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Freikirchen

1. Anfänge der Freikirchen

Unter Leitung von Thomas Chalmers (1780–1847) verließen zweihundert Pastoren im Jahre 1843 aus Protest gegen Patronatsrechte, mit denen das (Veto-)Recht der Gemeindeversammlung aufgehoben werden konnte, die Generalversammlung der Church of Scotland und gründeten die „Free Church“. Aufgrund des beherzten Eintretens von Alexandre Vinet (1797–1847) für Glaubensfreiheit kam es 1847 zur Bildung der waadtländischen „Eglise libre“. Im reformierten Umfeld bezog man unbefangen das Wort Kirche (church, église) auf sich, was kirchliche Abweichler in England seit Mitte des 16. Jahrhunderts nicht wagten. Kirche war 'reserviert' für die etablierte Church of England. Alle anderen waren Separatisten, Dissenters, Nonkonformisten, Schwärmer, Enthusiasten oder schlicht Sektierer. Sie selbst nannten sich „association, society“ u. ä. und versammelten sich in einer „chapel“ oder einem „meeting house“. Beim Auftreten der Freikirchen im 19. Jahrhundert in Deutschland (zuerst 1834 →Baptisten) lässt sich Gleiches beobachten. Die Freikirchen bauen „Gemeinden“ und versammeln sich in „Kapellen“. Man wollte bewusst nicht „verkirchlichen“. In England bildete sich 1892 der Freikirchenrat (National Free Church Council). Damit erhoben die Freikirchen den Anspruch, neben der Kirche von England auch legitime Kirchen zu sein.

2. Grundzüge der Freikirchen

Der Wortbestandteil „frei“ signalisiert einerseits Polemik: Man beansprucht, frei zu sein von Bindungen an ein Territorialprinzip oder an den Staat. Diese Idee findet sich bereits bei den →Täufern der Reformationszeit, ohne dass dort das Wort „Freikirche“ benutzt wurde. Im modernen Zusammenhang ist Freikirche ein Kontrastbegriff zu Staats-, Landes- oder Volkskirche. Das verweist auf eine andere Art der Verwirklichung von Kirche: Freikirche ist ein Strukturbegriff, der vier Tatbestände umschließt:

1. An die Stelle kirchlicher (Zwangs-)Uniformität (vgl. z. B. die englischen Uniformitätsakte von 1559 und 1662) tritt im Zuge neuzeitlicher Ausdifferenzierung ein kirchlicher Pluralismus. Das bedeutet keine Relativierung der Wahrheit, weil jede Freikirche ihre besonderen Erkenntnisse für wahr hält, diese aber nur mit dem „Schwert des Geistes“, nicht dem weltlichen Schwert, durchgesetzt werden dürfen. Der Monopolanspruch einer Kirche auf ein geographisches Gebiet ist damit hinfällig. 2. Jeder staatliche Eingriff in die Kirche muss abgewehrt werden. Jede Form von Caeseropapismus oder ein kirchliches Establishment, in Preußen „Ehe von Thron und Altar“ genannt, widersprechen dem Wesen der Kirche. 3. Auch klerikale Machtansprüche gegenüber dem Staat werden zurückgewiesen. Freie Kirchen sollen sich in einem freien Staat verwirklichen (vgl. C. B. Cavours (1810–1861) Ausspruch „Libera chiesa in libero stato“). 4. An der Nahtstelle von Struktur und Inhalten liegt die Kirchenmitgliedschaft, die in Freikirchen nicht passiv zugeschrieben wird, sondern aktiv erworben werden soll, denn der Erwerb der Mitgliedschaft richtet sich nach inhaltlichen Kriterien, die unterschiedlich sein können, z. B. Gläubigentaufe bei →Mennoniten, Baptisten, Adventisten und Pfingstkirchen, persönliches Glaubensbekenntnis bei den Freien evangelischen Gemeinden (zumeist verbunden mit der Taufe) oder ein besonderer Akt der Gliederaufnahme der als Kinder Getauften in der Evangelisch-methodistischen Kirche. In keinem Fall liegt eine Analogie zu einem Vereinsbeitritt vor, denn die Aufnahme neuer Mitglieder in eine konkrete Freikirche geschieht unter Wirkung des Heiligen Geistes und bedeutet zugleich die Gliedschaft am universalen Leib Christi. Wenn es auch eine distanzierte Mitgliedschaft geben kann, so ist sie nicht die Regel, sondern die Ausnahme.

