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Hamburg und Altona (Mennonitengemeinde)

1. Historischer Überblick

Kaum hatte sich die Reformation in den ersten Jahrzehnten des 16. Jahrhunderts in den norddeutschen Territorien und Reichsstädten durchgesetzt, begannen sich taufgesinnte Familien im holsteinischen Umland Hamburgs anzusiedeln. Die ersten flohen vor der Verfolgung im Rheinland oder in den von Spanien beherrschten Niederlanden. Die Nachkommen dieser Familien blieben in Kontakt mit der toleranten und wohlhabenden protestantischen Republik im Norden der Niederlande, die Ende des 16. Jahrhunderts gegründet wurde. Langsam fassten Einzelpersonen und Familien auch Fuß in Hamburg und benachbarten Orten, etwa dem nahegelegenen Altona und dem entfernteren →Friedrichstadt an der Eider. Die ersten Aufzeichnungen über die Anzahl der Mennoniten stammen aus der sogenannten Flämischen Gemeinde, die seit Anfang des 17. Jahrhunderts in Altona ansässig war und Mitglieder sowohl in Hamburg als auch in Altona hatte. In den 1650er Jahren zählte die Gemeinde etwa 200 getaufte Mitglieder und in den 1670 Jahren etwa 250. Bis zu den 1780er Jahren wuchs diese Zahl auf etwa 320 Mitglieder allein in Altona. Im 19. Jahrhundert ging diese Zahl jedoch zurück. Eine Mitgliederliste von 1900 verzeichnet insgesamt 227 Glieder in und um Hamburg. Während in der frühen Neuzeit die meisten Mennoniten noch in Altona lebten, verschob sich das Gewicht bis 1900 zugunsten der Mennoniten in Hamburg. Trotz ihrer geringen Zahl spielten die Mennoniten eine wichtige politische, ökonomische, religiöse und kulturelle Rolle in Hamburg und Altona.

2. Vom politischen Ausschluss zur gesellschaftlichen Integration

In der frühen Neuzeit war Hamburg eine weitgehend unabhängige Stadtrepublik, die von einem vornehmlich mit Kaufleuten und Juristen besetzten Stadtrat regiert wurde. Seit 1483 hatten alle männlichen Landbesitzer das Recht auf politische Mitbestimmung, wenn sie den Bürgereid leisteten. Seit der Verfassung von 1528 wurde Hamburg die meiste Zeit von einem Bürgerrat (Rat oder Senat genannt) und von einem Kollegium regiert. Im 16., 17. und 18. Jahrhundert wurde die Verfassung mehrfach reformiert, wobei das volle Wahlrecht aber stets nur den Lutheranern vorbehalten blieb. Die lutherische Geistlichkeit dieser Zeit sahen die Mennoniten als ketzerische Wiedertäufer an, die zu vertreiben waren. Obwohl die lutherische Kirche einen großen Einfluss ausübte, setzten sich die weltlichen Behörden darüber hinweg. Sie unterschieden zwischen Wiedertäufern, die nach kaiserlichem Recht Straftäter waren, und Mennoniten, die der Rat der Stadt als eine ökonomisch produktive Gruppierung ansah. Zu Beginn des 17. Jahrhunderts wurden die „Fremdenkontrakte“ ausgehandelt (1605 und 1638), nach denen sich mennonitische Familien legal in Hamburg ansiedeln konnten. Diese Abkommen behandelten Mennoniten und Calvinisten als Gemeinschaften ausländischer Händler und weniger als religiöse Minderheiten. In Altona wurde das volle Wahlrecht wie in Hamburg nur Lutheranern gewährt.

Das Aufenthaltsrecht der Mennoniten in Altona beruhte auf einem Privileg, das ihnen kollektiv vom jeweils neuen Adelsherrn verliehen wurde. Graf Ernst von Schauenburg gewährte 1601 als erster Herrscher solche Rechte, und seine Schauenburger und dänischen Nachfolger behielten diese Praxis im 17. und 18. Jahrhundert bei. Die Privilegien behandelten Mennoniten und andere religiöse Minderheiten hauptsächlich als Wirtschaftsakteure; sie wurden von der Gildenpflicht befreit und erhielten das Recht, Haushalte, Geschäfte und Kirchen zu begründen. Im Austausch mussten sie dem Fürsten Gehorsam geloben, jährliche Steuern zahlen und Bekehrungsversuche unter der lutherischen Mehrheit der Bevölkerung unterlassen.

