Kabbalah

1. Ursprünge der Kabbalah

Kabbalah ist eine Strömung der jüdischen Mystik, die wohl im 12. Jahrhundert in Südfrankreich und Nordspanien entstand, sich jedoch selbst auf den talmudischen Gelehrten Simon ben Yohai des 2. Jahrhunderts n. Chr. zurückführte und dadurch für die jüdische Religionsphilosophie und Theologie bis weit ins 19. Jahrhundert prägende Bedeutung erlangte. Als vorgeblich auf Adam bzw. Mose zurückgehende „prisca sapientia“ erfreute sich die Kabbalah zwischen 1480 und 1650 auch unter christlichen Theologen und Theosophen einer gewissen Beliebtheit – nicht zuletzt, da man glaubte, mit ihrer Hilfe die Juden von der Richtigkeit der christlichen Lehren überzeugen und so das Kommen der Erlösung beschleunigen zu können.

Die jüdische Kabbalah ist grundlegend als Versuch anzusehen, durch bestimmte hermeneutische und schriftoperationelle Verfahren (z. B. Gematria) in die Tiefen der Gottheit einzudringen, um so über den Literalsinn der Schrift hinausgehende Erkenntnisse zu gewinnen. Grundlegend ist dabei die Überzeugung, dass die zehn in der Torah begegnenden Eigennamen Gottes (Jahwe, El, Schaddai usw.) zusammenhängende, sich ergänzende Aspekte (Sefirot) der Gottheit darstellen, deren höchster den Deus absconditus repräsentiert und deren tiefster bis ins irdische Leben hinabreicht. Die Torah ist nicht nur Zeugnis des historischen Handelns Gottes an und in der Welt, sondern vor allem Zeugnis des Verhältnisses der unterschiedlichen Sefirot zueinander, ermöglicht also einen Blick in das Innenleben Gottes. Durch mystische Erschließung der Torah kann der Mystiker bis in die Tiefen der Gottheit selbst hinaufsteigen. Schon früh wurden diese Sefirotlehren auch messianisch interpretiert (Abraham Abulafia).

2. Rezeption der Kabbalah im Humanismus

Der italienische Humanist Giovanni Pico della Mirandola (1463–1494) rezipierte ausgewählte Traditionen der jüdischen Mystik in seinen 900 Thesen (1486), in denen er die Kabbalah als die heidnisch-hermetischen Traditionen bestätigende prisca sapientia interpretierte, die es ermögliche, die Wahrheit der christlichen Lehre philosophisch zu bestätigen. Weitere Rezeption erfuhr die Vorstellung einer christlichen Kabbalah durch die Werke De verbo mirifico (1494) und De arte cabalistica (1517) seines Schülers Johannes Reuchlin (1455–1522). Reuchlin verstand – Ideen Picos aufnehmend – die Kabbalah als mündlich tradierte, Adam von Gott gegebene Heilsprophezeiung, wonach verzeihende Barmherzigkeit als eigentliches Wesen Gottes erst durch das Auftreten Jesu offenbar werde. Dessen Name JHSVH sei als Erweiterung des Tetragramms JHVH durch den Buchstaben S (hebr. Schin; sein gematrischer Zahlenwert entspricht dem des hebräischen Ausdrucks „b-rachamim“, d. h. „in Barmherzigkeit“) zu verstehen, wodurch der göttliche Name selbst aussprechbar, meditierbar und darin heilswirksam werde. Jesus changiert bei Reuchlin zwischen einer historischen Person, die das geheime Wissen tradiert, und der Verkörperung jener höchsten, göttlichen, heilswirkenden Vernunft, die es durch Mediation erst zu erreichen gilt.

