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Nationalismus

Die allgemein akzeptierte Antwort auf die Frage, wofür jemand zu sterben bereit sei, war in den letzten 250 Jahren der Nationalismus, also eine Ideologie, die Loyalität gegenüber der Nation als höchste Verpflichtung der Menschen fordert. Leider gibt es noch keine wissenschaftlich allgemein anerkannte Definition des Begriffs Nation, zum Teil, weil es für jede Regel auch Ausnahmen zu geben scheint. Die meisten Definitionen beschreiben jedoch eine Gemeinschaft, die in irgendeiner Kombination von gemeinsamer Sprache, Geschichte, Territorium, Religion und (oder) ethnischer Prägung, in eine schon länger bestehende kulturelle Tradition eingebunden ist und sich so von anderen Nationen abhebt. Für die Mennoniten war der Nationalismus eine der nachhaltigsten und schwierigsten Herausforderungen in den letzten zwei Jahrhunderten, da ihr hauptsächlichstes Anliegen herkömmlicher Weise die Nachfolge war, die ihr Leben auf die Lehre und das Vorbild Jesu Christi ausrichtete, wovon in der Bibel berichtet wurde, und die Nächstenliebe, ja sogar Feindesliebe einschlossen. Dem Nationalismus sind die Mennoniten mit zwei unterschiedlichen, gelegentlich auch einander überlagernden Optionen begegnet: entweder haben sie ihn in sich aufgenommen oder sich ihm entzogen. Unter denjenigen, die sich mit ihm in irgendeiner Form arrangierten, reichte die Skala von begeisterter Annahme bis zu zögerlichem Kompromiss. Unter denjenigen, die ihm auszuweichen versuchten, waren die wichtigsten Optionen die Auswanderung (→Migration) oder die Rückbesinnung auf die Absonderung von der sie umgebenden Gesellschaft. Angesichts der alles durchdringenden Natur des Nationalismus fühlten sich jedoch fast alle Mennoniten in irgendeiner Form der Nation verbunden, in der sie lebten. Obwohl das wissenschaftliche Studium des Nationalismus seit über einem Jahrhundert betrieben wird, wurde erst vor kurzem begonnen, die äußerst wichtige Rolle eingehender zu untersuchen, die militärische Gewalt, Wehrpflicht und die totale Inanspruchnahme der Gesellschaft von der Kriegsführung für die Entwicklung des Nationalismus gespielt haben. Weil mennonitische Begegnungen mit dem Nationalismus ursprünglich auf diese Fragen ausgerichtet waren und die Begründung des Begriffs der Nation durch die Verkündigung der Nächstenliebe direkt in Frage stellten, anstatt Angst zu schüren oder Ausschluss zu propagieren, beleuchtet die historische Erfahrung ihres zähen Widerstandes und schließlich ihrer Anpassung an den Nationalismus und Wehrdienst besonders gut, die grundlegende Rolle der Gewalt, die Nationen aufeinander in der modernen Welt ausüben.

1. Die Wurzeln des Nationalismus

In den meisten Theorien werden die Entstehung des Nationalismus auf das Aufkommen der →Moderne zurückgeführt, auf die Verstädterung und die Industrialisierung, und die Anfänge dieser Ideologie auf die Zeit der →Aufklärung des ausgehenden 18. Jahrhunderts datiert. Die Aufklärung versuchte, die Gesellschaft auf rationale Weise aufzubauen, und um dieses Ziel zu erreichen, bestritt sie der Monarchie und der institutionalisierten Kirche das Recht, die Gesellschaft zu organisieren.