Im Laufe mehrerer Generationen verschob sich das Gewicht von kollektiven Konfessionsprivilegien zu modernen Grundrechten. Gegen Ende des 17. Jahrhunderts erwarben einige Mennoniten individuelle Bürgerrechte in Hamburg, das Wohnrecht jedoch brachte kein Wahlrecht oder Recht auf öffentliche Religionsausübung mit sich. Trotz der offiziellen politischen Linie wurden aber einigen Mitgliedern der Familie van der Smissen verschiedene Verwaltungsposten angetragen, etwa in der Baukommission (Hinrich I van der Smissen 1713–1716) und dem Kommerz-Kollegium (Gysbert III van der Smissen 1762–1782) in Altona oder der Kommerzdeputation (Daniel van der Smissen von 1751 an) in Hamburg.

Im 19. Jahrhundert wendete sich die Situation entscheidend. Nach dem Ende der französischen Besetzung (1806–1814) brachte die Verfassungsreform von 1819 den mennonitischen, katholischen und calvinistischen Bürgern das Wahlrecht. 1860 wurde die Trennung von Staat und Kirche verfassungsrechtlich festgeschrieben, und 1884 erlangte die Mennonitengemeinde den Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts. Kompliziert und schwierig gestaltete sich die politische Integration der Mennoniten angesichts des Verhältnisses zum →Nationalismus seit dem 19. Jahrhundert. Wie ihre Glaubensgenossen anderswo in Deutschland waren Mennoniten in Hamburg und Altona vom erwachenden Nationalgefühl in der Ära Bismarcks stark geprägt. Einige Gemeindemitglieder waren aktiv im Krieg gegen Frankreich 1870/71 beteiligt, und einige dienten nicht als Soldaten, sondern als Sanitäter oder Büroarbeiter im Heer.

3. Das frühe wirtschaftliche Leben

Hamburg und Altona waren in der frühen Neuzeit wirtschaftliche Rivalen. Im frühen 17. Jahrhundert wuchs Altona rasch durch Zuzug von Unternehmen und Familien. Die Ansiedlung ausländischer Händlergruppen war Teil der Strategie der Altonaer Regierung, um den Handel von Hamburg abzuwerben. Zu Beginn des Jahrhunderts betrieben mennonitische Kaufleute wie François Noë, Cornelius und Hans Simons oder Walrave und Hilger Hilgers Fernhandel bis nach Russland, um Luxusgüter für den Grafen von Schauenburg zu beschaffen. Diese Handelsbeziehungen verhalfen den Mennoniten sicherlich zu ihrem ersten gräflichen Privileg. Später im 17. Jahrhundert wurde die aus Brabant eingewanderte Familie van der Smissen zu einer der reichsten in Altona. Diese frühen Pioniere des Handels und ihre Nachkommen profitierten von ihren engen familiären und religiösen Bindungen an die ökonomisch und technisch fortschrittlichen Niederlande.

Ein wesentlicher Anziehungspunkt des Lebens am Elbufer für religiöse Außenseiter wie die Mennoniten in Altona war die Nähe zum Wirtschaftsbrennpunkt Hamburg. Seit Beginn der Aufzeichnungen war die Stadt immer ein großer Handelshafen. 1558 wurde die erste Börse auf deutschem Boden eröffnet und 1619 die erste Investitionsbank gegründet. Die Händler der Stadt verschickten Waren nach ganz Europa, und gegen Ende des 18. Jahrhunderts wurden Häfen in aller Welt bedient. Auch Walfang, Versicherung, Zuckerraffinerien, Textilproduktion und Tabakherstellung wurden in großem Maßstab betrieben.