3. Kabbalah in der Reformation, besonders im Täufertum

Die christliche Kabbalah blieb primär ein renaissancehumanistisches, altgläubiges Phänomen in Italien und Frankreich; jedoch wurden gerade Picos und Reuchlins Schriften zur messianischen Kabbalah auch in den Reihen der Reformatoren rezipiert (u. a. Ulrich Zwingli, Martin Luther und Johannes Brenz); bei Andreas →Karlstadt und Andreas Osiander (evtuell bei Michael Stifel) spielen sie eine nicht unerhebliche Rolle, Gelehrte wie Agrippa von Nettesheim und Paracelsus rezipierten Reuchlin breit und ausführlich.

Insofern verwundert es nicht, dass sich Rezeptionsspuren der christlichen Kabbalah auch in der radikalen Reformation und im Täufertum finden, selbst wenn das Phänomen bislang noch kaum erforscht ist. Für Hans →Denck sind kabbalistische Einflüsse lange vermutet, aber nicht bestätigt worden. Für David →Joris ist der Einfluss kabbalistischer Ideen wahrscheinlich, aber nicht erforscht (Gary K. Waite); die mährischen Sabbatarier scheinen von Andreas Karlstadt kabbalistische Theorien zum Sabbat übernommen zu haben (Anselm Schubert, Sabbat und Sabbatarismus in der Frühen Neuzeit, 2014). Am besten greifbar wird kabbalistischer Einfluss bei Augustin →Bader, der sich unter dem Einfluss durch Oswald Leber vermittelter Lehren Reuchlins und Abraham ben Eliezer ha-Levis als geistlicher Messiasprätendent verstand, dem es gegeben sei, den Menschen die höchste Erkenntnis Gottes zu vermitteln, die in der Offenbarung seiner auf „güte und barmherzigkeit“ beruhenden Herrschaft („verenderung“) bestehe.

Insgesamt haben wir es bei dieser frühen täuferischen Rezeption der Kabbalah wohl am ehesten mit dem Versuch zu tun, angesichts einer Vielfalt widersprüchlicher Schriftauslegungen durch Rückgang auf als autoritativ empfundenes gelehrtes Wissen religiöse Eindeutigkeit und intellektuelle Akzeptanz zu gewinnen.

Bibliografie (Auswahl)

Josef Dan, Kabbala. Eine kleine Einführung, Stuttgart 2007. - Jerome Friedman, The most ancient Testimony. Sixteenth-Century Christian-Hebraica in the Age of Renaissance Nostalgia, Athens, Ohio, 1983. - Karl E. Grözinger, Reuchlin und die Kabbala, in: Arno Herzig und Julius H. Schoeps (Hg.), Reuchlin und die Juden, Sigmaringen 1993, 175–188. - Johann Maier, Die Kabbalah. Einführung – Klassische Texte – Erläuterungen, München 1995. - Siegfried Raeder, Grammatica Theologica. Studien zur Luthers Operationes in Psalmos, Tübingen 1977. - Wilhelm Schmidt-Biggemann (Hg.), Christliche Kabbala, Pforzheim 2003. - Gershom Scholem, Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen (1. Auflage 1957), Frankfurt/M. 1980. - Anselm Schubert, Täufertum und Kabbalah. Augustin Bader und die Grenzen der Radikalen Reformation, Gütersloh 2008. - Ders., „Heiligung des Namens“. Zu den jüdischen Anfängen täuferischer Martyriumstheologie, in: Mennonitische Geschichtsblätter 2010, 9–24. - Ders., Der Sabbat in der frühen christlichen Kabbalah, in: ders.: Sabbat und Sabbatarismus in der Frühen Neuzeit, Gütersloh 2014. - François Secret, Les Kabbalistes Chrétiens de la Renaissance, Paris 1964. - Gershom Scholem, Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen (1. Auflage 1957), Frankfurt/M. 1980. - Gary K. Waite, An Artisans Worldview? David Joris, Magic and the Cosmos, in: C. Arnold Snyder (Hg.), Commoners and Community. Essays in Honour of Werner O. Packull, Kitchener, Ont., 2002, 167–194. - Chaim Wirszubski, Pico della Mirandola's Encounter with Jewish Mysticism, Cambridge, Mass., und London 1989.

Anselm Schubert

 
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