Familie

1. Familie allgemein

Das Konzept „Familie“ im Mennonitentum unterscheidet sich nicht zu sehr vom Verständnis anderer evangelischer Kirchen und Gemeinden. Familie besteht traditionell aus Vater, Mutter und Kind(ern). Nach dem Zweiten Weltkrieg lebt die Familie als Kernfamilie zusammen, ist aber oft in die Großfamilie eingebunden. Scheidungen sind sehr selten erlaubt, Wiederverheiratungen eher geächtet. Eheschließungen mit nicht- oder anders Glaubenden werden schwerlich, wenn überhaupt toleriert, und die Kirche oder Gemeinde bestimmt zum größten Teil das soziale, manchmal auch das wirtschaftliche Leben der Familie (Al Dueck and Dolores Friesen, The Changing Family, 1990). Außer vielleicht in ländlichen Gegenden und auf größeren Hofgütern leben Großfamilien nur noch selten im selben Haus. Trotzdem sind diese Familienclans doch zum größten Teil die tragende Stütze in den meisten Mennonitengemeinden (Alan Peters, The Impact of the Family, 1972). Auf diese Weise fügt sich Familie der kirchlichen bzw. gemeindlichen Struktur ein, und auch städtische Mennonitenkirchen sind zum großen Teil bis heute noch immer Familienkirchen.

In der 500-jährigen Mennonitengeschichte scheint das traditionelle Verständnis von Familie die tragende Stütze der Gemeinden gewesen zu sein. Trotz oder vielleicht wegen Vertreibungen, Flucht und Neuansiedlungen waren Familien immer besonderem Druck ausgesetzt. Überleben des Einzelnen war nur gesichert, wenn die Person den Rückhalt und die Unterstützung der Familie oder des Klans hatte (Jakob Warkentin, Die deutschsprachigen Siedlerschulen, 194). Dies war ganz besonders wichtig in Zeiten der Flucht und Wiedervereinigung, wie die Biographie von Elizabeth Thiessen zeigt (Charlotte Hege-Hofmann, Alles kann ein Herz ertragen, 1990).

Nationale Unterschiede im mennonitisch-täuferischen Verständnis von Familie müssen hier natürlich in aller Kürze aufgeführt werden. Diese Unterschiede sind ein integraler Teil der voluminösen Geschichtsforschung der Mennoniten (Alan Peters, 19972, Al Dueck, 1990). Im nordamerikanischen Kontext wurde nach Familien in unterschiedlichen Richtungen geforscht. Am deutlichsten überwiegen historische Daten der Migrationsgeschichte, die auch über die Entwicklung von Familie Aufschluss geben. Hier ist wohl Cornelius Krahn und die Mennontie Historical Series als eines der grundlegenden Werke zu nennen (Cornelius Krahn, Art. Mennonite Historical Series, 1957). Weiterhin finden sich Daten zur Familie oft im Zusammenhang mit Denominationen, die sich von der täuferisch-mennonitischen Bewegung getrennt haben. C. Henry Smith war einer der ersten Historiker, der diese Migrationsgeschichte untersucht hat (C. Henry Smith, Story of the Mennonites, 1950). →Amische Familienstrukturen unterscheiden sich grundsätzlich von General-Conference-Mennonite-Familien in der Einbindung in das soziale und politische Leben. Amische Familien sind noch immer meist im ländlichen Raum zu finden und haben im Durchschnitt viel mehr Kinder als ihre Verwandten, die General-Conference-Mennoniten, die sehr viel schneller urbanisiert waren (John A. Hostettler, Amish Society, 1980). Dueck und Friesen zeigten schon zu Beginn der 1990er Jahre den zunehmenden Einfluss der Gesellschaft auf die Struktur der Familie. Dies ist in einem weiteren Aspekt der wissenschaftlichen Arbeit, nämlich in der Sozial- und Medizinethik besonders deutlich zu sehen. Doch auch hier steht die Familie nicht im Blickpunkt, sondern ein Teilaspekt einer anderen wissenschaftlichen Disziplin (A. Frances Wenger, Acceptability, 1980; Duane K. Friesen, Moral Issues, 1974).

Eine der neueren Richtungen intensiver Familienforschung könnte die langsam wachsende mennonitische Literatur und Kunst werden. Biographische Erzählungen von Emigration und Integration in neue Kulturen nahmen in den letzten fünfzehn bis zwanzig Jahren stetig zu, ganz besonders im nordamerkanischen Kontext. Autoren wie Rudy Wiebe, Mirjam Toews, Julia Kasdorf Spicher, Jean Janzen und Katie Funk Wiebe, um nur einige wenige zu nennen, beschreiben Familie von einer anderen, persönlichen Seite. Ein weiterer Aspekt, aber durch das Thema Familie vernetzt, ist die literarische Nische der →Kochbücher. Aus Sicht der Mennonite Brethren oder der jetzigen Mennonite Church USA beschreiben Frauen ihre Familie, indem sie von Lieblingsspeisen und Überlieferungen, Traditionen und Werten erzählen, die durch Flucht und Wiederansiedlung die Familie zusammengehalten haben.