Im 17. und 18. Jahrhundert waren die Mennoniten in Hamburg vor allem wegen der wirtschaftlichen Erfolge einer kleinen, aber bedeutenden Zahl von Familien toleriert. Die reichsten Mennoniten waren Fabrikbesitzer, Kaufleute, Makler, Schiffbauunternehmer und Reeder. Sowohl in Altona als auch in Hamburg verdienten mennonitische Familien große Vermögen mit dem Walfang, der große Bedeutung für Lampenöl und andere Produkte hatte. Gegen Ende des 17. Jahrhunderts war über die Hälfte des sehr einträglichen Walfanggeschäftes in mennonitischer Hand, und diese Familien behielten ihren Einfluss in der Industrie bis ins 18. Jahrhundert. Gemeindemitglieder spielten auch eine bedeutende Rolle in der internationalen Handelsschifffahrt: Im Jahr 1798 waren 276 Handelsschiffe auf den Namen Hamburgischer Eigentümer registriert, und 50 davon (18 %) gehörten drei mennonitischen Familienfirmen. Im 19. Jahrhundert ging diese führende Rolle mennonitischer Familien in der Schifffahrt auf der Elbe wesentlich zurück.

Natürlich brachten es nicht alle Taufgesinnte dieser Zeit zu Reichtum, und sie verdienten ihr Geld in vielen verschiedenen Berufen. Einige waren Ärzte, Bäcker, Krämer, Müller, Schmiede oder Zuckerhersteller. Andere waren in der Kleiderherstellung und im Textilgewerbe als Blaufärber, Gerber, Kattunmacher oder Posamentenmacher tätig. Schließlich waren eine erhebliche Anzahl mit dem Transport von Gütern durch Europa und weltweit beschäftigt. Viele von ihnen arbeiteten als Matrosen und sogar Schiffskapitäne. Manche Familien waren so arm, dass Mitbrüder aus der Gemeinde sie finanziell unterstützen mussten.

4. Das frühe religiöse Leben

Die Täufer führten nicht nur ökonomisches Know-How aus den Niederlanden in Hamburg und Altona ein, sondern brachten auch ihre niederländische religiöse Kultur mit, ebenso eine Vielfalt unterschiedlicher Gruppen. Dazu gehörten auch verschiedene Gruppen unter den Mennoniten. Neben anderen waren am Ufer der Elbe die sogenannten Huiskoper und die Oude Vlaminger vertreten. Beide Gruppen waren nur klein. Nach den spärlichen historischen Belegen scheinen sie sich stärker von ihren deutschen Nachbarn abgesondert zu haben als andere Täufer. Allem Anschein nach verschwanden sie vor Ende des 17. Jahrhunderts aus Altona und Hamburg. Eine bedeutende Gruppe war die so genannte Flämische Gemeinde. Der Name geht auf Unterscheidungen aus dem 16. Jahrhundert zurück, als sich Flüchtlinge aus den südniederländischen Gemeinden in Flandern mit ihren Glaubensgenossen im Norden des Landes verbanden. Im 17. Jahrhundert traf der Name weder in Holland noch auf deutschem Gebiet notwendigerweise auf die Herkunft der Gemeindemitglieder zu. In Altona hatte die Flämische Gemeinde lange Zeit ein eigenes Versammlungshaus auf der Großen Freiheit.

Zu Beginn wurde die Flämische Gemeinde von →Laienpredigern angeführt (auch Liebesprediger genannt), die neben ihrer Rolle in der Gemeinde auch Händler, Ärzte oder Handwerker waren. Nur Prediger, die ordiniert waren, konnten die Taufe vollziehen und das Abendmahl austeilen. Ordinierte Prediger wurden Älteste oder Lehrer im vollen Dienst genannt. Zusammen mit den Diakonen (und gelegentlich auch Diakoninnen), bildeten sie den Kirchenrat, der das Gemeindevermögen verwaltete und für Wohltätigkeit und Disziplin zuständig war.

