Reimer, Gustav

geb. am 17. Oktober 1884 in Heubuden, Westpreußen, gest. am 19. Juli 1955 in Toledo, Dpt. Canelones, Uruguay; Landwirt und Diakon.

Gustav Reimer wurde als Sohn von Abraham Reimer und seiner Ehefrau Maria, geb. Braun geboren. Die Familie hatte sich schon seit mehreren Generationen für die Belange der Mennonitengemeinden in Westpreußen besonders eingesetzt. Sein Urgroßvater Abraham Reimer (1796 – 1868) war Diakon in Heubuden und dessen Vater Behrend Reimer (1766 – 1813) Diakon in der Gemeinde Rosenort. Nach Schul- und Berufsausbildung übernahm er 1912 den väterlichen Hof in Heubuden und versuchte, die Einkünfte durch die Zucht von Kaltblutpferden aufzubessern. In demselben Jahr heiratete er Frieda Reimer. Aus dieser Ehe gingen fünf Söhne hervor. Drei Söhne fielen im Zweiten Weltkrieg. Gustav Reimer war im Ersten Weltkrieg aufgrund seiner pazifistischen Einstellung Krankenpfleger.

1919 wurde er zum Diakon der Gemeinde Heubuden gewählt. Die Gemeinde war durch die im Versailler Vertrag festgelegten neuen Grenzziehungen in eine prekäre Lage geraten, weil die Gemeindeglieder jetzt in drei Hoheitsgebieten wohnten: im Deutschen Reich, im Gebiet des Freistaates Danzig und in Polen. Reimers Wirkungsfeld in der Gemeinde lag im sozialen Bereich. Er verwaltete die „Hospitäler“. Das waren gemeindeeigene Häuser mit Kleinwohnungen, in denen verarmte Gemeindeglieder und russlanddeutsche Frauen mit Kindern eine Bleibe fanden. Ein besonderes Anliegen war ihm das Helenenheim, ein Altenheim der Gemeinde in Marienburg, das während seiner Amtszeit eingerichtet wurde. Für die Betreuung der Bewohner dieser sozialen Einrichtungen hat er viel Mühe aufgewendet.

Um die Sozialbedürfnisse der Gemeinde zu befriedigen, wurde von den leistungsfähigen Bauern eine Getreidewertsteuer erhoben, die denen zugutekam, die sich allein nicht mehr zu helfen wussten. Später bemühte er sich auch, den russlanddeutschen Mennoniten zu helfen, die 1943 auf ihrem Weg gen Westen in Westpreußen geblieben waren. Sein besonderes Verdienst aber bestand in der Durchführung des Rechtsstreits, den er im Auftrag der Konferenz der westpreußischen Mennoniten gegen die evangelische Kirche führte, um klären zu lassen, ob deren Steuerforderungen gegenüber mennonitischen Grundbesitzern rechtens seien. Reimer führte den Prozess mit Hilfe von zwei Juristen der Königsberger Universität erfolgreich bis zum Leipziger Reichsgericht (→Westpreußen). Die Rechts- und Verwaltungskenntnisse Reimers kamen auch der →Vereinigung der Deutschen Mennonitengemeinden zugute – in den Anfangsjahren des →Dritten Reiches beispielsweise, als die Frage des religiösen →Eides zur Diskussion stand. Zugute kamen den Mennoniten über Westpreußen hinaus auch die Archiv- und Grundbuchstudien Reimers bzw. seine Ahnenforschungen. So konnte er zahlreichen Mennoniten aus der Sowjetunion helfen, Ahnenpässe zu erhalten.

Im Januar 1945 ging die Familie auf die Flucht und erreichte mit dem schweren Kirchenbuch der Gemeinde Heubuden-Marienburg die britische Zone, wo sie für einige Jahre in Jeetzel bei Lüchow, Kr. Dannenberg, eine Unterkunft fand. Von hier aus kümmerte Reimer sich um die auswanderungswilligen Flüchtlinge aus dem Osten, die in Lagern Dänemarks und in den verschiedenen Besatzungszonen untergekommen waren. So hieß es von ihm, „am Tage sei er Landarbeiter und nachts Auswanderungskommissar gewesen“. 1947 starb seine Frau. Im Jahr darauf wurde er zur →Mennonitischen Weltkonferenz nach Goshen, Indiana, und nach North Newton, Kansas, eingeladen, wo er zur deutschen Delegation gehörte, die ein Schuldbekenntnis wegen des Verhaltens der Mennoniten im Dritten Reich ablegte. Anschließend bereiste er nordamerikanische Mennonitengemeinden und wanderte, ohne erst noch nach Deutschland zurückzukehren, nach Uruguay aus, um dort eine neue Heimat zu finden. Im Januar 1949 traf er im Hafen von Montevideo ein, begab sich zunächst in das Lager Colonia, blieb dort aber nicht lange, sondern suchte nach neuem Siedlungsland. Schließlich siedelte er auf einem Gartengrundstück in Anteilpacht in der Kolonie El Ombu, die vom →Mennonite Central Committee angekauft worden war. Später kaufte er bei Toledo, in der Nähe von Montevideo, unter Mithilfe nordamerikanischer Freunde eine Obstplantage mit Hühnerzucht, die er mit seinem Sohn Gustav E. Reimer bewirtschaftete. In den 1950er Jahren half er mit, die Mennonitengemeinde in Montevideo zu gründen, und veranlasste die Prediger- und Diakonenwahl am 12. April 1953. Unter den gewählten Predigern befand sich auch sein Sohn Gustav E. Reimer. Zum 70. Geburtstag Gustav Reimers, einem knappen Jahr vor seinem plötzlichen Tod, wurde geschrieben: „Die Geschichte der Westpreußischen Mennonitengemeinnden während des letzten Vierteljahrhunderts ist mit dem Namen Gustav Reimer-Heubuden unlöslich verbunden“ (Johannes Driedger).

Veröffentlichungen

Gustav Reimer, Ein aufgefundenes Kirchenbuch, in: Mennonitische Blätter, Nr. 3 und 4, 1939. - Sind die Mennonitengemeinden in Preußen und in der Freien Stadt Danzig Körperschaften des öffentlichen Rechts? In: Mennonitische Blätter 77, 1939,12 f. - Rescued Documents relating to the History and Genealogy of the Mennonites of former West Prussia, in: Mennonite Quarterly Review 1949, 99–104.

Nachlassakten von Gustav Reimer in der Mennonitischen Forschungsstelle auf dem Weierhof, Pfalz, ebenfalls Briefe Reimers im Nachlass von Christian Neff in der Forschungsstelle.

Literatur

Johannes Driedger, Zum 70. Geburtstag von Diakon Gustav Reimer, Heubuden, jetzt in Toledo (Uruguay), in: DER MENNONIT, 9, 1954, 141 f. - Horst Penner, Gustav Reimer (Nachruf), in: Mennonitische Geschichtsblätter 1956, 52 f. (mit Bild).

Hermann Nottarp, Die Mennoniten in den Marienburger Werdern, Schriften der Königsberger Gelehrten Gesellschaft, Halle, S., 1929. - Horst Gerlach, Die Russlandmennoniten, Bd. II, Westpreußen, Russland und zurück, Kirchheimbolanden (Pfalz), 2007, 307–310. - Diether Götz Lichdi, Vergangenheitsbewältigung und Schuldbekenntnisse der Mennoniten nach 1945, in: Mennonitische Geschichtsblätter 2007, 39–54.

Horst Gerlach

 
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