2. Mennonitische Familienforschung

Die Erforschung der Familie als wissenschaftliche Disziplin existiert in den mennonitischen Gemeinden nicht. Das bedeutet aber nicht, dass gar nicht über Familie geforscht wurde. Die häufigsten historischen Daten finden sich in zwei Forschungsfeldern als Nebenprodukt anderer Forschungsbereiche. Mennonitengeschichte ist der eine Forschungszweig, in dem die Familie als Nebenschauplatz erscheint. Forschungsstelle mit mennonitischem Geschichtsschwerpunkt ist in Deutschland der Weierhof, während solche Forschungsstellen in den USA, Kanada, Latein- und Südamerika zumeist den Mennonitischen Colleges und Universitäten angegliedert sind (Harold S. Bender und Nelson P. Springer, Art. Historical Libraries, 1989: GAMEO/Historical Studies). Der andere Forschungszweig, in dem Familie als Thema noch öfter erscheint, ist die genealogische Forschung oder Namensforschung. Hier liegt das Interesse an Familie primär in der Erforschung von Familiennamen, aber auch der geographischen Ausbreitung von Namen. In seinem Artikel The Impact of the Family in Mennonite History, beschreibt Alan Peters schon 1972 die dringende Notwendigkeit, Familie als Forschungsgebiet von Genealogie und Geschichtsforschung abzukoppeln (Alan Peters, The Impact of the Family, 74–81).

Als eigenständiges Forschungsgebiet wurde Familie erst in den späten 1960er bis Mitte der 1970er Jahren entdeckt. Mennonitische Soziologen Leo Driedger und Calvin Redekop waren neben einigen Anthropologen und Psychologen die Hauptakteure in Forschungsfeld Familie. Die ausführlichsten und verständlichsten Forschungen über Familie kommen seit den späten 1990er Jahren aber aus der Soziologie und Demographiegeschichte (M. J. Heisey, Mennonite Religion, 2005).

Familie als eigenständiges Forschungsfeld der Soziologie oder Anthropologie kann also als Stiefkind der Mennonitengeschichte verstanden werden. Bis Mitte des 20. Jarhunderts waren mennonitische Forschungen fast auschließlich auf Kirchengeschichte, Theologie oder Diakonie konzentriert. Erst im späten 20. Jahrhundert etablierte sich Familie als erstes ernsthaftes Forschungsziel, vorangetrieben von den mennonitischen Soziologen Leo Driedger, J. Howard Kauffman und Calvin Redekop (Leo Driedger, Mennonites in Global Village, 2000). Die Familie als soziologisches Forschungsfeld ist noch ein durchaus unerforschtes Gebiet (John D. Roth, Editorial, Mennonite Quarterly Review, April 2011). Roth beschreibt drei wichtige historische Strömungen des vergangenen Jahrhunderts, deren Auswirkungen erst jetzt im vollem Umfang Wurzeln schlagen und sich auf die Familie im Mennonitentum auswirken werden: 1. Die sexuelle Revolution der 1960er Jahre, 2. die Urbanisierung vieler Gemeinden und Familien und 3. die soziale und finanzielle Mobilität vieler junger Mennoniten. An diesem Schnittpunkt finden sich auch die unterschiedlichen Familienverständnisse in der Geschichte der Mennoniten. Mennonitische Familien sind ebenso den Kräften einer schnell wachsenden Globalisierung ausgesetzt, wie ihre Vorfahren den sozialen, politischen, und kriegerischen Bewegungen vom 18. bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts unterworfen waren.

3. Neuere Familienformen

Das Forschungsgebiet Familie ist weit offen und unbearbeitet, wenn von Forschungen in mennonitischer Geschichte, Theologie oder Missiologie einmal abgesehen wird. Weltweit kommen Mennoniten und ihre Familien oft nur dann in die Tagesthemen, wenn sensationelle Meldungen zu verzeichnen sind. Zu erwähnen sind als Beispiel mennonitische Kabinettsmitglieder in der vorigen Regierung in Paraguay, die es als ihre soziale, bürgerliche, und christliche Pflicht ansahen, sich für eine gerechtere Zukunft Paraguays zu engagieren (Alfred Neufeld, Church and School, 2011). Ein anderes Beispiel ist die Schießerei in der kleinen Gemeinde Nickel Mines in Pennsylvanien im Oktober 2006, wo über zehn Schulkinder von einem psychisch kranken Menschen in ihrem Schulgebäude erschossen wurden (Donald Kraybill, Steven Nolt und David L. Weaver-Zercher, Amish Grace, 2007), oder auch das Bespiel der verunglückten Karriere des Tour de France Sportlers Floyd Landis aus Pennsylvanien (2007), der erst sensationell gewann, dann aber des Dopings überführt wurde. Nach solchen und ähnlichen Sensationsberichten werden Recherchen über mennonitische Familien angestellt, die dann aber an der Oberfläche der Berichterstattung bleiben. Rühmliche Ausnahme ist die Erscheinung des Buches Amish Grace von Steven Nolt, der sich mit Donald Kraybill und David Weaver Zercher eingehend mit dem Thema Familie beschäftigt. Er geht neben Geschichte, Theologie und Gemeindestruktur auch umfassend auf die Familie als trauernde Einheit ein, die durch die den gewaltsamen Tod von Familienmitgliedern zu neuen Strukturen finden muss. Systemische Studien der mennonitischen Familienstruktur sind da zum Beispiel eine Richtung in zukünftigen Forschungen.