Weil →Geerrit Roosen (1612–1711) so viele Quellen hinterlassen hat (Glaubensbekenntnisse, Predigten, Familien- und Gemeindegeschichten, Mitgliedschafts- und Disziplinar-Dokumente), ist er wohl der bekannteste der frühen Prediger. Unter seiner Leitung (1660–1711) erlebte die Gemeinde nicht nur Bedrohungen von außen (Angriffe von Lutheranern), sondern auch mehrere schwere innere Konflikte. So setzten sich Roosen und seine Amtsbrüder auch zur Wehr gegen Missionare der Quäker und einheimische Anhänger der Taufe durch Untertauchen – in den Augen des Kirchenrates eine gefährliche Neuerung. Roosen und seine Unterstützer lehnten die Lehre ab, dass das Untertauchen die einzig biblische Form der Taufe sei, und in den 1650er Jahren wurde die Gegenpartei im Streit aus der Gemeinde ausgeschlossen. Sie bildeten eine neue Gemeinde, die im Volksmund die Dompelaars genannt wurde, richteten eine eigene Kirche in Altona ein und erhielten 1670 das Religionsprivileg vom dänischen Königshof. Diese Gemeinde blieb klein, erlangte aber im frühen 18. Jahrhundert zeitweise Berühmtheit unter ihrem charismatischen Prediger Jacob Denner (1659–1746). Unter Denners Führung wurde die Dompelaar-Kirche in Altona zu einem Treffpunkt für Besucher verschiedener Bekenntnisse und Schichten. Kurz nach Denners Tod scheint sich die Gemeinde aufgelöst zu haben.

Ein anderer Konflikt, der Lämmerkrieg, rührte von Amsterdam her und betraf die Flämische Gemeinde in Altona. Er spaltete in den 1660er Jahren viele mennonitische Gemeinschaften in den Niederlanden und Norddeutschland. Eine Seite betrachtete Glaubensbekenntnisse als wesentliche Dokumente der eigenen →Identität, die andere bevorzugte eine freie Gemeinde, die auf spirituellem Biblizismus beruhte. Die Anhänger der Glaubensbekenntnisse waren als Sonnisten bekannt und ihre Gegner als Lammisten. Die Flämische Gemeinde unter Roosen hielt sich zu den Sonnisten.

Die Gemeinde blieb von den 1660er Jahren bis zum Anfang des 19. Jahrhunderts mit den Sonnisten im Bunde. Zwei Sonnistische Glaubensbekenntnisse – der Verbondt von Eenigheit (1664) und die Geloofsleere der Waare Mennoniten of Doopsgezinden (1766) – dienten der Gemeinde als informelle Verfassung. Zwischen der Flämischen Gemeinde in Altona und ihren Sonnistischen Verwandten in den Niederlanden fand ein regelmäßiger Austausch statt. Im Anschluss an niederländische Sonnistische Vorbilder begann die Gemeinde in Altona im 18. Jahrhundert, ihre Prediger zu entlöhnen, und gegen Ende des 18. Jahrhunderts wurde es immer üblicher, dass Prediger eine höhere akademische Bildung genossen. In der Mitte des 18. Jahrhunderts führte die Gemeinde ergänzend zu den Lehrern bzw. Lehrern im vollen Dienst die neue Stellung eines Predigers in Ausbildung ein, genannt Proponent. Im Jahr 1811 endete die Spaltung zwischen Sonnisten und Lammisten mit der Gründung der Algemene Doopsgezinde Societeit (ADS) in den Niederlanden.

Im 19. und frühen 20. Jahrhundert integrierte sich die Flämische Gemeinde immer mehr in die evangelische Ökumene vor Ort. Beispielhaft für diese Entwicklung ist die Rolle der Mennoniten im Verein für Innere Mission. Mindestens zwei Angehörige der Mennonitengemeinde, N.A. Rahusen und Pastor Berend Carl Roosen, waren Gründungsmitglieder. Roosen gründete 1860 den Ausschuss des Vereins und gehörte ihm den Rest seines Lebens an, und 1862 wurde er Redakteur der Vereinszeitschrift Der Nachbar.