Ein einflussreiches neues Gesellschaftsmodell entwarf Jean-Jacques Rousseau in seinem Contrat Social von 1762. Er trat dafür ein, dass die einzig legitime Grundlage einer Regierung die Zustimmung der Regierten bis zu einem gewissen Umfang sein müsse, eine Zustimmung, die nur Sinn ergibt, wenn die Regierung den Interessen des Volkes dient. Rousseau bezeichnete diese Interessen als den „allgemeinen Willen“, der die einzig legitime Autorität in der modernen Welt sei. Im 8. Kapitel des Vierten Buches Sur Religion Civil meinte Rousseau, dass diese Art der Gesellschaft eine Zivilreligion des Bürgers erfordere, um die gesellschaftliche Einheit zu erhalten. Für Mennoniten ist diese Forderung Roussaus deshalb bedeutsam, weil eine solche Religion die Verbannung derjenigen vorsah, die sich nicht zu dieser neuen, höheren Religion bekannten, und die Todesstrafe für diejenigen, die nicht bereit waren, ihr Leben zu opfern, um diese neue Religion zu verteidigen. Während Rousseaus Theorien nirgends direkt in die Praxis umgesetzt wurden, beeinflusste ihr Geist doch die Entwicklungen in der Französischen Revolution und im neunzehnten Jahrhundert. Entscheidend ist, dass die erste Französische Republik im Jahre 1793 den ersten modernen Verfassungsentwurf auf Grundlage dieser Vorstellung vorlegte, der die Bürger als Souveräne der Nation verpflichtete, zu deren Verteidigung auch zu töten und sterben. Gleichzeitig wurden abstrakte Forderungen des allgemeinen Willens in liberalen politischen Theorien ausgearbeitet und bestimmte politischen Rechte wie Meinungs-, Versammlungs- und Religionsfreiheit sowie die Unverletzlichkeit des Eigentums formuliert. Wie diese Rechte dem Menschen als Souverän zustanden, so wiesen die Liberalen auch darauf hin, dass die Bürger verpflichtet seien, die Gesetze zu beachten, Steuern zu zahlen und den Staat zu verteidigen.

Als auf dem europäischen Kontinent zwischen dem späten 18. Jahrhundert und dem Beginn des 20. Jahrhunderts die politischen Rechte und Pflichten vom Adel auf das Volk übergingen und sich parallel dazu die Form des Wirtschaftens von der Feudalwirtschaft zum industriellen Kapitalismus veränderte und sich auf dem Gebiet der Politik die absolute zur konstitutionellen Monarchie und zur Republik wandelte, war dies der Zeitraum, in dem sich der Nationalismus von einer Theorie der intellektuellen und wirtschaftlichen Eliten zu einer Bewegung wandelte, die von den Massen der Bauern und Arbeiter begeistert aufgenommen wurde.

Angesichts der zentralen Rolle des Nationalismus im Leben und Sterben der Menschen des 20. Jahrhunderts entwickelte sich – vor allem in Europa – eine umfangreiche Literatur. Im mittleren Drittel des Jahrhunderts gingen Hans Kohn und Carlton Hayes der Frage nach, ob der Nationalismus angesichts der Säkularisierung in der Moderne das Christentum als die bedeutendste religiöse Kraft nicht ersetzt habe. Diese Auffassung wurde kürzlich von Anthony Smith bekräftigt, der aber auch anmerkte, dass sich die Vereinbarkeit des Nationalismus mit der traditionellen religiösen Vorstellung, zum auserwählten Volk zu gehören, behauptete. In den 1980er Jahren traten andere Theorien in den Vordergrund. Beispielsweise argumentiert Ernst Gellner, dass die Anpassungen an den Nationalismus notwendig gewesen seien, um von einer Agrargesellschaft zu einer Industriegesellschaft zu gelangen; diese Entwicklung habe die „hohen Mauern (…) zwischen Stellung, Herkunft und Vermögen“ hinweggefegt (Ernst Gellner, Nationen und Nationalismus, S 25). Da die Gesellschaft sich dieser schmerzhaften Umbrüche unterzog und Erfahrungen von Mobilität und Bildung den Menschen gemeinsam waren, entwickelte sich eine Art von Gleichförmigkeit, die dann im Nationalismus ihren Ausdruck fand. Für Gellner erklärten und forderten die sozialen Strukturen sogar allein schon die Heraufkunft des Nationalismus.

