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Mitteldeutschland

1. Vielfältige Herrschafts- und Rechtsräume

„Mitteldeutschland“ bezeichnet eine Region, die ihren Namen erst relativ spät erhalten hat. Nicht vor dem 20. Jahrhundert sprach man beim Blick auf die heutigen Bundesländer Thüringen, Sachsen-Anhalt und Sachsen von „Mitteldeutschland“. Die historischen Territorien in der Region waren vor allem Kursachsen beziehungsweise die Ernestinischen Herzogtümer und Hessen-Kassel. Das Gebiet war im 16. Jahrhundert durch sehr vielfältige Herrschafts- und Rechtsräume geprägt, was sich auch auf die Situation der →Täufer auswirkte.

Die verschiedenen Herrschaftsräume brachten ganz unterschiedliche Rahmenbedingungen für das täuferische Leben in Mitteldeutschland hervor. Während beispielsweise Sachsen die Todesstrafe forderte, plädierte Landgraf Philipp von Hessen lediglich auf eine Unterweisung der Täufer beziehungsweise auf Landesverweis, wenn die Unterweisung nichts fruchtete. Auch die Täuferbewegung an sich erwies sich in Mitteldeutschland als äußerst bunt und vielfältig, was sich unter anderem aus dem Einfluss des →Bauernkriegs und der Verbreitung apokalyptischer Vorstellungen erklären lässt. Spätere Täufer wie Hans →Hut, Hans →Römer oder Melchior →Rinck waren Anhänger Thomas →Müntzers und kämpften 1525 in der Schlacht bei Frankenhausen mit. Erst allmählich legten die mitteldeutschen Täufer ihre Gewaltbereitschaft ab und nahmen die täuferische Lehre der Wehr- und Gewaltlosigkeit an. In der Forschung ist es mittlerweile „common sense“, dass diese täuferische Bewegung kein Ableger der Täufer in der Schweiz war, sondern eigene Wurzeln hatte.

2. Anfänge der Täufer

Die Anfänge der Täufer in Mitteldeutschland können nicht dargestellt werden, ohne einen Blick auf Bewegungen zu werfen, die bereits seit Anfang der 1520er Jahre eine Frömmigkeit praktizierten, die von Laien geprägt war und die mit Kritik an der Kirche und an der Kindertaufe an die Öffentlichkeit traten. Dazu zählte eine Gruppe um den Tuchmacher Nikolaus Storch in Zwickau, die später von Martin Luther polemisch als „→Zwickauer Propheten“ bezeichnet wurde, um sie als „Schwärmer“ diffamieren zu können. Wenig ist über sie bekannt; vermutlich versammelte sich die Gruppe jedoch schon vor dem reformatorischen Aufbruch in geheimen, von Laien geprägten Konventikeln, während sie gleichzeitig am offiziellen kirchlichen Leben teilnahm. Im Umkreis von Nikolaus Storch befand sich auch Gerhard Westerburg, der wiederum Kontakte zu den späteren Täufern um Mantz und Grebel in Zürich hatte. Thomas Müntzer lernte Nikolaus Storch während seiner Tätigkeit an der Zwickauer Katharinenkirche näher kennen und war von ihm und der Glaubenspraxis in seinem Umfeld beeindruckt.

In Zwickau und kurze Zeit später in Prag nahmen im Denken Thomas Müntzers die apokalyptischen Vorstellungen immer mehr Gestalt an (→Apokalyptik). Er sah die Zeit des Gerichts über die Welt kommen und bezeichnete sich selbst als „Knecht der Auserwählten Gottes“, der die Zeichen der Zeit richtig erkennen und die Scheidung in Gläubige und Ungläubige begleiten sollte. Die Vorstellung in der letzten Zeit zu leben, spiegelt sich auch in Müntzers Auffassung wider, die Schlacht bei Frankenhausen sei die endzeitliche Entscheidungsschlacht. Über Hans Hut, der in Frankenhausen mitgekämpft hatte, gelangten die apokalyptischen Ideen in die Täuferbewegung, Hut legte den Tag des Endgerichts auf Pfingsten 1528.

Apokalyptik und Gewaltbereitschaft bündelten sich in dem Versuch einiger Täufer, zum Jahreswechsel 1527/28 handstreichartig die Herrschaft in Erfurt zu übernehmen und die Stadt für die angeblich bevorstehende Wiederkunft Christi vorzubereiten. Doch die Pläne flogen auf. Führende Aufständische wie Niklas W. Hofmann und Christoph Peisker wurden gefangengenommen. Andere wie Hans Römer konnten fliehen. Letzterer ging kurzzeitig in die Schweiz, wo sich sein Glauben unter dem Einfluss der dortigen Täufer in ein friedfertiges Täufertum umgestaltete. Gerhard Zschäbitz stellte 1958 fest, die täuferischen Ideen hätten in Mitteldeutschland einen „aufgewühlten sozial-politischen und stimmungsmäßigen Resonanzboden“ vorgefunden (Zschäbitz, Zur mitteldeutschen Wiedertäuferbewegung, 25).