5. Das frühe kulturelle Leben

In den ersten Generationen ihrer Ansiedlung in den Nachbarstädten orientierten die Mennoniten ihr kulturelles Leben an niederländischen Kreisen. Durch die aktive, erfolgreiche Teilhabe an Handel und Handwerk wuchsen jedoch die Kontakte zu Männern und Frauen anderer Religionen, Nationalitäten und Berufe. Vom 18. Jahrhundert an mehren sich die Anzeichen der mennonitischen Integration in breitere kulturelle Kreise vor Ort. So wurde etwa zum Tode des Unternehmers und langjährigen Laienpredigers Geerrit Roosen (1711) eine der Grabreden von einem Holländisch-Reformierten Prediger (Laurentius Steversloot) gehalten. In der bildenden Kunst waren Balthasar Denner (1685–1749), Sohn des Dompelaar-Predigers Jacob Denner, und Dominicus van der Smissen (1704–1760) zwei nennenswerte Figuren. Beide Männer gehörten dem täuferischen Umfeld an, pflegten aber weitergehende Beziehungen zu anderen Gesellschafts- und Kunst-Kreisen. Sie reisten für ihre Ausbildung durch ganz Europa und porträtierten führende Mitglieder der Gesellschaft. Der Maler Berend Goos (1815–1885) war der Sohn eines Mennonitenpredigers.

Es gibt nur vereinzelte Quellen zur Erziehung und zum intellektuellen Hintergrund führender Mitglieder der Flämischen Gemeinde. Darunter sind Tagebücher von zwei Angehörigen der Familie van der Smissen (Jacob Gysbert und Hinrich III), die in den 1760er Jahren Reisen durch Europa unternahmen, um Erfahrung und Kontakte für Geschäft, Kunst und Religion zu sammeln. Weitere nennenswerte Quellen sind der Auktionskatalog für die Bibliothek von Gerrit Karsdorp Junior (1729–1811), einem der langjährigsten Prediger der Flämischen Gemeinde, und die Bibliothek im heutigen Gemeindehaus, die ihren Ursprung in einer Sammlung des Predigers Hendrik Teunis de Jager (1690 -1749) hat. Diese Quellen bezeugen, dass die Mennoniten im 18. Jahrhundert von denselben intellektuellen und religiösen Strömungen der Zeit (wie →Pietismus und →Aufklärung) beeinflusst waren wie ihre Zeitgenossen. Weitere wichtige Dokumente sind Memoiren über das 19. Jahrhundert aus den Familien Beets, Goos und Roosen.

Charakteristisch für das moderne Stadtleben war die Verbreitung von sozialen, kulturellen und wissenschaftlichen →Gesellschaften und Vereinen. Führendes Beispiel dafür war die Hamburger Gesellschaft zur Beförderung der Künste und nützlichen Gewerbe (gegründet 1765), die auch Patriotische Gesellschaft genannt wurde. Mehrere Mennoniten waren unter den Gründungsmitgliedern, und weitere traten ihr später bei. In den Sitzungen der Patriotischen Gesellschaft begegneten sie Kollegen aus vielen anderen sozio-kulturellen Gruppierungen. Eine weitere kulturelle Organisation mit breiter Mitgliederbasis, der einige Mennoniten beitraten, waren im 18. Jahrhundert die Freimaurer. Der bekannteste mennonitische Freimaurer in Hamburg war Carl Cornelius Wiebe (1850–1910), der Großmeister der Loge Ferdinande Caroline zu den drei Sternen und Autor ihrer langen Hamburger Geschichte. Gleichzeitig war er Diakon bei den Mennoniten.

