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Priestertum, allgemeines

Das „Allgemeine Priestertum aller Gläubigen“ gehört zum festen Lehrbestand reformatorischer Bewegungen im 16. Jahrhundert. Martin →Luther hat die biblische Losung vom Allgemeinen Priestertum wieder zur Geltung gebracht, und die →Täufer haben sie mit seltener Konsequenz in die Praxis umgesetzt. Seither ist diese Losung zu einem starken Argument gegen die hierarchische Struktur der Kirche und für die wachsende Bedeutung der Laien in den Kirchen geworden – bis hin zur Demokratisierung des kirchlichen Lebens oder der Ausschaltung aller kirchlichen Leitungsämter (→Amt). Der Inhalt dieses Begriffs hat im Laufe der Zeit unterschiedliche Bedeutungen angenommen, doch wo Laien die Verantwortung für ihre Kirche übernehmen, geschieht das immer noch im Namen des Priestertums aller Gläubigen.

1. Der biblische Befund und Entwicklungen in der frühen und mittelalterlichen Kirche

Im Neuen Testament wird der Begriff des „Priesters“ nicht verwendet, um ein bestimmtes Amt in der Gemeinde Christi zu bezeichnen. Dieser Begriff wird auf Jesus Christus beschränkt, um anzudeuten, dass er mit seinem Opfer am Kreuz für die Sünden der Menschen der einzige Mittler zwischen Gott und Mensch ist (s. vor allem die christologischen Aussagen des Hebräerbriefs. Dieser Begriff wird aber auch auf die Gläubigen ausgeweitet, die ihm als „Könige und Priester“ nachfolgen (1. Petr. 2, 4–6; Offb. 5, 8–14). In Jesus Christus und seiner Gemeinde haben sich die alttestamentlichen Verheißungen erfüllt, dass das Volk Israel zur Priesterschaft eingesetzt sei (Ex. 19, 6) und dass die Völker der Welt die Priesterschaft anerkennen werden (Jes. 61, 6). Unter den Gliedern des Leibes Christi herrscht kein Unterschied, sie nehmen zwar verschiedene Funktionen wahr, aber „wir sind durch den Geist alle zu einem Leib getauft“ (Eph. 4, 4).

Diese Auffassung hat sich in der alten Kirche erhalten, so dass Justin sagen kann, dass alle Christen dem priesterlichen Volk angehören, oder Tertullian alle Christen den Aposteln gleichstellt. Allmählich wird die Priesterschaft aber auf Amtsträger eingeschränkt, so dass sich im Mittelalter eine deutliche Trennung von Priestern und Laien entwickeln konnte und die Kirche im 12. Jahrhundert schließlich nicht mehr über das Volk Gottes, sondern über die Hierarchie des Klerus definiert wurde (Codex Iuris Canonici (C 12, q. 1, c.7). Gegen Ende des Mittelalters ist diese Trennung von Geistlichen und Laien zu einem Problem geworden und hat sich in ersten antiklerikalen Auseinandersetzungen entladen.

2. Martin Luthers Losung vom Priestertum aller Gläubigen

Bereits im 15. Jahrhundert geriet der Klerus ins Visier der Kritik, denn er hatte sich allzu weit von dem Ideal eines „homo spiritualis“ entfernt (vorreformatorischer (→Antiklerikalismus). So heftig die Kritik war, so wenig wäre es den Laien eingefallen, den Weihestand des Priesters in der Kirche abzuschaffen. Er blieb für sie der Vermittler des Heils in der Eucharistie (→Abendmahl). Um jedoch wirklich für das Heil der Laien sorgen zu können, sollte er einer grundlegenden Reform unterzogen werden. Erst mit der reformatorischen Erkenntnis von der Rechtfertigung allein aus Gnade und der sich daraus ergebenden Unmittelbarkeit des Gläubigen zu Gott, wurde der Priester überflüssig, und es wurde gefordert, seinen durch das Sakrament der Weihe begründeten Stand abzuschaffen (reformatorischer Antiklerikalismus). In seiner wichtigen Reformschrift An den christlichen Adel (1520) schrieb Luther. „Was aus der Taufe gekrochen, das mag sich rühmen, daß es schon Priester, Bischof und Papst geweiht sei“ (WA 6, 407). Mit der Taufe ist der Unterschied zwischen Priestern und Laien aufgelöst, und im Glauben erhalten alle Christen Anteil an der priesterlichen Funktion Jesu Christi. Sie sind auf keine priesterliche Vermittlung angewiesen. Abgeschafft werden sollte der „Stand“ des Geistlichen an der Spitze der hierarchisch konzipierten Ständepyramide des Corpus Christianum, beibehalten aber das →Amt der Wortverkündigung in der Gemeinde. Mit der Losung vom allgemeinen Priestertum wurde allerdings sichergestellt, dass die Gemeinde der Gläubigen, das Recht habe, alle Lehre zu urteilen, ihre Prediger ein- und abzusetzen. Trotz dieser Vorordnung der Gemeinde vor das Amt, machte Luther das Amt der Wortverkündigung nicht von den Laien abhängig, sondern meinte, das Amt sei der Gemeinde eingestiftet.