Ein anderes und gleich wichtiges Forschungsgebiet zum Thema Familie ist das Verständnis von Sexualität, gleichgeschlechtlichen Paaren (mit und ohne Kinder), von sogenannten „blended families“, die sich nach Tod oder Scheidung zusammen finden, und von alleinstehenden Menschen als Familienmodell oder Wohngemeinschaften und Alten-Wohngemeinschaften gelebt werden. Daraus folgt: Mennoniten neigen noch immer stark dazu, Familie als das traditionelle Bild von Vater, Mutter und Kind(er) zu sehen, und schneiden sich damit von anderen wertvollen und kreativen Lebensformen ab. Im Rahmen einer Forschung, die sich nur mit Familie beschäftigt, wäre dann herauszuarbeiten, wie sich das Familienverständnis auf dem Land oder in der Stadt voneinander unterscheiden.

Der letzte und vielleicht vordringlichste Aspekt zum Thema Familie ist sicherlich der Einfluss der globalen und mobilen Gesellschaft auf die Familie im 21. Jahrhundert. Hier ist auch zu erforschen, welche Unterschiede es zwischen Familien gibt, die auf dem Land wohnen oder in Großstädten, welcher Einfluss das Einkommen auf die Zusammenstellung von Familien hat und welche sonstigen Faktoren das Familienverständnis in diesem Jahrhundert verändern. Das traditionelle Verständnis der Familie wird sicherlich von sozialen, kulturellen, und global-ökonomischen Veränderungen stärker beeinflusst als wir dies heute wahrnehmen.

Bibliografie (Auswahl)

Harold S. Bender und Nelson P. Springer, Art. Historical Libraries (1989), in: Global Anabaptist Mennonite Encyclopedia Online ( http://www.gameo.org/encyclopedia/contents/H592ME.html (2012). - Leo Driedger, Changing Mennonite Family Roles from Rural Boundaries to Urban Networks, in: International Journal of Sociology of the Family, Bd. 13, 2, 1983, 63–81. - Leo Driedger und Calvin W. Redekop, Sociology of Mennonites, in: Journal of Mennonite Studies 1, 1983, 33–63. - Leo Driedger, Mennonites in the Global Village. Toronto 2000. - Al Dueck und Delores Friesen, The Changing Family in Today's World, in: Direction, 1990. - Duane K. Friesen, Moral Issues in the Control of Birth. Newton, KS, 1974. - Mika Friesen, Art. Familie, in: Lexikon der Mennoniten in Paraguay, Asunción 2009, 141. - M. J. Heisey, Mennonite Religion was a Family Religion: A Historiography, in: Journal of Mennonite Studies, 2005, 10–12. - Charlotte Hofmann-Hege, Alles kann ein Herz ertragen. Die Weite Lebensreise der Elisabeth Thiessen, Heilbronn, 1990. - John A. Hostetler, Amish Society, Baltimore, MD, 1980. - Cornelius Krahn, Art. Mennonite Historical Series (Newton, Kansas, USA, 1957), in: Global Anabaptist Mennonite Encyclopedia Online (http://www.gameo.org/encyclopedia/contents/M466846.html (2012). - Donald Kraybill, Steven Nolt und David L. Weaver-Zercher, Amish Grace: How Forgiveness Transcended Tragedy, San Francisco, CA, 2007. - John R. Mumaw, Marriage, Marital Relations and the Home, Scottdale, PA, 1940. - Alfred Neufeld, Church and School:  Compañeros in Growing People of Faith in the Anabaptist-Mennonite Brethren (MB) Tradition, in: Higher Education Commission Report, Juni 2011, 7 f. - Alan Peters, The Impact of the Family in Mennonite History: Some Preliminary Observations, in: Direction, Bd 1, 3, 1972, 74–81. - C. Henry Smith, The Story of  the Mennonites. Newton, KS, 1950. - Some shocked by Landis' Guilt, in: http://www.mennoworld.org/2010/6/7/some-shocked-landis-confession/. - Jakob Warkentin, Die deutschsprachigen Siedlerschulen in Paraguay im Spannungsfeld staatlicher Kultur- und Entwicklungspolitik, Münster, New York, München, Berlin 2009. - A. Frances Wenger, Acceptability of Perinatal Services Among the Amish. Presented at Nurses' Symposium on Future Direction in Perinatal Care, Baltimore, MD, 1980.

Sylvia Klauser

 
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