Michael D. Driedger

6. Der Übergang zum 20. Jahrhundert

Im Oktober 1915 gab die Gemeinde ihr Gottesdiensthaus an der Großen Freiheit in St. Pauli auf, um dem um sich greifenden „Rotlichtmilieu“ zu entgehen, und bezog ein eigens errichtetes Gemeindezentrum mit Kirche, Gemeindehaus und Pastorat an der Langenfelderstraße in Altona-Nord. Zwischen 1925 und 1926 hatte der Theologe Ethelbert Stauffer, der spätere Neutestamentler an den Universitäten Bonn und Erlangen, in der Gemeinde ausgeholfen. Otto →Schowalter, ein junger Theologe aus der Pfalz, der 1929 zum Pastor ordiniert wurde, führte die Gemeinde in die letzten Jahre der Weimarer Republik und die Zeit des Dritten Reichs. Das Gemeindeleben war zwischen den beiden Weltkriegen nicht sehr rege, Zuspruch fanden weniger die Gottesdienste als vielmehr gelegentlich einberufene Gemeindeabende im neuen Gemeindehaus. Pastor Hinrich van der Smissen (1851–1928) widmete sich vor allem der Arbeit in der Vereinigung der deutschen Mennoniten und an den Mennonitischen Blättern; und die Versuche Otto Schowalters, die Gemeinde neu zu beleben, u. a. durch seinen diakonischen Einsatz für mennonitische Flüchtlinge aus Russland im Durchgangslager auf der Veddel, wurden bald vom nationalsozialistischen Zeitgeist konterkarriert. Ihm konnte sich die Gemeinde genauso wenig wie die deutschen Mennoniten insgesamt entziehen (→Drittes Reich). Schowalter suchte zwar den Kontakt zur Bekennenden Kirche, die in Altona von Hans Asmussen repräsentiert wurde, war aber nicht in der Lage, diese Kontakte in der Gemeinde wirksam werden zu lassen. Als Schowalter an die Front eingezogen wurde, versuchte seine Frau Gertrud Schowalter die Gottesdienste mit der Organisation von Gastpredigten aufrechtzuerhalten. Ende 1945 kehrte der Pastor aus englischer Gefangenschaft zurück und nahm seine Arbeit unter veränderten Umständen wieder auf.

7. Von der Nachkriegszeit zur Gegenwart

Die Ereignisse des Zweiten Weltkrieges veränderten die Gemeinde grundlegend. Der starke Flüchtlingsstrom aus West- und Ostpreußen und anderen Gebieten im Osten brachte auch zahlreiche Mennoniten in den Norden. Die Mitgliederzahl der Gemeinde stieg von etwa 250 Personen vor dem Krieg auf zeitweise über 1000 Mitglieder nach dem Krieg (mittlerweile liegt die Mitgliederzahl bei etwa 380 getauften Personen, Stand 2015). Die Not war groß und stellte die Gemeinde vor schwierige Aufgaben. Unterstützung kam bald aus Nordamerika. Das →Mennonite Central Committee (MCC), eine Hilfsorganisation der Mennoniten in Nordamerika, schickte Hilfsgüter, die an Selbstabholer verteilt und an weiter entfernt lebende, nicht nur mennonitische Flüchtlingsfamilien geschickt wurden. Das Pastorenehepaar Otto und Gertrud Schowalter leisteten viel bei der Verteilung der „Carepakete“ und der geistlichen Betreuung der Flüchtlinge. Otto Schowalters große Herausforderung war, die Einheimischen mit den Flüchtlingen zu einer jetzt neu zusammengesetzten Gemeinde in Verbindung zu bringen.

„Paxboys“, nordamerikanische mennonitische Kriegsdienstverweigerer und Freiwillige im diakonischen Dienst (→Pax-Programm), kamen in den 1950er Jahren und halfen beim Siedlungsbau im Nachkriegsdeutschland, so auch in →Wedel, einer schleswig-holsteinischen Stadt am Rande Hamburgs. Die dort angesiedelten Mennoniten sind bis heute ein Teil der Hamburger Gemeinde.

Unterstützt durch amerikanische Glaubensgeschwister fand dort Kinder- und Jugendarbeit statt. Damit kamen neue geistige Impulse in die Gemeinde hinein, wie sie sich aus der Neubesinnung der nordamerikanischen Mennoniten auf das Erbe der Täufer mit dem Gedanken der Nachfolge Christi und dem Friedenszeugnis ergaben. Durch Kinderverschickung entstand in der Zeit auch Kontakt zu niederländischen Glaubensgeschwistern. Bis heute pflegt die Gemeinde Hamburg eine Partnerschaft mit der Doopsgezinde Gemeinde in Groningen. Unterstützt wurde Pastor Schowalter Anfang der 1960er vom cand. theol. Bodo Geddert.