3. Die Täufer im reformatorischen Aufbruch

Die frühen Täufer beteiligten sich an der Kritik am Klerus, auch an zahlreichen Aktionen gegen Priester, Mönche und Nonnen, und nahmen die Losung vom Allgemeinen Priestertum auf. In diesem antiklerikalen Auseinandersetzungsmilieu fanden sie ihre besondere Sprache und radikalisierten das Konzept des allgemeinen Priestertums auf ihre Weise. Sie lehnten die im lutherischen Amtsverständnis mitgedachte Vorstellung eines Gegenübers bzw. einer Unabhängigkeit von Gemeinde und Amt ab und sahen in denjenigen, die eine besondere Funktion in der Gemeinde wahrzunehmen hatten, nicht Amtsträger, sondern Diener der Gemeinde, und verliehen dadurch nicht nur dem Gottesdienst allgemein, sondern auch dem verkündigenden Umgang mit dem Wort Gottes einen laikalen Charakter. Alle Christen sind, je nach ihren besonderen Gaben, am gottesdienstlichen Leben beteiligt: „wenn ir zusamen kumpt, so hat ein yetlicher ein psalm, er hat ein leer, er hat ein zungen, er hat ein offenbarung, er hat ein ußlegung, lassend es alles geschehen zur besserung“ (Heinold Fast (Hg.), Quellen zur Geschichte der Täufer in der Schweiz, Bd. 2, 1973, 142 f., zit. aus einer Verantwortung von ca. 1546 aus dem Gebiet von Schaffhausen).

Direkt haben sich die Täufer nicht zur Lehre vom Priestertum aller Gläubigen geäußert, wohl aber waren sie davon überzeugt, dass die Gläubigen zu Königen und Priestern berufen sind, um als ein heiliges, auserwähltes, als ein „priesterliches“ Volk Gott in dieser Welt zu dienen. Sie sollen für ihre Mitmenschen beten, sich gegenseitig im Glauben stärken und zur Liebe ermutigen, einander ermahnen und trösten. Menno Simons wies in seiner Schrift über den Glauben (1541) auf das Konzept vom Priestertum aller Gläubigen hin und sah in der Gemeinde eine „königliche Priesterschaft“, in der die Gläubigen ihr Leben Gott bereitwillig als Opfer darbringen (Rö. 12, 1 f.). Dazu gehört, sich der Autorität des göttlichen Wortes zu unterstellen, ebenso die Bereitschaft, um des Evangeliums willen zu leiden. Sie sind nicht Priester, die Brot und Wein als den Leib und das Blut Christi für die Sünden der Menschen opfern oder die Messe singen; sie sind vielmehr bereit, sich jeden Tag von Sünden zu reinigen und Gott für die Gnade zu danken, die ihnen widerfahren ist. Als Könige herrschen die Christen jetzt schon, aber mit dem Schwert des göttlichen Wortes und nicht mit weltlichen Waffen. Gottes Wort ist mächtiger als aller Reichtum, alle Heere, Verfolgung, Tod oder Teufel (Hinweis von Marlin Miller, Art. Priesthood of All Believers, 721).