Die freiwillige Zugehörigkeit zur Kirche Jesu Christi bedingt die verantwortliche Haushalterschaft, was viele ehrenamtliche Tätigkeiten und die Abgabe von oft 10% des Einkommens bedeutet und zu vielfältigen missionarischen, evangelistischen und sozial-diakonischen Aktivitäten führt. Die Entscheidungsfindungen in der Gemeindeversammlung und in Gremien soll nach Möglichkeit auf der Grundlage des Konsenses der ganzen Gemeinde unter Vermeidung von Kampfabstimmungen vor sich gehen. Das wird als eine Form der Verwirklichung des →Priestertums aller Gläubigen angesehen. In Freikirchen kam es früher öfters, heute seltener zur Anwendung von Kirchenzucht (Mt. 18), die kein liebloses Richten sein soll, sondern die aus seelsorgerlichen Gründen und wegen der Integrität der Gemeinde zur Anwendung kommen kann (→Bann). In diesen Punkten sehen Freikirchen Züge wahrer →Apostolizität von Glauben und Kirchenordnung, so dass die Strukturfrage gestellt wird, um diese Inhalte nicht zu gefährden.

3. Vielfalt der Freikirchen in Deutschland

Im deutschen Kontext ist Freikirche heute ein Sammelbegriff für vielfältige Kirchen. Ihre Unterschiede lassen sich an gänzlich verschiedenen Modellen der Kirchenverfassung aufzeigen. Mennoniten, Baptisten, die Freien evangelischen Gemeinden und die meisten Pfingst- und Heiligungskirchen sind kongregationalistisch verfasst und in „Bünden“ von mehr oder weniger selbstständigen Einzelgemeinden organisiert. Der Methodismus kennt eine bischöflich-synodale Verfassung und ist in „Konferenzen“ und weltweit durch das konnexionale System miteinander verknüpft. Ähnlich ist die Heilsarmee mit einem kommandierenden General (bzw. einer kommandierenden Generalin) an der Spitze weltweit wie eine Armee aufgebaut. Synodal-presbyteriale Strukturen kennt die Evangelische Brüder-Unität. In weltweiten Strukturen ist die Gemeinschaft der Siebenten-Tags-Adventisten organisiert, die ihre Angelegenheiten in synodal-repräsentativen Konferenzen regelt, während die →Quäker in Andachtskreisen, Monats-, Vierteljahres- und Jahresversammlungen organisiert sind. Die meisten Freikirchen haben den Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts, doch verzichten sie um der Unabhängigkeit von staatlichen Stellen willen freiwillig auf Privilegien, die von den evangelischen Landeskirchen und der römisch-katholischen Kirche wie selbstverständlich – weil historisch gewachsen – in Anspruch genommen werden.

4. Typologie der Freikirchen

Typologisch lassen sich die Freikirchen aufgliedern in: 1. Täuferische Freikirchen: Mennoniten, Baptisten, Church of the Brethren (→Kirche der Brüder), Freie evangelische Gemeinden. Letztere kennen die Gläubigentaufe als Regeltaufe, machen sie aber nicht verpflichtend. Mennoniten, Quäker und Brethren werden zu den „Historischen Friedenskirchen“ gerechnet. 2. Kirchen der wesleyanischen-methodistischen Tradition, wie die Evangelisch-methodistische Kirche mit starker Gewichtung der Evangelisation, Heiligung und des sozialen Engagements auf der Grundlage eines „sozialen Bekenntnisses“. Aus dem Methodismus entwickelte sich die Heilsarmee („Seelenrettung“, Seife, Suppe), und als angeblich die Betonung der Heiligung nachließ, traten Ende des 19. Jahrhunderts besondere Heiligungskirchen wie die Kirche des Nazareners und der Freikirchliche Bund der Gemeinde Gottes hervor. 3. Verwandt mit dem Methodismus sind die Pfingstkirchen; in Deutschland vor allem der Bund Freikirchlicher Pfingstgemeinden und die Gemeinde Gottes – Urbach. Sie betonen die Gaben des Heiligen Geistes, insbesondere die Sprachenrede (Glossolalie) und andere Wunder, als „nachfolgende Zeichen“ auf die Bekehrung. Eine Ausnahme bildet der Mühlheimer Verband Freikirchlich-Evangelischer Gemeinden. 4. Eine Besonderheit bildet die Evangelische Brüderunität (Herrnhuter Brüdergemeine), die sich auf die hussitische Bewegung in Böhmen und Mähren zurückführt und die heute eine Gliedkirche der Evangelischen Kirche in Deutschland ist und gleichzeitig in der Vereinigung Evangelischer Freikirchen mitarbeitet. Sie ist bekannt durch das seit 1730 herausgegebenen Andachtsbuch Die Losungen. 5. Der Name der Freikirche der Siebenten-Tags-Adventisten verweist auf zwei Besonderheiten: die Sabbatheiligung und die Naherwartung der Wiederkunft Jesu. Daneben entfaltet sie auf den Gebieten der Gesundheitsreform, der medizinischen Versorgung und Prävention (medizinische Hochschulen, Krankenhäuser), der schulischen Bildung und in der Mission ausgeprägte Aktivitäten. 6. Eine Sonderstellung nimmt die „Gesellschaft der Freunde“ (Quäker) ein. Sie ist eine Gemeinschaft ohne Dogmen und Sakramente. Das ganze Leben der Christen soll ein Sakrament sein. Ihre Gottesdienste vollziehen sich zumeist in schweigenden Andachten. Die Quäker haben zur Abschaffung der Sklaverei wesentlich beigetragen und sind eine der „Historischen Friedenskirchen“, weil sie den Dienst mit der Waffe ablehnen. 7. In Deutschland gibt es zudem zwei so genannte Konfessionelle Freikirchen, die Selbständig Evangelisch-Lutherische Kirche (SELK) und die Evangelisch-altreformierte Kirche in Niedersachsen. Beiden Kirchen geht es um Wahrung der ursprünglichen konfessionsspezifischen Bekenntnis- und Lehrbildungen, und die ersten beiden sind im 19. Jahrhundert in Opposition zu Kirchenunionen (z. B. preußische Union) und kirchlichem Liberalismus entstanden. Das betrachteten sie als Abkehr von der Bekenntnisbindung. Die freikirchliche Existenzweise ergab sich daher aus der besonderen geschichtlichen Situation, ist aber weniger gewollt.