Für Pastor Schowalter kam 1964 der junge Theologe Dr. Hans-Jürgen Goertz (1964) als Pastor in die Gemeinde (er hatte bereits seit 1963 als Vikar und Pfarrverweser ausgeholfen). Neben den pastoralen Verpflichtungen kümmerte er sich besonders um den Wiederaufbau der alten Bibliothek der Gemeinde und baute sowohl in Hamburg als auch international ökumenische Kontakte auf. Damit knüpfte er an die welt- und konfessionsoffene Ausrichtung der Gemeinde an und vertiefte sie, indem er mit anderen zusammen 1965 die Arbeitsgemeinschaft christlicher Kirchen in Hamburg (ACKH) gründete und als Delegierter der Vereinigung der deutschen Mennonitengemeinden an der IV. Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen 1968 in Uppsala teilnahm. Gleichzeitig bemühte er sich, die politischen und gesellschaftlichen Probleme stärker in die Diskussionen der Gemeinde einzubringen (z. B. Ostdenkschrift der Evangelischen Kirche Deutschlands, Probleme der Studenten- und Friedensbewegung, Fragen der neueren Theologie). 1969 wechselte er nach Heidelberg über, um als Wissenschaftlicher Assistent an der Universität und Leiter des ökumenischen Studentenwohnheims zu arbeiten. 1972 kehrte er nach Hamburg zurück und lehrte Sozial- und Wirtschaftsgeschichte an der Universität. Als Täuferforscher blieb er der Gemeinde erhalten.

Die Nachfolge übernahm Peter J. →Foth (1969–2002), der bereits als Vikar für die Jugendarbeit der Gemeinde und für die Gottesdienste der Gemeinde Lübeck zuständig war. Neben der regulären Gemeindearbeit intensivierte er durch Familienfreizeiten, Hauskreise und Bibelgespräche die Kontakte in der Gemeinde, vor allem aber half er den Flüchtlingen zur Aussöhnung mit ihrer „alten Heimat“, indem er regelmäßig Gruppenfahrten nach Polen anbot.

Unter seiner Anleitung ist auch das Amt des Laienpredigers wieder in die Gemeinde eingeführt worden. So wurden 1977 Gerhard Tyart und Ruth Wedel als Prediger und Predigerin eingesegnet. Mit Ruth Wedel kam die erste offiziell eingeführte Frau der deutschen Mennoniten erst ins Predigtamt und 1984 dann auch ins Ältestenamt (für die Gemeinde Kiel). Ebenfalls 1984 wurde der Norddeutsche Predigerkreis gegründet, der regelmäßig in der Hamburger Mennonitengemeinde zusammen kam. Später wurden in der Gemeinde Mechthild Schulz, Dr. Dennis Slabaugh und Jens Fieguth zu Predigern bzw. Predigerin berufen. Gottesdienste werden in Hamburg, Wedel, Stade, Sophienhof bei Kiel, aber auch in den Gemeinden Friedrichstadt an der Eider und Lübeck organisiert. Einmal im Jahr wird in der Gemeinde der überregional ausgeschriebene Menno-Simons-Predigtpreis verliehen, der von Dr. h. c. Annelie Kümpers-Greve gestiftet wurde.

Immer wieder war die Gemeinde Hamburg auch Ort für größere Veranstaltungen. So fanden hier 1994 der Gemeindetag der Arbeitsgemeinschaft Mennonitischer Gemeinden in Deutschland (AMG) mit über 600 Gästen statt und auch eine Veranstaltung zum Abschluss des Mennonitisch-Lutherischen Dialogs 1994 in der Mennonitenkirche und in der evangelisch-lutherischen Christianskirche. 2001 feierte die Gemeinde ihr 400-jähriges Bestehen mit einer Sonderausstellung im Altonaer Museum, einem Symposium in der katholischen Akademie und verschiedenen Veranstaltungen in der Mennonitenkirche. Bei dieser Gelegenheit hat der kanadische Historiker Michael D. Driedger seine Dissertation über die Geschichte der Mennonitengemeinde zu Hamburg und Altona in einer popularisierten deutschen Version veröffentlicht: Zuflucht und Koexistenz, 400 Jahre Mennoniten in Hamburg und Altona (1994). 2015 fanden die Feierlichkeiten anlässlich des 100-jährigen Bestehens der Mennonitenkirche in Hamburg-Altona statt. Eine Festschrift Hundert Jahre Mennonitenkirche dokumentiert die Zeit.

