem Konzept der „Goshen-Schule“, die sich das Ziel gesetzt hatte, die „guten Täufer“ als eine Einheit zu studieren und die übrigen vom eigentlichen Täufertum auszuschließen. Dieser Zugang zum Täufertum hatte freilich Wurzeln, die auf Hans de Ries zurückgingen. Um 1963, ein Jahr nach Benders Tod, schrieb Walter Klaassen in Mennonite Quarterly Review: „Man hat das irritierende Gefühl, das mit dem „evangelischen Täufertum“ ein Täufertum gemeint ist, wie es, durch die Brille des Wunschdenkens im 20. Jahrhundert, hätte gewesen sein sollen, anstatt wie es einst wirklich war."

5. Von Monogenesis zu Polygenesis

Der stärkste Anwalt für eine umfassende Erforschung aller Nonkonformisten der Reformationszeit war George H. →Williams, dessen Radical Reformation 1962, dem Todesjahr Benders, veröffentlicht wurde. Williams bemühte sich um geographische und chronologische Vollständigkeit beim Erfassen der historischen Phänomene, die seiner Meinung nach von derselben Bedeutung waren, wie die obrigkeitlich orientierte protestantische Reformation, die Gegenreformation und der Renaissance-Humanismus. Williams Hauptinteresse an der radikalen Reformation war theologisch bestimmt, und das führte dazu, dass sich ein großer Teil seiner Darstellung mit theologischer Klassifikation und Kategorisierung der Ergebnisse beschäftigte, die von seinen Vorgängern in der Forschung vorgelegt worden waren. Da er am Ende der Bender-Ära schrieb, blieb es nicht aus, dass seine Darstellung der Täufer die Arbeiten der mennonitischen Forschung zusammenfasste. Am stärksten wurde Williams von Claus- Peter Clasen kritisiert, der Anabaptism. A Social History zehn Jahre später, nämlich 1972, veröffentlichte. Clasen wählte einen quantifizierenden, statistischen Zugang zu den Quellen der Täufer und stellte sich damit der theologischen Methode der vorangegangenen Forschergeneration entgegen. Er meinte, dass sich die Zahl der Täufer in Süd- und Mitteldeutschland, der Schweiz, Österreich und Mähren von Anfang der Bewegung an bis zum Ende des Dreißigjährigen Krieges auf ungefähr 30 000 belief. Darin sah er ein zu kleines Phänomen, als dass es mit dem offiziellen Protestantismus, dem römischen Katholizismus und dem Renaissance-Humanismus hätte verglichen werden können. Clasens Statistik war nicht so eindrucksvoll, wie sie sich darstellte. Er hatte keine quantitativen Daten für Mähren und die Niederlande, die ja zahlenmäßig die Zentren des Täufertums waren; und für andere Territorien waren seine Daten unvollständig, unklar ist allerdings, wie unvollständig. Dennoch hatte seine Untersuchung ein unbestreitbares Ergebnis: in katholischen Herrschaften waren viel mehr Märtyrer zu beklagen als in protestantischen. In demselben Jahr, in dem Clasens Buch erschien, veröffentlichte James M. Stayer Anabaptists and the Sword (1972), das hinter Hans de Ries zurückging und die gewalttätigen bzw. militanten Minderheiten der Täufer in die Untersuchung mit einbezog, die Münsteraner und Batenburger, auch diejenigen, die am Bauernkrieg 1525 teilgenommen hatten, entweder als Täufer oder als zukünftige Täufer. Von dieser Untersuchung gingen Impulse für die weitere Täuferforschung aus. Im Jubiläumsjahr (1525 – 1975) veröffentlichte Stayer mit zwei Kollegen, Werner O. →Packull und Klaus →Deppermann, den Aufsatz From Monogenesis to Polygenesis in Mennonite Quarterly Review (1975). Die Autoren konzentrierten sich auf die Feststellung, die von Williams und anderen in den 1960er Jahren getroffen wurde, dass nicht alle Täufer ihren Ursprung in Zürich gehabt hätten. Es gab Mutationen im Täufertum, die mit Hans Denck in Augsburg (1526) und Melchior Hoffman in Emden (1530) verbunden waren. Gleichzeitig waren sich die täuferisch/mennonitischen Forscher bewusst geworden, dass es mehr Täufer gab als nur diejenigen, die der „Grebel-Sattler-Linie“ (Heinold Fast) folgten. Die Polygenesis-These wurde recht schnell als Feststellung dessen angenommen, was jedermann eigentlich bekannt war. Ebenso wichtig war der Jubiläumsband, den der Hamburger mennonitische Reformationsforscher Hans-Jürgen Goertz Umstrittenes Täufertum 1525 – 1975 betitelte und mit dem er sich an die Seite der „Revisionisten“ stellte. Als Müntzerforscher war Goertz mit der relativen Unabhängigkeit der Müntzerschüler Hans →Denck, Hans →Hut und Melchior →Rinck innerhalb des Täufertums vertraut. Der wohl bedeutendste Beitrag im Umstrittenen Täufertum war der Aufsatz von Martin Haas „Der Weg der Täufer in die Absonderung", der eine zweiphasige Anfangszeit des Schweizer Täufertums annahm, zunächst war es eine „Massenbewegung“ aufgrund seiner Verwicklung in den Bauernkrieg und danach gab es in der zweiten Phase der Absonderung eine konkrete Gestalt, wie sie in den Schleitheimer Artikeln gefordert wurde. In seinem Untertitel deutete Haas ein weiteres Thema der Revision an: „Interdependenz von Theologie und sozialem Verhalten“. Zehn Jahre früher hatten marxistisch-leninistische Historiker der Deutschen Demokratischen Republik im Zusammenhang mit ihrer „Theorie der frühbürgerlichen Revolution“ sich besonders auf Mitteldeutschland komzentriert und ihre Theorie auf die Anhänger Thomas Müntzers angewandt. In den 1970er Jahren unterstrich der lutherische Kirchenhistoriker Gottfried →Seebaß, der dasselbe Gebiet bearbeitete wie die marxistischen Historiker, jedoch mit einem ganz anderen methodischen Zugang, die Bedeutung des fränkischen Täufers Hans Hut und den Zusammenhang des fränkischen Täufertums mit dem Bauernkrieg in Franken. Für die nächsten beiden Jahrzehnte entwickelten die Revisionisten der 1970er Jahre ihr Deutungsmodell weiter, Klaus Deppermann mit einer Biographie Melchior Hoffmans (1979), Werner O. Packull mit Studien zum frühen süddeutsch-österreichischen Täufertum (1977) sowie mit den Hutterite Beginnings (1995), und James M. Stayer im Anschluss an die Untersuchungen von Gottfried Seebaß über den Bauernkrieg und die Gütergemeinschaft der Täufer (1991). Wichtiger vielleicht noch war das Buch von Hans-Jürgen Goertz Pfaffenhaß und groß Geschrei. Die reformatorischen Bewegungen in Deutschland, 1517 – 1529 (1987). Hier hat er die Radikalität der frühen Reformation, die sich vor allem in ihrem →Antiklerikalismus zeigte, als „Sitz im Leben“ für die Anschauungen der Täufer ausgemacht – eine Radikalität, die aufgegeben oder abgemildert wurde, als der offizielle Protestantismus in Kooperation mit den weltlichen Obrigkeiten durchgesetzt wurde. So konnte Goertz das Täufertum – mehr als zuvor – aus dem Zentrum des reformatorischen Aufbruchs allgemein deuten.