Zugleich beschrieben andere Theorien den Nationalismus und die Nationen als kulturelle Kunstgebilde, d. h. als Ideen und kulturelle Praktiken, wie sie im Laufe der Zeit von einzelnen Personen und gesellschaftlichen Kräften herausgebildet worden waren. Benedict Anderson bezeichnete die Nationen als „eingebildete Gemeinschaften“ (imagined Communities). Aus seiner Sicht stammten Nationen teilweise von Menschen, die sich ihre Gemeinschaften in ihrer Vorstellung ausbildeten, wie sie in einem Umkreis von Verwaltungsgrenzen bestanden, in denen sich ihr Leben, ihre Karrieren und Träume entfalteten. Diese gesellschaftlichen Bindungen wurden durch die Fähigkeit des modernen Kapitalismus der Printmedien verstärkt, die Leser über Romane und Zeitungen zu fesseln und sie anzuleiten versuchten, sich ihre unmittelbaren und persönlichen Verbindungen zu anderen Lesern, die innerhalb desselben Umkreises lebten, prägen zu lassen.

John Breuilly meinte, dass eher die staatsbildenden Maßnahmen der Könige den Staat bei der Entwicklung des Nationalismus aktivierten, eine Behauptung, die für die Mennoniten besonders relevant war. Der Nationalismus veranlasste die Staaten nämlich, eine allgemeine Wehrpflicht einzuführen, ein Schritt, den viele Könige vor der Zeit des Nationalismus ablehnten, weil sich dann das Volk als Verteidiger der Nation für souverän hätten halten können. Da die Mennoniten meist direkt mit dem Nationalismus in Gestalt der Wehrpflicht konfrontiert wurden, ist Breuillys Augenmerk auf den Aufbau des Staates besonders wichtig, um die Auswirkungen des Nationalismus auf Mennoniten zu verstehen. Anthony Smith betonte die Wichtigkeit der ethnischen Bindungen an einen gemeinsamen Mythos des Ursprungs und dessen Bedeutung für die Grundlagen der Nationen und fortgeschrittene Theorien, die erklären helfen, warum sich viele Mennoniten europäischer Abstammung als eine ethnische Gruppe, nicht aber als Nation begreifen.

2. Mennonitische Anpassung an den Nationalismus

Die Gleichberechtigung aller Bürger, auf der der Nationalismus für alle Mitglieder der Nation besteht, öffnete den Mennoniten, die lange Zeit unter Verfolgung und Diskriminierung litten, einen vielversprechenden Weg zu gesellschaftlicher Anerkennung. Die Ausgangslage für religiöse Minderheiten im 18. Jahrhundert war die Toleranzpolitik, die allerdings oft enge Grenzen bei der Existenzsicherung, bei öffentlichem Gottesdienst, den Eigentumsrechten und der Wahl des Ehepartners außerhalb der Glaubensgemeinschaft zog und zusätzliche Steuern und Gebühren für die Aufenthaltsberechtigung im Gebiet eines Herrschers auferlegte. Diese Beschränkungen galten sowohl für Juden als auch für Mennoniten. Besonders bemerkenswert waren für Mennoniten die Zahlungen in Kriegszeiten im Austausch für Schutz und Duldung durch die Herrscher, zum Beispiel die Zahlungen für die Duldung der niederländischen Doopsgezinde durch Wilhelm von Oranien im Jahre 1572, die Zahlungen der westpreußischen Mennoniten im Jahr 1813 an den preußischen König und der russlanddeutschen Mennoniten an die Zaren während des napoleonischen Feldzugs und des Krim-Krieges. In allen drei Fällen verstanden die Mennoniten diese Zahlungen nicht so sehr als eine Unterstützung, sondern vielmehr als Preis für ihre Duldung. Der preußische Staat strebte eine solche Erwägung offensichtlich an. Er sah im Wehrdienst einen Dienst an der Nation und eine Voraussetzung für den Erwerb der Bürgerrechte. Von 1801 bis 1867 wurden die Mennoniten, die den Militärdienst leisteten, von der Zahlung zusätzlicher Steuern ausgenommen und ihnen die vollen Eigentumsrechte (Bürgerrechte) versprochen. Nach 1867 akzeptierten die meisten Mennoniten diesen Handel mit dem Privileg. Ein neues Gesetz von 1874 gewährte ihnen die vollen Bürgerrechte mit der einzigen Einschränkung, dass sie nicht von der allgemeinen Kirchensteuer befreit wurden. Die Mennoniten, die den ihnen ermöglichten Nationalstolz akzeptierten und propagierten, wurden mit neuen wirtschaftlichen Möglichkeiten und Ausbildungschancen belohnt.