3. Täuferisches Leben im 16. Jahrhundert

Die täuferische Bewegung in Mitteldeutschland war, ebenso wie in anderen Regionen auch, durch eine recht hohe Flexibilität gekennzeichnet. Die Gemeinden hatten keine festen Prediger, sondern hielten ihre Versammlungen, wenn durchreisende Prediger ins Dorf oder in eine Stadt kamen. Auch die Teilnehmer an den Versammlungen nahmen oft weite Strecken auf sich. Insofern handelte es sich bei den frühen täuferischen Gemeinden nicht um institutionalisierte Versammlungen mit festen Strukturen. Als Versammlungsorte tauchen in den Quellen Privathäuser sowie abgelegene Mühlen oder Gasthäuser sowie entlegene Wüstungen in Wäldern auf.

Bis in die 1530er Jahre hielten sich die apokalyptischen Vorstellungen. 1531 beispielsweise gaben Täufer aus Hausbreitenbach zu Protokoll, es würde „eyn straff vber die welt komen mit eynem grossen here von auffgange der sonne, alsdann sollten sie, so anderst getaufft weren, auff eynem berge, der Sonderbergk gnant, bey Hirsfelt zusamen kome. Do wurde jnen Gott dauon helffen“ (Wappler, Stellung Kursachsens, 140). Auch ein positiver Umgang mit dem Bauernkrieg ist noch länger nachweisbar. So sagte 1533 die von Melchior Rinck getaufte Margarethe Koch in ihrem Verhör aus, der Bauernkrieg sei „aus gottes willen gescheen vnd gotes wergk gewesen“ (Wappler, Stellung Kursachsens, 174).

Schwerpunkte täuferischen Lebens lagen in den Gegenden um Hausbreitenbach, Berka und Eisenach sowie in der Harzgegend, rund um das fränkische Königsberg und um das osthessische Hersfeld. Bei der Betrachtung Mitteldeutschlands ist es angebracht, stets auch den Blick nach Franken und Osthessen zu richten. Wesentliche Akteure waren Hans Hut und Hans Römer, später auch Melchior Rinck. Alle drei hatten 1525 an der Schlacht bei Frankenhausen teilgenommen; Hut und Römer hatten zudem 1524 den „Ewigen Bund Gottes“ unterstützt, mit dem Thomas Müntzer in Mühlhausen ein Stadtregiment „unter dem Wort Gottes“ einführen wollte.

In der Region zwischen der südlichen Harzgegend und Hersfeld war der Schulmeister Alexander, dessen Nachnamen die Quellen nicht überliefern, als täuferischer Prediger tätig. Sein Bekenntnis, das er 1533 im Verhör ablegte, zeigt ein friedfertiges, vom Gehorsam gegenüber den Obrigkeiten geprägtes Täufertum. Er reiste unermüdlich durch die Lande und predigte dort, wo täuferische Versammlungen ihn einluden.

Die unterschiedlichen Herrschaftsverhältnisse in der Region machten sich besonders im Leben der Täufer in Berka und Hausbreitenbach, also in der Gegend um Eisenach, bemerkbar. Nach dem Bauernkrieg war hier eine wechselnde Oberherrschaft durch Hessen, Kursachsen und das Herzogtum Sachsen eingerichtet worden. Da die gemeinsame Verwaltung jedoch von Uneinigkeiten über das Vorgehen gegen die Täufer geprägt war, dauerten die Gerichtsverfahren oft sehr lange, und auch die Gefängnisaufenthalte dehnten sich aus, da man zu keinen Urteilen kam. Doch die verschiedenen politischen Kompetenzen und das entstehende „Gerangel“ eröffnete für die Täufer auch Schlupfwinkel. Unter den Täufern in Hausbreitenbach befand sich der aus Herda stammende Fritz Erbe, der insgesamt 16 Jahre im Gefängnis saß, am Ende in einem der Türme der Wartburg. 2006 fand man bei Grabungen unter der Wartburg ein Grab mit Gebeinen, die Fritz Erbe zugeordnet wurden.

Besonders prekär wurde die Situation in Hausbreitenbach Anfang der 1530er Jahre, nachdem es offenbar unter der Bevölkerung zu einer Erweckung durch täuferische Prediger gekommen war. Verstärkte Maßnahmen gegen die Täufer waren die Folge. Sie führten nicht nur dazu, dass die Gefängnisse schnell überfüllt waren, sondern die Situation in Hausbreitenbach bildete auch den Hintergrund für sehr wesentliche Gutachten zur täuferischen Frage. So steht das Gutachten von Philipp →Melanchthon von 1531, in dem er die Todesstrafe für die Täufer als rechtlich besten Weg ansah, im Kontext dieser Ereignisse. 1534 verfasste dann der Eisenacher Superintendent Justus Menius eine lange Widerlegung der wesentlichen täuferischen Artikel und verglich die „Rotten der Widdertauffer“ mit einem brennenden Haus, dessen Funkenflug für andere Häuser gefährlich werden könnte (Menius, der widderteuffer Lere, Wittenberg 1534, S. A vjv). Die Schrift von Justus Menius enthielt ein Vorwort von Martin →Luther, in dem dieser harte Strafen gegen die Täufer forderte.