6. Über Polygenesis hinaus

Der „Polygenesis-Konsens“ zwischen mennonitischen Täuferforschern und Profanhistorikern wurde im Laufe der letzten fünfzehn Jahre in Frage gestellt. Packulls Forschungen haben die Annahme der Unabhängigkeit des süddeutschen Täufertums relativiert. Er fand neue Gründe, die Interdependenz des „schweizerisch-süddeutschen Täufertums“ mit ihren zahlreichen Gruppierungen zu betonen. Ein wichtiger Katalysator für die „post-polygenetischen Forschungen“ war C. Arnold Synyders Anabaptist History and Theology. An Introduction (1995). Dieses Buch war ursprünglich für die Lehre fortgeschrittener Studenten gedacht. Snyder kritisierte die revisionistischen Forscher, weil sie den jeweils besonderen Charakter verschiedener täuferischer Gruppierungen so nachdrücklich betonten, und bestand auf der Bedeutung theologischer Interaktion und gegenseitiger Beeinflussung – quer durch die radikale Reformation. Selbst in den polygenetischen Deutungsanfängen wurde nicht übersehen, dass die verschiedenen täuferisch/mennonitischen Gruppen voneinander wussten und dass ihre gegenseitige Beeinflussung im Laufe der Zeit eher zu- als abnahm. Mit einem entschiedenen Akzent, der auf die Pneumatologie der Täufer gesetzt wurde, unterschied Snyder sich von der mennonitischen Täuferforschung der Bender-Ära, indem er nicht rigoros zwischen Täufertum und Spiritualismus trennte und die mündliche Kommunikation unterstrich, ebenso die wichtige kommunikative Rolle der Frauen im Täufertum. Besonders in den 1990er Jahren haben Historikerinnen wie Marion →Kobelt-Groch, Linda Huebert-Hecht und Sigrun Haude die relativ größere Bedeutung der Frauen im frühen Täufertum als in den offiziellen protestantischen Kirchen herausgestellt.