Rund zwei Drittel der deutschen Mennoniten dienten als reguläre Soldaten im Ersten Weltkrieg, obwohl ihnen die rechtliche Möglichkeit, ohne Waffen zu dienen, offen stand. Die mennonitische Presse berichtete über jeden Mennoniten, der mit dem Eisernen Kreuz ausgezeichnet worden war, und über jeden Gefallenen, bis die Zensur 1915 die öffentliche Berichterstattung darüber beendete. Den Weg, den die Mennoniten in Europa zurücklegten, bevor sie sich dem Nationalismus öffneten, wird durch die Tatsache hervorgehoben, dass bis Ende des 19. Jahrhunderts viele Mennoniten in den Niederlanden, Deutschland und Russland auf anachronistische Weise jene früheren Zahlungen rechtfertigten oder sogar stolz auf sie waren. Sie begriffen sie als patriotische Geschenke zur Unterstützung der Nation. Sie waren sowohl erleichtert als auch stolz darauf, als Teil der Nation anerkennt zu werden, anstatt fortwährend als Außenseiter beunruhigt und diskriminiert zu werden. Ihre Anerkennung und ihr Bedürfnis, zum Wohl der deutschen Nation beitragen zu können, räumte eine Hemmschwelle aus dem Weg, der ihnen dazu hätte dienen können, sich Projekten wie dem Ersten Weltkrieg oder dem Entstehen des Nationalsozialismus zu widersetzen, die vorgaben, das deutsche Volk zu verteidigen. In den Vereinigten Staaten von Amerika verloren die Mennoniten zeitweise in Pennsylvanien ihre Wahlrechte, weil sie sich weigerten, die revolutionäre Sache zu unterstützen. Die Gewalt und Unterdrückung, der mennonitische Wehrpflichtige im Ersten Weltkrieg ausgesetzt waren, führten zusammen mit der wachsenden Schulbildung und Akkulturation dazu, dass 40 % der US-Mennoniten als reguläre Soldaten im Zweiten Weltkrieg eingezogen wurden. Viele Gemeinden im Mittleren Westen (in den Great Plains) stellten in dieser Zeit US-Flaggen in ihren Gottesdiensträumen auf, wo sie jahrzehntelang blieben. Für viele mennonitische Soldaten und ihre Familien – in welchem Land auch immer – war der Stolz auf den Einsatz im Heer und die Freude, in die Nation aufgenommen worden zu sein, ein wichtiger Teil ihrer Identität, und die Zustimmung zum Nationalismus ermöglichte es diesen relativen Außenseitern, voll akzeptiert und geschätzte Mitglieder in ihren jeweiligen Nationen zu werden.

Andere Mennoniten reagierten zwiespältiger auf den Nationalismus. Eine Möglichkeit bestand in der Betonung einer Zwei-Reiche-Lehre, wobei das Schwert der Regierung gegeben ist, um für Gerechtigkeit zu sorgen, aber nicht den Christen, um es zu führen. Ein Ausdruck dieser Art von Anpassung konnte der Kauf von Ersatzleuten sein, eine Möglichkeit, von der die Mennoniten in den Niederlanden eine Zeit lang Gebrauch machten, in Deutschland außerhalb Preußens bis 1867 und zu verschiedenen Zeiten in den Vereinigten Staaten bis zum Ersten Weltkrieg. Ein weiteres Beispiel war die mennonitische Unterstützung von Politikern, die eine nationalistische, aggressive Außenpolitik verfolgten, auch wenn sie sich sogar einem freiwilligen Wehrdienst verweigerten. Eine andere wichtige Option für diejenigen, die zögerten, den Nationalismus ganz und gar zu übernehmen, war eine bestimmte Form des waffenlosen Dienstes beim Militär als ein Versuch, die Nation dadurch zu unterstützen, indem sie willens waren, für sie zu sterben, aber nicht zu töten. Als diese Möglichkeit für die Mennoniten in Preußen im Jahre 1868 durch ein königliches Dekret („Kabinettsordre“) geschaffen wurde, war es das erste Mal, dass eine solche Unterscheidung in der preußischen Armee gemacht wurde. Ein Drittel nutzte diese Möglichkeit noch im Ersten Weltkrieg, obwohl mehr Mennoniten am Anfang als am Ende davon Gebrauch machten. Viele russische Mennoniten dienten im Ersten Weltkrieg im Sanitätsdienst; in den USA nahmen während des Zweiten Weltkriegs vierzehn Prozent der Mennoniten diese Möglichkeit wahr.