4. Nachhaltigkeit des „Laienelements“ in der mennonitischen Tradition

Marlin Miller weist darauf hin, dass weder Menno Simons noch andere Täufer oder Mennoniten die Frage nach dem Amt in der Gemeinde und der Ordination von Predigern und Ältesten mit der Lehre vom Priestertum aller Gläubigen begründeten (ebd., 722). Fortan hat sich in der mennonitischen Tradition die Praxis durchgesetzt, den Gottesdienst und das Gemeindeleben von Spannungen zwischen Geistlichen und Laien freizuhalten. Auch wenn die meisten Gemeinden dazu übergingen, neben Laienpredigern auch akademisch ausgebildeten Pastoren die Leitung der Gemeinden anzuvertrauen, blieb das Erscheinungsbild einer vom Priestertum aller Gläubigen geprägten Gemeinschaft erhalten, auch wenn dazu die Fülle biblischer Texte und nicht nur im engeren Sinne das Konzept vom Priestertum aller Gläubigen zur Begründung herangezogen wurden. Dennoch ist dieses Konzept unter mennonitischen Theologen des 20. Jahrhunderts oft angesprochen und teilweise auch unterschiedlich interpretiert worden. Bezeichnenderweise hat John Howard Yoder zwei seiner wichtigen Aufsatzsammlungen unter das Motto dieses Konzepts gestellt, The Priestly Kingdom (1984) und The Royal Priesthood (1998), und im Gespräch der Gläubigen über den Sinn der göttlichen Offenbarung das besondere Merkmal der christlichen Gemeinde auf dem Weg in das Reich Gottes gesehen.

5. Allgemeines Priestertum in der ökumenischen Diskussion

Seit der ersten Weltkonferenz für Glauben und Kirchenverfassung 1927 in Lausanne erhielt das Thema des „Volkes Gottes“ neben den Fragen nach Amt und Sakrament der Kirche in den theologischen Gesprächen der →ökumenischen Bewegung wieder ein stärkeres Gewicht. Nach der Gründung des Ökumenischen Rates der Kirchen (ÖRK) 1948 wurden diese Beratungen in der Kommission für Glauben und Kirchenverfassung (Faith and Order) fortgeführt. Die Konvergenzerklärungen von Lima (1982) sind eine vorläufige theologische Abschlusserklärung über „Taufe, Eucharistie und Amt“. Wie in allen ökumenischen Texten wird die Kirche auch hier als das Volk Gottes verstanden. Die Kirche ist Leib Christi, und jedes Glied lebt in der Gemeinschaft mit Gott und in der befreienden Kraft des Heiligen Geistes. Jedes Glied ist berufen und befähigt, seinen Glauben zu bekennen, dem Reich Gottes zum Durchbruch zu verhelfen und von der lebendigen, ihm innewohnenden Hoffnung Rechenschaft abzulegen. „Der Heilige Geist verleiht der Gemeinde verschiedene und einander ergänzende Gaben. Sie werden für das gemeinsame Wohl des ganzen Volkes gegeben und äußern sich in Werken des Dienstes innerhalb der Gemeinschaft und an der Welt“ (Taufe, Eucharistie und Amt, Art. 5). So gilt es, das Amt immer vom Wesen der Kirche als der Gemeinschaft der Gläubigen zu verstehen. Kein „Amt“ der Kirche darf von der gesamtchristlichen Gemeinschaft isoliert verstanden werden. In den Stellungnahmen der Vereinigung der Deutschen Mennonitengemeinden und der Algemene Doopsgezinde Societeit (Niederlande) zur den Lima-Erklärungen wird allerdings darauf hingewiesen, dass die Vorstellung vom „Volk Gottes“ immer noch nicht stark genug berücksichtigt worden ist.

Das Zweite Vatikanische Konzil hat in der Dogmatischen Konstitution über die Kirche (Lumen Gentium 1964) dem Priestertum aller Gläubigen in der römisch-katholischen Kirche wieder eine bedeutende Stellung eingeräumt. „Durch die Wiedergeburt und die Salbung mit dem Heiligen Geist werden die Getauften zu einem geistigen Bau und einem heiligen Priestertum geweiht, damit sie in allen Werken eines christlichen Menschen geistige Opfer darbringen und die Machttaten dessen verkünden, der sie aus der Finsternis in sein wunderbares Licht berufen hat (vgl. 1. Petr. 2, 4–10). So sollen alle Jünger Christi ausharren im Gebet und gemeinsam Gott loben (vgl. Apg. 2, 42–47) und sich als lebendige, heilige, Gott wohlgefällige Opfergabe darbringen (vgl. Rö. 12, 1); überall auf Erden sollen sie für Christus Zeugnis geben und allen, die es fordern, Rechenschaft ablegen von der Hoffnung auf das ewige Leben, die in ihnen ist (vgl. 1. Petr. 3, 15).“ (Karl Rahner und Herbert Vorgrimmler (Hg.), Kleines Konzilskompendium, 134). Mit dieser Erklärung hat sich auch die Römisch-katholische Kirche der ökumenischen Bewegung geöffnet und die Möglichkeit geschaffen, sich aktiv an Beratungen zwischen den verschiedenen Kirchen zu beteiligen (Bilaterale →Konfessionsgespräche).