Während Snyder die Revision der 1970er Jahre und danach respektierte, indem er sie zu besonderen Korrekturen veranlassen wollte, war das Buch von Andrea Strübind Eifriger als Zwingli. Die frühe Täuferbewegung in der Schweiz (2003) als frontaler Angriff auf die revisionistisch-sozialgeschichtliche Täuferforschung gedacht. Buchstäblich jeder, der über dieses Thema seit 1970 geschrieben hat, ob Mennonit oder Nicht-Mennonit, wurde dem Angriff ausgesetzt. Strübind konzentrierte sich auf die Vor- und die Frühgeschichte des Täufertums in den Territorien Zürichs und St. Gallens von 1520 bis zu den Schleitheimer Artikeln 1527. Ihr Anliegen war es, die Zwei-Phasen-Interpretation der schweizerischen Anfänge des Täufertums zu überwinden und sie durch das Bild einer logischen Entwicklung in Richtung auf den Separatismus der Schleitheimer Artikel zu ersetzen. Sie konzentrierte sich auf die wichtigsten Dokumente des schweizerischen Täufertums von 1524 bis 1527 und analysierte diese Quellen mit Einsichten, die denjenigen Benders und Yoders überlegen sind. Als eine deutsche baptistische Kirchenhistorikerin, die sich ihrer Wurzeln sowohl in der täuferischen als auch der reformierten Tradition bewusst ist, war Strübind in der Lage, einen ausgewogenen Zugang zu Zwingli und seinen täuferischen Kritikern zu finden.

Die nächste Stufe in der Entwicklung der täuferisch/mennonitischen Historiographie wurde mit dem Erscheinen des Companion to Anabaptism and Spiritualism, 1521 – 1700 (2007) erreicht, das von John Roth, dem gegenwärtigen Schriftleiter von Mennonite Quarterly Review, und James Stayer zusammengestellt wurde. Dieser Sammelband besteht auf dem engen Zusammenhang zwischen Täufertum und Spiritualismus, indem er die wichtigsten Interpreten des Spiritualismus, wie den Schwenckfeldforscher R. Emmet McLaughlin, zur Mitarbeit verpflichtete; und er wies auf eine zukünftige Forschung hin, die ein größeres Gewicht auf das späte 16. Jahrhundert und auf das 17. Jahrhundert legen würde, was besonders in den Beiträgen von Piet Visser und Michael Driedger der Fall ist. Der Aufsatz über „Swiss Anabaptist Beginnings" von C. Arnold Snyder (begleitet von einem längeren Paralleltext in Mennonite Quarterly Review 2006) wurde zu einer Widerlegung des Buches von Andrea Strübind. Snyder schloss Waldshut und Schaffhausen in seinen Überblick ein und meinte, dass Strübind, indem sie sich nur auf die Territorien Zürichs und St. Gallens konzentrierte, tatsächlich die Evidenz unterdrückt hat, die am stärksten das Zwei-Phasen-Modell der schweizerischen Täuferanfänge und die Verwicklung des schweizerischen Täufertums mit dem Bauernkrieg von 1525 unterstützt hätte. Am erstaunlichsten sind die überzeugenden Gründe, die Snyder für die enge Zusammenarbeit zwischen Konrad Grebel und Balthasar Hubmaier herausarbeitete, sofern sie der Theologie und Ekklesiologie des schweizerischen Täufertums 1525 Gestalt gaben. Hubmaier war freilich nicht friedfertig, aber Snyder meinte, dass Wehrlosigkeit ohnehin kein vorrangiges Anliegen der Täufer von 1525 gewesen sei, die sich pragmatisch sowohl den Obrigkeiten als auch den bäuerlichen Haufen anschließen konnten. Der Separatismus der Schleitheimer Artikel setzte erst ein, als die Niederlage der Bauern gegen Ende 1525 besiegelt war. Zwei andere Autoren, die zum Companion beitrugen, John Rempel und Martin Rothkegel, konzentrierten sich auf unterschiedliche Weise auf Pilgram Marpeck. In The Lord´s Supper in Anabaptism (1993) hat Rempel gezeigt, dass Marpecks Anschauung vom Abendmahl in traditionellem Sinne orthodox gewesen sei – in einem Maße sogar, wie sonst nirgendwo im Täufertum. Brot und Wein, die Abendmahlselemente, waren nicht bloße Zeichen, sondern materielle Manifestationen des göttlichen Geistes, Anordnungen des noch nicht verherrlichten (auferstandenen), menschlichen Leibes Christi. Martin Rothkegel, der Heinold Fasts Edition des Kunstbuchs zu Ende führte, zeigt in seinem Aufsatz und anderswo, auf der Grundlage von kürzlich entdecktem Archivmaterial aus Mähren, dass Marpeck seine Theologie als Sprecher der Austerlitzer Brüder ausarbeitete, die sich bemühten, „eine mikrokonfessionelle Identität zu schaffen“. So kehren wir im Fall Marpecks zu einem Mikrokonfessionalismus zurück, der ganz und gar demjenigen in den Editionen der friesischen Mennoniten von Het Offer des Heeren in den späten 1560er Jahren glich. Wir sind über Hans de Ries hinaus zurückgegangen. Marpeck und seine Austerlitzer Bundesgenossen, alles andere als „ökumenisch gesinnte Täufer“, stellten sich als Mikrokonfessionalisten dar, die Verdammungsurteile gegen falsche Christen, wie die Hutterer und die Schweizer Brüder, aussprachen.