3. Versuche, dem Nationalismus auszuweichen

Einige Mennoniten versuchten, den Nationalismus mit seinen Forderungen, der Nation zu dienen, durch direkte Konfrontation zu bekämpfen. Als die Frankfurter Nationalversammlung 1848 die Frage der Wehrpflicht für religiöse Minderheiten, insbesondere Juden und Mennoniten, diskutierte, unterstützten die drei Mennoniten, die Mitglieder der Versammlung waren, die Wehrpflichtforderung für ihre Glaubensgeschwister. Mennoniten aus Baden und Westpreußen wurden jedoch auch in dieser Frage politisch aktiv. Erfolglos baten sie die Nationalversammlung, sie auf der Grundlage des Primats der Religionsfreiheit von der nationalen Wehrpflicht zu befreien. Ein ähnlicher politischer Aktivismus führte in Russland nach 1870 zur Einrichtung des Forsteidienstes als Alternative zum Wehrdienst und in den Vereinigten Staaten von Amerika nach 1940 zum Civilian Public Service, an dem 46 % der Mennoniten während des Zweiten Weltkriegs teilnahmen. Mindestens ein Mennonit wurde in Preußen in den 1870er Jahren wegen der Verweigerung des Militärdienstes zu einer Gefängnisstrafe verurteilt, in den USA wurden während des Ersten Weltkrieges Hunderte vor Gericht gestellt, weil sie weder Uniformen noch Waffen tragen wollten. Häufiger jedoch war die Auswanderung der Weg, um dem Anspruch der Nation zu entkommen. Viele europäische Mennoniten wählten diesen Ausweg. Tatsächlich waren ursprünglich fast alle Mennoniten, die aus Preußen nach in Russland einwanderten, zunächst als Flüchtlinge auf der Suche, den Beschränkungen zu entkommen, die mit ihrer Weigerung zusammenhingen, sich der politischen Kultur der Nation anzupassen. Nachdem das russische Reich in den 1870er Jahren die Wehrpflicht eingeführt hatte, boten Nord- und Südamerika für die meisten Mennoniten die Zufluchtsorte ihrer Wahl. Ein Drittel der russlanddeutschen Mennoniten kam damals in die Vereinigten Staaten von Amerika oder nach Kanada. Hunderte von Mennoniten gingen während des Ersten Weltkriegs von den Vereinigten Staaten nach Kanada und Tausende verließen Kanada wegen ihrer Weigerung, sich der nationalen Kultur dort anzupassen, und wanderten in den 1920er Jahren nach Mexiko aus.

Bezeichnenderweise verließen alle Amischen während des 19. Jahrhunderts Europa, noch vor der Spaltung in Amische Mennoniten und Old Order Amische. In den 1950er Jahren hatte sich jedoch die Ideologie des Nationalismus auf der ganzen Welt ausgebreitet, so dass die Auswanderung nur noch sehr begrenzte Möglichkeiten bot.

Diese Auswanderungen zur Vermeidung der Anpassung an die Nation, beantworten die Frage, warum es nur noch wenige Mennoniten in Europa gab, die den Kriegsdienst im 20. Jahrhundert ablehnten. Ihre Staaten hatten aufgehört, dies als gesetzliche Möglichkeit anzubieten, und diejenigen, die geblieben waren, hatten sich in irgendeiner Form angepasst. Die Mennoniten, die den Militärdienst ablehnten und stattdessen meist auswanderten, begründeten ihre Ablehnung vor allem mit einem geradlinigen Biblizismus und wiesen damit zugleich auch die neue historisch-kritische Methode der Bibelauslegung zurück, die damals in Europa aufgekommen war. Diese Einstellung machte sie anfällig für die fundamentalistische Theologie in den Vereinigten Staaten und Kanada. Sowohl Fundamentalismus als auch die Ablehnung des Militärdienstes sind zwei sehr unterschiedliche Möglichkeiten, die Moderne abzulehnen – vielleicht aber ihre einzige Gemeinsamkeit.