5. Vereinigung Evangelischer Freikirchen in Deutschland

Um gegenüber dem neuen demokratischen Staat und den evangelischen Landeskirchen gemeinsame Anliegen wirksamer zu vertreten, bildeten Methodisten, Baptisten und die Freien evangelischen Gemeinden 1926 die Vereinigung Evangelischer Freikirchen (VEF). Die VEF ist so der älteste ökumenische Zusammenschluss autonomer Kirchen auf deutschem Boden. Heute gehören zur VEF zehn Mitgliedskirchen: Arbeitsgemeinschaft Mennonitischer Gemeinden, Bund Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden (Baptisten), Bund Freier evangelischer Gemeinden, Bund Freikirchlicher Pfingstgemeinden, Evangelisch-methodistische Kirche, Die Heilsarmee, Kirche des Nazareners, der Mühlheimer Verband Freikirchlich-Evangelischer Gemeinden, Gemeinde Gottes und Freikirchlicher Bund der Gemeinde Gottes sowie vier Gastmitglieder: Evangelische Brüder-Unität / Herrnhuter Brüdergemeine, Freikirchliches Evangelisches Gemeindewerk, Anskar Kirche, Freikirche der Siebenten-Tags-Adventisten.

Die VEF repräsentiert unterschiedliche theologische Traditionen und geistliche Prägungen. Sie ist als ein eingetragener Verein organisiert; ihre Organe sind Mitgliederversammlung, Vorstand und Arbeitsgruppen für unterschiedliche Belange, z.B. Evangelisation und missionarischer Gemeindeaufbau, Presse und Verlage, Rundfunk und Fernsehen, Arbeit mit und für Kinder, Jugendliche und Teenager, theologische Aus- und Weiterbildung sowie gesellschaftliche Verantwortung. Sie hat einen Beauftragten am Sitz der Bundesregierung und gibt gelegentlich „Erklärungen“ ab, so zuletzt zum Atomausstieg, zur Finanzkrise, zum Kreationismus, zur Religionsfreiheit und zum sozialen Handeln. In der Präambel der „Ordnung der VEF“ haben die Freikirchen ihre Gemeinsamkeiten betont. Das ist ökumenisch bedeutsam, weil die VEF damit ein Muster abgibt, wie unterschiedliche Strukturen, verschiedene theologische Inhalte und andersartige Formen der Frömmigkeit in „versöhnter Verschiedenheit“ miteinander arbeiten können.