Von Anfang an zogen zahlreiche Missionare und Sendboten durch die Gebiete Mitteldeutschlands. Unter anderem Eucharius Binder, der zwischen seiner fränkischen Heimat, Thüringen, Nürnberg, Augsburg und Mähren hin- und herreiste. Er war von Hans Hut getauft worden und von der „Märtyrersynode“, die 1527 in Augsburg stattfand, mit dem Predigen des täuferischen Glaubens in der Gegend um Salzburg beauftragt worden. Von ihm stammt eines der Lieder, die später im täuferischen Liederbuch Ausbund erschienen. Auch die Hutterer übten ihre sehr rege Missionsarbeit in der Region aus, die zu einer entsprechenden Auswanderung nach Mähren führte. 1540 saß der hutterische Prediger Peter →Riedemann zunächst in Marburg, dann in Wolkersdorf im Gefängnis, nachdem er ebenfalls in der Region für das Täufertum und die Auswanderung nach Mähren geworben hatte. In Wolkersdorf schrieb Riedemann als Information über seinen Glauben die Rechenschaft Vnserer Religion / Leer vnnd Glaubens (1540/41), eine grundlegende konfessionelle Schrift der Hutterer.

Die Viefalt täuferischen Lebens wird in Mitteldeutschland ergänzt durch eine Gruppe, die sich selbst „Blutsfreunde aus der Wiedertaufe“ nannte. Sie umfasste ca. 40 Personen und hatte ihre Verbreitung Ende der 1540er und Anfang der 1550er Jahre in der Region zwischen Langula bei Mühlhausen und Rotenburg an der Fulda. Unter der Führung von Claus Ludwig aus Tüngeda und Georg Schuchardt aus Creuzburg traten die „Blutsfreunde aus der Wiedertaufe“ nicht nur durch antiklerikale Aktionen hervor, sondern propagierten auch die Sündlosigkeit und die fleischliche Vermischung. Darunter verstanden sie ein spezielles Aufnahmeritual in ihre Gemeinschaft, die sogenannte „Christierung“. Es handelte sich um außerehelichen Geschlechtsverkehr unter „Brüdern“ und „Schwestern“, der als Sakrament verpflichtend für den Eintritt in die „Blutsfreunde“ angesehen wurde.

Ab den 1560er Jahren nahmen die Nachrichten über Täufer in Mitteldeutschland ab. Noch Jahre länger sind jedoch Reisen von hutterischen Sendboten in der Region überliefert.

Bibliografie (Auswahl)

Quellen

Günter Franz, Urkundliche Quellen zur hessischen Reformationsgeschichte, Bd. 4, Wiedertäuferakten 1527–1626 (Veröffentlichungen der historischen Kommission für Hessen und Waldeck, 11), Marburg 1951. – Paul Wappler, Die Stellung Kursachsens und des Landgrafen Philipp von Hessen zur Täuferbewegung (Reformationsgeschichtliche Studien und Texte, 13/14), Münster 1910. - Ders., Die Täuferbewegung in Thüringen von 1526–1584 (Beiträge zur neuere Geschichte Thüringens, 2), Jena 1913.

Literatur

Heinrich Beulshausen, Die Geschichte der osthessischen Täufergemeinden, Bde. 1 und 2, Giessen 1981. Kat Hill, Baptism, Brotherhood, and Belief in Reformation Germany. Anabaptism and Lutheranism, 1525–1585, Oxford 2015. - Thomas Kaufmann, Thomas Müntzer, „Zwickauer Propheten“ und sächsische Radikale. Eine quellen- und traditionskritische Untersuchung zu einer komplexen Konstellation (Veröffentlichungen der Thomas-Müntzer-Gesellschaft, 12), Mühlhausen 2010. - Franklin H. Littell, Landgraf Philipp und die Toleranz, Bad Nauheim 1957. - Gottfried Seebaß, Müntzers Erbe. Werk, Leben und Theologie Hans Huts, Gütersloh 2002. - James M. Stayer, Werner O. Packull und Klaus Deppermann, From Monogenesis to Polygenesis. The Historical Discussion of Anabaptist Origins, in: Mennonite Quarterly Review 49, 1975, 83–121. - James M. Stayer, Sächsischer Radikalismus und Schweizer Täufertum, in: Günter Vogler (Hg.), Wegscheiden der Reformation, Weimar 1994, 151–178. - James M. Stayer, Luther and the Radical Reformers, in: Alberto Melloni (Hg.), Luther. A Christian between Reforms and Modernity, 1517–2017, Berlin und Boston 2017, 451–472.- Astrid von Schlachta, Die Täufer in Thüringen. Von wehrhaften Anfängen zur wehrlosen Gelassenheit (Beiträge zur Reformationsgeschichte in Thüringen), Jena 2017. - Gerhard Zschäbitz, Zur mitteldeutschen Wiedertäuferbewegung nach dem Großen Bauernkrieg, Berlin 1958.

Astrid von Schlachta

 
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