Bibliografie (Auswahl)

Hans-Martin Barth, Einander Priester sein. Allgemeines Priestertum in Ökumenischer Perspektive. (Kirche und Konfession Nr. 29), Göttingen 1990. - Harold S. Bender und Marlin E. Miller (Hg.), Art. Priesthood of All Believers, in: Global Anabaptist Mennonite Encyclopedia Online [http://www.gameo.org/encyclopedia/contents/A6734.html]. - J. Lawrence, Burkholder, Die Gemeinde der Gläubigen, in Hans-Jürgen Goertz (Hg.), Die Mennoniten (Die Kirchen der Welt, Bd. 8), Stuttgart 1972, 53–69. - François Caudwell, Découvrir le réformateur Menno Simons. La vie des prédicateurs – les réponses de Babylone, Collection Perspectives anabaptistes, Charols 2011, 212–260. - Donald F. Durnbaugh,The Believers' Church. The History and Character of the Radical Protestantism, 2. Aufl., Scottdale, PA, 1985. - Fernando Enns, Friedenskirche in der Ökumene. Mennonitische Wurzeln einer Ethik der Gewaltfreiheit. Göttingen 2003. - Heinold Fast (Hg.), Quellen zur Geschichte der Täufer in der Schweiz, Bd. 2: Ostschweiz, Zürich 1973. - Daniel Geiser-Oppliger, Le sacerdoce universel, unveröffentlichter Vortrag gehalten bei einem Workshop auf der Mennonitischen Weltkonferenz in Bulawayo, Simbabwe 2003. - Erich Geldbach, Freikirche – Erbe, Gestalt und Wirkung, Bensheimer Hefte 70, Göttingen 1989. - Hans-Jürgen, Goertz, Antiklerikalismus und Reformation. Sozialgeschichtliche Untersuchungen, Göttingen 1995. - Harald Goertz, Wilfried Härle und Hennig Schröer, Art. Allgemeines Priestertum, in Theologische Realenzyklopädie, Bd. 27, 1997, 402.413. - Thomas, Kaufmann, Das Priestertum der Glaubenden, in: Hartmut Kühne u. a. (Hg.), Thomas Müntzer – Zeitgenossen – Nachwelt. Siegfried Bräuer zum 80. Geburtstag (Schriften der Thomas-Müntzer-Gesellschaft Nr. 14), Mühlhausen 2010, 73–120. - Christian Link, Ulrich Luz und Lukas Vischer, Sie aber hielten fest an der Gemeinschaft. Einheit der Kirche als Prozess im Neuen Testament und heute, Zürich 1988. - Dieter Götz Lichdi, Allgemeines Priestertum und Laienpredigt, in: Die Brücke. Mennonitisches Gemeindeblatt 2, 1986, 1–2. - Bernhard Lohse und Regin Prenter, Art. in: Die Religion in Geschichte und Gegenwart, 3. Aufl., Bd. 5, Tübingen 1986, Sp. 578–582, Tübingen 1986. - Menno Simons, Die vollständigen Werke, Bd. 1 und 2, Elkhart, Ind., 1876 und 1881. - Karl Rahner und Herbert Vorgrimmler (Hg.), Kleines Konzilskompendium. Alle Konstitutionen, Dekrete und Erklärungen des Zweiten Vaticanums in der bischöflich genehmigten Übersetzung, 4. Aufl., Freiburg i. Br. 1968. - Taufe, Eucharistie und Amt. Konvergenzerklärungen der Kommission für Glaube und Kirchenverfassung des Ökumenischen Rates der Kirchen, 5. Aufl., Frankfurt/M. 1983. - (Stellungnahmen: Stellungnahme der VDM zu den Konvergenzerklärungen über Taufe, Eucharistie und Amt der Kommission für Glauben und Kirchenverfassung des Ökumenischen Rates der Kirchen, Lima 1982, in: Beilage zu Die Brücke 2/1986; General Mennonite Society, Netherlands (Allgemene Doopsgezinde Societeit), in: Churches Respond to BEM, Bd. III., 289–296; Die Diskussion über Taufe, Eucharistie und Amt 1982–1990, Stellungnahmen, Auswirkungen, Weiterarbeit, Frankfurt a. M. 1990). - Klaus Peter Voss, Der Gedanke des allgemeinen Priester- und Prophentums, Seine gemeindetheologische Aktualisierung in der Reformationszeit. Wuppertal 1990. - John Howard, Yoder, The Royal Priesthood. Essays Ecclesiological and Ecumenical, hg. von Michael G. Cartwright, Scottdale, PA, und Waterloo, Ont., 1998.

Daniel Geiser-Oppliger

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