6. Ökumenische Beziehungen

Gemeinsam verfügen die Kirchen der VEF über ca. 250.000 Mitglieder in 3.500 Ortsgemeinden. Der Minderheitenstatus in Deutschland führt dazu, dass sie in der Öffentlichkeit oft mit „Sekten“ verwechselt werden. Einige von ihnen gehören zu großen Weltweiten Christlichen Gemeinschaften (Pfingstkirchen, Baptisten, Mennoniten, Methodisten, Adventisten) und sind als solche auch in das internationale Netz zwischenkirchlicher Dialoge eingespannt. Das entspricht der freikirchlichen Tradition, weil man sich zumeist je als Teil der weltweiten Kirche verstanden und daher konfessionsübergreifende Gemeinschaft gesucht hat. Daraus entstand die Zweigtheorie (Kirche als Baum mit Israel als Wurzel und den Zweigen als den unterschiedlichen Kirchen) und die Überwindung der Unterscheidung von „Kirche“ und „Sekte“ durch den wertneutralen Begriff der „→Denomination“. Entsprechend gehörten Freikirchler zu den Pionieren der Evangelischen Allianz (seit 1846) und der ökumenischen Bewegung, wie sie 1948 mit der Gründung des Ökumenischen Rates der Kirchen (ÖRK) Gestalt annahmen. Der methodistische Laie John Mott (1865–1955) war der große Baumeister der Ökumene. Nach dem Zweiten Weltkrieg drängten Vertreter der Freikirchen in Deutschland auf Bildung eines Nationalen Kirchenrates, doch war die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) zurückhaltend, so dass es „nur“ zur Bildung der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen (ACK) in Deutschland kam. Die meisten Freikirchen gehören heute als Voll- oder Gastmitglieder zur ACK, viele auch zum ÖRK oder zur Konferenz Europäischer Kirchen (KEK).

7. Freikirchen im Kontext moderner Demokratien und Menschenrechte

Der freikirchliche Grundsatz der Trennung von Staat und Kirche entspringt der Idee, zwischen religiösem und politischem Gehorsam zu unterscheiden. Das ist für die Entwicklung der modernen Demokratie und der Menschenrechte maßgeblich geworden. Die Durchsetzung der Glaubens- und Gewissensfreiheit (im Unterschied zu bloßer Toleranz) führte in einem langen Prozess zur Akzeptanz einer Pluralität von politischen und religiösen Meinungen. Freikirchen verwarfen eine Uniformität oder den Gedanken einer Homogenität von „Volkskirche“ und „Volksgemeinschaft“, die sich nur durch Gewissensunterdrückung, religiöse Verfolgung oder repressive Toleranz durchsetzen lässt. Freikirchliche Vertreter plädierten für friedliches Nebeneinander unterschiedlicher Kirchen, was die Glaubwürdigkeit des Christentums weit weniger gefährdet als Einheitlichkeit durch Intoleranz und Verfolgung. In den USA ist durch den Ersten Zusatz zur Verfassung die Religion aus den Hoheitsaufgaben des Staates entlassen. Diese (freikirchliche) Art der Trennung von Staat und Kirche hat zu einem Aufblühen der Religion geführt, so dass ungeachtet aller modernen Säkularisierungstendenzen die öffentliche Rolle der Kirchen und Religionsgemeinschaften in Nordamerika weit bedeutender ausgeprägt ist als im westlichen Europa. Als wesentliche Träger der Mission im 19. und 20. Jahrhundert wurden die Freikirchen zu Vorbildern für die „Jungen Kirchen“ in Asien und Afrika.

Im Zuge von Arbeitermigration und Rückwandererbewegungen nach Deutschland kam es zu zahlreichen Gemeindegründungen, weil sich die betreffenden Menschen aufgrund sprachlicher und kultureller Verschiedenheiten nicht in bestehende Gemeinden integrieren mochten. Im Gemeindeverständnis gleichen sie den traditionellen Freikirchen. Baptistische und mennonitische Aussiedlergemeinden, aber auch pfingstliche und charismatische Gemeinden afrikanischen oder asiatischen Ursprungs stehen neben konservativ-evangelikalen oder bibelfundamentalistischen Gruppen. Gelegentlich findet man auch Kombinationen dieser Traditionen. Einige haben sich in losen Bünden organisiert, andere bilden völlig independente Gemeinden. Zu ökumenischen Kontakten kommt es sehr selten. Noch ist nicht abzusehen, welche Entwicklungen diese Gemeinden nehmen werden.

Bibliografie (Auswahl)

Karl Heinz Voigt, Freikirchen in Deutschland (19. und 20. Jahrhundert), (Kirchengeschichte in Einzeldarstellungen Bd. III/6), Leipzig 2004 – VEF (Hg.), Freikirchenhandbuch, Wuppertal 2004. - Erich Geldbach, Freikirchen – Erbe, Gestalt und Wirkung (Bensheimer Hefte 70), neubearb. Aufl., Göttingen 2005. - Reinhard Henkel, Atlas der Kirchen und der anderen Religionsgemeinschaften in Deutschland – eine Religionsgeographie, Stuttgart 2001. - FreikirchenForschung, (Verein für Freikirchenforschung seit 1990), regelmäßig erscheinendes Jahrbuch mit umfangreicher Bibliografie. - Zeitschriften : Theologisches Gespräch und Zeitschrift für Theologie und Gemeinde.

Erich Geldbach

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