Mystik

1. Begriff und Entwicklung der Mystik

Historische Quellen legen die Vermutung nahe, dass der Terminus „Mystik“ im frühen 17. Jahrhundert entstanden sei. Vor dieser Zeit wurde nur auf besondere mystische Elemente im Christentum hingewiesen, die Bernhard McGinn als die Dimension des christlichen Glaubens und der Praxis beschreibt, die ein Bewusstsein von der unmittelbaren Gegenwart Gottes schafft und die Konsequenzen daraus für das Leben der Menschen zieht (McGinn, Presence of God, II, xi). Die Wurzeln der christlichen Mystik liegen sowohl in der Bibel (z. B. Gal. 2, 19 f.; 3, 28 f.; Sprüche 2, 16) als auch in der klassischen griechischen Philosophie, besonders im Neuplatonismus. Nach McGinn entwickelte sich die christliche Mystik in drei historischen Lagen. Diese Entwicklung begann mit der Formulierung einer expliziten Theorie der Mystik im dritten Jahrhundert und mit der Institutionalisierung ihrer Praxis im Mönchstum während des vierten Jahrhunderts. Vom 13. bis zum 16. Jahrhundert wurden dann „klassische Schulen“ der Mystik geschaffen und das Mystikideal in der gesamten Christenheit verbreitet. Unter neuen Gesichtspunkten setzte sich diese Entwicklung schließlich seit dem 17. Jahrhundert fort (McGinn, Presence of God, II, xii-xvi).

Die Popularisierung der Mystik im 13. und 14. Jahrhundert brachte besonders in den deutschen Ländern eine Flut volkstümlicher mystischer Literatur in bemerkenswerter Quantität und Originalität hervor. In der Forschung werden zwei sich deutlich voneinander abhebende mystische Traditionen in der spätmittelalterlichen westlichen Christenheit unterschieden: zunächst eine lateinische Bußtradition, die gewöhnlich mit Bonaventura und Bernhard von Clairvaux in Verbindung gebracht wird, deren Anhänger aus dem Zisterzienser- und Franziskanerorden rekrutiert wurden und sich darauf konzentrierten, den Willen der Gläubigen mit dem Willen Gottes in Übereinstimmung zu bringen; und dann eine deutsche Tradition – oft als rheinländische, dominikanische und spekulative Tradition angesehen – mit dem Dominikanerorden und den Schriften Meister Eckharts, Heinrich Seuses, Johannes Taulers und der anonymen Theologia Deutsch. Diese Tradition lehnte sich an Thomas von Aquin sowie den dionysischen Neuplatonismus an und konzentrierte sich auf die intellektuelle Vertiefung in das Wesen Gottes. Beide Traditionen mündeten in eine volkstümliche mystische Frömmigkeit während des späteren Mittelalters ein und verschafften sich in der Reformation durch die Predigten Johannes Taulers und durch die Theologia Deutsch noch einmal eine gewisse Geltung.

2. Martin Luthers Einstellung zur Mystik

Als Martin →Luther um die Grundlagen seiner reformatorischen Theologie rang, las er die Predigten Johannes Taulers besonders intensiv und veröffentlichte 1516 zunächst Teile der Theolgia Deutsch und 1518 den gesamten Text. In seiner Einleitung zur ersten Ausgabe behauptete er, von dieser Schrift mehr gelernt zu haben als von jedem anderen Buch außer der Bibel und den Schriften Augustins. In der Forschung wurde lange über das Ausmaß und die Bedeutung der mystischen Elemente in der Theologie Luthers diskutiert. Es ist offensichtlich, dass Erfahrungen, die hier beschrieben wurden, für ihn nützlich waren, als er sich um ein neues Heilsverständnis bemühte und eine eigene Kreuzestheologie entwickelte. Dabei schien ihm Taulers Kreuzesmystik besonders hilfreich gewesen zu sein. Sie betonte die mortifikatorischen Akte der Reinigung von der Sünde, die in der mystischen Erfahrung gewöhnlich der Erleuchtung vorausgingen. Tauler identifizierte diese Reinigung mit der inneren Trübsal, die in Demut und Gelassenheit ertragen werden müsse. Luther missbilligte aber auch einige Grundannahmen der Mystik. Seine Vorstellung von der gefallenen Natur des Menschen schloss jede Annahme eines mystischen Konzepts vom „Abgrund der Seele“ aus, dem Ort, wo sich nach der zentralen Vorstellung der deutschen Mystik seit der Zeit Meister Eckharts Menschliches und Göttliches begegnen. Mit seinem Verständnis von der Erlösung sola gratia lehnte Luther die mitwirkende Rolle des Menschen im mystischen Erlebnis ab. Schließlich verneinte er die Möglichkeit, der Mensch könne sich mit Gott oder sein Wille mit dem Willen Gottes in diesem Leben vereinigen (unio mystica). Insgesamt bestritt er die mittelalterliche Annahme, dass Rechtfertigung und Heiligung im Heilsprozess miteinander verbunden seien. Wie George H. →Williams meinte, war die Mystik „eher ein Baugerüst als eine durchgängige Struktur in der Reformation Luthers“ (Williams, German Mysticism, 278).