Die abschließende Reaktion vieler Mennoniten bestand darin, sowohl den Nationalismus als auch die Moderne, so weit wie möglich abzulehnen. Hunderte von Mennoniten in Westpreußen unterzeichneten im Jahr 1868 eine Petition mit dem Angebot, ihr Wahlrecht im Austausch gegen die Befreiung vom Militärdienst aufzugeben. Mennoniten in den USA, vor allem diejenigen schweizerischer oder süddeutscher Herkunft zögerten noch bis vor Kurzem, ihr Wahlrecht auszuüben. Viele der konservativen Gruppen in Nord- und Südamerika entschieden sich gegen die öffentlichen Schulen, weil sie diese zu Recht als Vertreter eines nationalen und modernen Gedankenguts ansahen. Ebenso entzogen sie der nationalen Rentenversicherung und weigerten sich, gesetzliche Regelungen einzuhalten, die in zahlreichen Lebensbereichen im Gegensatz zu ihren Überzeugungen standen.

Nach den Terroranschlägen auf die Vereinigten Staaten im Jahr 2001 wurden einige Abgeordnete im Landtag von Kansas darauf aufmerksam, dass das Hesston College in Kansas nicht mehr die US-Flagge hisste, seit die Fahnenstange während des Vietnamkrieges entfernt worden war. Alle Versuche, die Hochschule finanziell zu bestrafen, blieben letztlich erfolglos, erregten aber nationale Aufmerksamkeit. Das Goshen College in Indiana beschloss 2010, die Nationalhymne vor Sportveranstaltungen zu spielen, eine in den Vereinigten Staaten übliche und erwartete Praxis. Der Vorstand hob diese Entscheidung im Juni 2011 jedoch wieder nach Protesten ehemaliger Studenten, Dozenten und noch Studierender gegen diese Anpassung an den US-Nationalismus auf. Der Bericht darüber, dass die Nationalhymne nun geächtet wurde, rief eine scharfe Reaktion von einigen nationalen Medien hervor, und das College richtete unter http://www.goshen.edu/anthem/ eine besondere Website ein, um ihre Begründung öffentlich zu vertreten.