Die mikrokonfessionalistischen Bausteine entwickelten sich hier und da auch zu einem größeren Konfessionsmuster, das sich erkennbar von den Mustern der obrigkeitlich orientierten Reformatoren und der Spiritualisten unterschied. Um die Wende zum 17. Jahrhundert begannen die täuferischen Gruppen zu erkennen, dass sie eine gemeinsame Geschichte hatten, die bald auch von Hans de Ries und seinen Nachfolgern erzählt wurde.

Bibliografie

Zur Bibliografie der für die Täuferforschung wichtigen Publikationen s. die Bibliografie zum Artikel Täufer in diesem Lexikon. Hier werden nur die Beiträge zur Geschichte der Täuferforschung (vor allem Forschungsberichte) aufgeführt.

Bibliografie des Täufertums, 1520 – 1630, hg. von Hans J. Hillerbrand, Quellen zur Geschichte der Täufer, Band 10, Gütersloh 1962. - Ders., Anabaptist Bibliography 1520 – 1630, hg. von Hans J. Hillerbrand, St. Louis, Mo., 1991.

Literatur

Harold S. Bender, Historiography: I. Anabaptist. General, II. Switzerland, III. France, in: Mennonite Encyclopedia, Bd. II, Scottdale, Pa., 1956, 751- 758. - Hans-Jürgen Goertz, Religiöse Bewegungen in der frühen Neuzeit. Enzyklopädie deutscher Geschichte, Bd. 20, München 1993. - Christian Hege, Geschichtsschreibung, in: Mennonitisches Lexikon, Bd. II, Frankfurt/M. und Weierhof 1942, 96–101. - Walther Köhler, Das Täufertum in der neueren kirchenhistorischen Forschung, in: Archiv für Reformationsgeschichte 37, 1940, 93 ff.; 38, 1941, 549 ff.; 40, 1943, 246 ff.; 41, 1948, 164 ff. - Cornelius Krahn, Historiography: IV. Netherlands, in: Mennonite Encyclopedia, Bd. II, 1956, 758–764. - John S. Oyer, Historiography, Anabaptist, in: Mennonite Encyclopedia, Bd. V, 1990, 378–382. - John D. Roth und James M. Stayer (Hg.), A Companion to Anabaptism and Spiritualism, 1521–1700, Leiden 2007.- James M. Stayer, The Significance of Anabaptism and Anabaptist Research, in: Hans-Jürgen Goertz und James M. Stayer (Hg.), Radikalität und Dissent im 16. Jahrhundert/Radicalism and Dissent in the Sixteenth Century, in: Zeitschrift für Historische Forschung, Beiheft 27, Berlin 2002, 77–88.- James M. Stayer, The Anabaptists, in: Steven E. Ozment (Hg.), Reformation Europe. A Guide to Research. St. Louis, Mo., 1982, 135–159. - James M. Stayer, Werner O. Packull und Klaus Deppermann, From Monogenesis to Polygenesis. The Historical Discussion of Anabaptist Origins, in: Mennonite Quarterly Review 49, 1975, 83–121.

James M. Stayer

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