3. Mystik in der Radikalen Reformation

In seinem einflussreichen Aufsatz über Luther und die Schwärmer meinte Karl Holl, dass die Mystik eine Rolle im Denken Luthers spielte und andere durch ihn beeinflusste, besonders die sogenannten Schwärmer, obwohl die Mystik nicht zum Kern seiner reformatorischen Botschaft gehörte. Holls Meinung ist ein Glied in einer langen Interpretationskette, die von Alfred Hegler (1892) bis Steven Ozment (1973) reicht und die Mystik als ein wichtiges Fundament des Dissents und des Radikalismus im 16. Jahrhundert bestimmt. Während genaue Einzelforschungen widerlegt haben, dass die Lehren der Mystik erstmals über Luther zu den radikalen Reformatoren gelangt seien und die mutmaßliche Bedeutung dieser Ideen für einige Radikale bestritten wurde, haben sie dennoch die Bedeutung dieser Lehren für andere Gestalten der radikalen Reformation bestätigt.

Holl nahm an, dass Thomas →Müntzer eine bedeutende Rolle in der Vermittlung mystischer Ideen an andere Schwärmer spielte. Sowohl Müntzer als auch Andreas Bodenstein von →Karlstadt könnten Luthers Ausgabe der Theologia Deutsch von 1518 studiert haben, sie waren aber auch in den Predigten Taulers weit belesen, die sie höchstwahrscheinlich ohne die Anleitung Luthers gemeinsam studierten. Wie Luther hatten auch sie die Konzepte und die Begriffe der mystischen Tradition selektiv aufgenommen, aber sie hatten auch Elemente dieser Tradition übernommen, die der Reformation Luthers entgegengesetzt waren. Im Zentrum ihrer theologischen Überlegungen stand das Verständnis der menschlichen Natur, die einen direkten Kontakt zwischen dem Menschlichen und dem Göttlichen im Abgrund oder im Funken der Seele nahe legte. Beide betonten auch die Bedeutung der Geburt des Wortes in der Seele als der Quelle der Gotteserkenntnis und spielten folglich die Bedeutung des äußeren Wortes herunter, eine Tendenz, die ihre Konflikte mit Luther und dessen Einsatz für die Autorität der Schrift vermehrte. Schließlich hoben beide die Bedeutung der „Gelassenheit“ im Heilsprozess hervor und betonten im Gegensatz zu Luthers „simul iustus et peccator“ (sowohl Sünder als auch gerecht) die Heiligung des Glaubenden. In der stark antiklerikalen Atmosphäre der frühen Reformation gebrauchten beide diese mystischen Elemente, um das Ideal eines vom Hl. Geist erleuchteten Laien als Widerpart zum korrupten, geistlosen Priester zu entwerfen, auch hielten sie sich nicht zurück, den antiklerikalen Vorwurf notfalls gegen die neuen Schriftgelehrten in Wittenberg zu erheben. Darüber hinaus stimulierte die Verschmelzung von mystischen Themen mit spätmittelalterlichen Endzeiterwartungen, wie im Falle Thomas Müntzers, eine revolutionäre Neuordnung der Gesellschaft und ihrer Institutionen.