4. Mennoniten und Volkszugehörigkeit

Nationalismus mit seiner Konzentration auf Gruppenidentität (→Identität) und Grenzziehungen hat das Bewusstsein unter den Mennoniten für diese Fragen geschärft. In einigen wenigen Fällen bezeichneten sich Mennoniten sogar selbst als Nation, zum Beispiel: in einer Bittschrift von 1830 die Mennoniten von Brenkenhofswalde oder davor der Danziger Mennoniten-Älteste Georg Hansen. Ohne ein eigenes Gebiet oder Anspruch auf politische Souveränität entsprachen diese Ansprüche jedoch nicht den modernen Definitionen. Häufiger wurde dagegen vom mennonitischen Volk gesprochen. Anthony Smith behauptete, dass Ethnien die notwendigen Vorläufer der Nationen seien und dass „Volksgruppen mit gemeinsamen Sagen (Abstammung und Mythen), Geschichten und Bildung, die sich einem bestimmten Territorium und einem Gefühl der Zusammengehörigkeit verbunden fühlen, so genannt werden“ (Anthony Smith, Ethnic Origins of Nations, 32). Mennonitische Solidarität wurde seit frühester Zeit praktiziert, als die Niederländer den schweizerischen und westpreußischen Mennoniten politisch und materiell zu Beginn des 17. Jahrhunderts halfen. Ein ähnlicher Impuls führte 1920 zur Gründung des →Mennonite Central Committee. Die Hervorbringung eines gemeinsamen Mythos vom geistigen Erbe war jedoch weitgehend die Arbeit des 19. Jahrhunderts, z. B. mit der Gründung von mennonitischen Zeitungen und Schulen, die mennonitischen Lesern ein Gemeinschaftsgefühl vermittelten und die gemeinsame Geschichte lehrten. Das Aufblühen der Täuferforschung, das im späten 19. Jahrhundert einsetzte und mit Harold S. Benders Anabaptist Vision (1943/44) in den Vereinigten Staaten seinen Höhepunkt fand, könnte als ein Beispiel für die Schaffung eines solchen Herkunftsmythos angeführt werden. Obwohl Mennoniten nicht über ein bestimmtes Gebiet verfügen, gibt es ein großes Archipel (viele Gegenden, große Gruppen und zahlreiche Inseln) vereinzelter mennonitischer Höfe und historischer Orte, die geborene Mennoniten sofort als mennonitisch erkennen: Zürich, Emmental, Witmarsum, Amsterdam, Hamburg-Altona, Weierhof, Bielefeld, Danzig, Weichsel-Delta, Chortitza, Molotschna, Akron, Goshen, Newton, Hillsboro, Steinbach, Winnipeg, Frazier Valley, Fresno und der Chaco (Paraguay), sie werden alle sofort als mennonitische Gegenden (Orte) anerkannt, gar nicht zu reden von der Verbreitung von Ortsnamen wie Blumenort und Rosenort, Orte, die Mennoniten in der ganzen Welt gegründet haben. Viele Mennoniten in Nordamerika und Europa, die sich nicht mehr mit dem mennonitischen Bekenntnis identifizieren, haben dennoch ein starkes Gefühl dafür entwickelt, mennonitisch zu sein, mit den ukrainischen oder anderen europäischen Speisen, die jetzt als typisch mennonitische Gerichte in Restaurants und auf folkloristischen Märkten in den von Mennoniten bewohnten Gegenden Nordamerikas verkauft werden. Die Terminologie der ethnischen Mennoniten, die wohl richtiger Kultur-Mennoniten genannt werden sollten, wurde vom Nationalismus geprägt. Smith wies jedoch warnend darauf hin, dass sich ethnische Gruppen, die ihre Zusammengehörigkeit nicht pflegen, bald auflösen. Da mennonitische Solidarität mehr aus religiösen als aus ethnischen Gründen geübt wurde, scheint es unwahrscheinlich zu sein, dass eine nicht-religiöse mennonitische Ethnizität auf Dauer überleben wird.

5. Nationalismus als Organisationsprinzip

Der Nationalismus, von dem die Mennoniten beeinflusst wurden, wirft ein besonders deutliches Licht auf die zentrale Bedeutung des Wehrdienstes und die Ideologie der allgemeinen Wehrpflicht. Ute Frevert und Karan Hagemann wiesen vor kurzem in diese Richtung, aber hier bleibt noch viel mehr zu tun. Aus mennonitischer Sicht wurde jedoch die Welt so vom Nationalismus und dem Aufstieg der Nationalstaaten geprägt, dass der nationale Akzent zum Grundmuster jeder mennonitischen Organisation wurde. Der Zusammenschluss der größten schweizerisch-süddeutschen mit den niederländisch-preußisch-russischen Gruppen in Nordamerika im Jahr 2002 wurde schließlich nur durch die Eingliederung in zwei nationale Gruppen ermöglicht, nämlich die Mennonitische Kirche in Kanada und die Mennonitische Kirche (Mennonite Church) USA. Benedict Andersons Argument, dass die staatlichen Grenzen, in denen wir leben, die Grenzen von Gruppen bestimmen, scheint in dieser Neuausrichtung mennonitischer Kirchen zum Tragen zu kommen. Die →Mennonitische Weltkonferenz verzeichnet Mitglieder-Konferenzen nach Nationen, was darauf hindeutet, dass Mennoniten sich überall in erster Linie nach Nationen organisieren (http://www.mwc-cmm.org/index.php/communities/48-anabaptist-mennonite-churches). Es ist schwer sich vorzustellen, dass sich die Täufer oder sonst jemand im 16. Jahrhundert nach einem solchen nationalen Prinzip organisiert hätten.

Bibliografie (Auswahl)

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Mark Jantzen

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