In Typologien der Radikalen Reformation werden Karlstadt und Müntzer oft als Spiritualisten bezeichnet und die mystischen Elemente ihres Denkens in die Tradition des spätmittelalterlichen Spiritualismus eingeordnet. Jahre lang ist ein heftiger Streit über das Verhältnis von Mystik und Spiritualismus auf verschiedenen Feldern ausgetragen worden. Die Reformation legt die Annahme nahe, dass die Mystik eine wichtige Komponente in der breiteren Strömung des christlichen Spiritualismus während des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit ist. Hans Denck, dessen Denken einen gewaltigen Einfluss auf die sich entwickelnden theologischen Entwürfe solcher angesehener Spiritualisten wie Sebastian →Franck, Hans →Bünderlin und Christian Entfelder hatte, nahm mystische Ideen aus den Schriften Müntzers und Karlstadts auf, schöpfte aber auch direkt aus den Texten der Mystiker, besonders der Theologia Deutsch. Von den bedeutenderen Spiritualisten der frühen Reformation verdankte nur Kaspar von Schwenckfeld wenig oder gar nichts der mittelalterlichen Mystik.

4. Mystische Elemente im Täufertum

Forschungen zum Schweizer Täufertum haben gezeigt, dass auch ihre Spiritualität insgesamt von einer mystisch orientierten spätmittelalterlichen Frömmigkeit durchsetzt war (vgl. Snyder, Mysticism and the Shape of Anabaptist Spirituality, 2002). Noch deutlichere Anleihen bei der mittelalterlichen Mystik finden sich in anderen täuferischen Traditionen. Hans →Hut, der Apostel des süddeutschen und österreichischen Täufertums, hatte persönliche Kontakte zu Thomas Müntzer und Hans Denck unterhalten und teilte mit ihnen Grundannahmen des mystischen Heilsverständnisses. Auf dieser Grundlage entwickelte Hut seine eigene Lehre vom „Evangelium aller Kreaturen“ und fügte die „Gelassenheit“ in einen kosmischen Rahmen ein. Er erklärte, dass Pflanzen und Tiere geschaffen seien, damit die Menschen ihrer Bestimmung nachkommen können, über die Welt zu herrschen, und so müssen sich auch die Menschen dem göttlichen Willen fügen. Hut bezeichnete die mystische Erfahrung als die Geburt des Wortes in der Seele des Menschen und beschrieb sie als die wichtigste Quelle göttlicher Offenbarung. Wie Müntzer und Denck stufte er die Heilige Schrift zu einem Zeugnis vom Wirken des Wortes herunter, das nur von denjenigen gedeutet werden könne, die den „bitteren“ Christus im Leiden erfahren hätten.

Melchior →Hofman hinterließ dem niederländischen und norddeutschen Täufertum ein ähnliches mystisches Erbe, wie Hut es dem süddeutschen und österreichischen Täufertum vermacht hatte. Hoffmans Schriften strotzen vor mystischer Begrifflichkeit. Seine Akzentuierung der „Gelassenheit“ weist auf einen starken Einfluss der Deutschen Mystik hin, und seine Vorliebe für die Metaphorik der Brautmystik legt die Vermutung nahe, dass er auch die Lateinische Mystiktradition kannte. Seine Auslegung der Heiligen Schrift, die auf die Notwendigkeit setzte, in aller Geduld auf das Wort zu hören, nahm danach eine zentrale Stellung bei David →Joris ein; und die „Gelassenheit“ wurde für die Konzeption des Heilsprozesses sowohl bei Joris als auch bei Bernhard →Rothmann wichtig. Ebenso wurde sie zum Prinzip, das die Einführung der Polygamie in Münster leitete und offensichtlich die bizarre Sexualethik der Davidjoristen prägte.

Mystische Einstellungen, die sich bei Hut, Hoffman und ihren direkten Nachfolgern fanden, wurden schließlich in den täuferischen Bewegungen, die überleben konnten, zur Routine oder verwässert. Hut hatte die „Gelassenheit“ zum Beispiel besonders als Abkehr von der Anhänglichkeit an materielle Güter gedeutet. Unter den Hutterern wurde sie auf programmatische Weise mit der Gütergemeinschaft verbunden (→Hutterische Bruderhöfe). Ähnlich veränderte sich die Vorstellung vom reinigenden Heilsprozess im Inneren des Menschen. Dieser Prozess wurde im Laufe der Zeit nach außen gekehrt und in eine Theologie des Martyriums bei den Hutterern und anderen täuferischen Gruppen überführt.

Bibliografie (Auswahl)

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Geoffrey Dipple

 
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