Inzwischen sind die Räumlichkeiten des Pastorats so hergerichtet worden, dass sie für zahlreiche Veranstaltungen geeignet sind, wie Kinder- und Jugendtage. Auch gibt es in Zusammenarbeit mit der →Arbeitsstelle Theologie der Friedenskirchen (ATF) an der Universität Hamburg (geleitet von Prof. Dr. Fernando Enns) regelmäßige Veranstaltungen des mennoFORUMs mit gesellschaftlichen und politischen Themen aus friedenskirchlicher Sicht.

Im Übergang von Pastor Foth zu Pastor Thiessen hat sich die Gemeinde eine neue Satzung gegeben. Wesentliche Veränderungen waren, dass nun nicht mehr der Pastor Vorsitzender der Kirchenrates ist, sondern ein gewählter Ehrenamtlicher (z. Z. Thomas Schamp) und dass auch die Dienstzeit des Pastors, wie schon die von Kirchenräten und Predigenden auf sieben Jahre begrenzt ist, mit der Möglichkeit der Wiederwahl. Pastorin Corinna Schmidt (von 1997 bis 2014) und Pastor Bernhard Thiessen (von 2002 bis 2017) haben in ihrer gemeinsamen Dienstzeit viele neue Gruppen ins Leben gerufen, die Verantwortung in der Gemeinde übernahmen. Die Gemeinde hat einen eigenen Friedhof. Zweimal jährlich gibt es dort zur Pflege einen Friedhofseinsatz von Freiwilligen.

Durch eigene Erfahrung von Hilfeleistungen nach dem Krieg hat sich der in der Gemeinde schon immer vorhandene diakonische Gedanke erhalten und vertieft. Zur Mitarbeit im Mennonitischen Hilfswerk (MH) und der IMO, die 2017 aufgelöst wurde (→Mennonitische Hilfswerke) kam die Gründung zweier privater Hilfswerke in der Gemeinde mit Projekten in Paraguay oder nach dem Balkankrieg besonders in Bosnien und Serbien. Diese Hilfswerke existieren nicht mehr.

Die Gemeinde sah es stets als ihre Verpflichtung an, überregional Verantwortung in der mennonitischen Gemeinschaft zu übernehmen, sowohl in der Vereinigung der deutschen Mennonitengemeinden (Hinrich van der Smissen, Otto Schowalter, Bernhard Thiessen und Corinna Schmidt), in der Schriftleitung der internationalen Gemeindezeitschrift Der Mennonit bzw. der Mennonitischen Blätter (Hans-Jürgen Goertz, Peter J. Foth) und der Gründung und Leitung der Arbeitsgemeinschaft Mennonitischer Gemeinden in Deutschland (Peter J. Foth) als auch im Beirat des →Mennonitischen Friedenszentrums Berlin (Gwendolyn Tilling). Auch durch das Ökumenische Forum HafenCity, bei dem zwanzig Kirchen in Hamburg zusammenarbeiten und das seit 2014 von der mennonitischen Pastorin Corinna Schmidt geleitet wird, erhält die Gemeinde neue Impulse.

Seit 2017 ist Dr. Markus Hentschel Pastor der Gemeinde. Er war zuvor Pfarrer in der Evang. Kirche von Westfalen. Seit 2020 ist auch Dr. Marius van Hoogstraten Pastor mit halber Stelle. Ihr besonderes Augenmerk gilt der Kinder- und Jugendarbeit, der Weiterentwicklung der Gottesdienstgestaltung und der Einbindung der Gemeinde in aktuelle gesellschaftliche Prozesse (Klimawandel, zivile Seenotrettung).

Bernhard Thiessen

Literatur

Berend Carl Roosen, Gerhard Roosen, Hamburg 1854. - Ders., Geschichte der Mennoniten-Gemeinde zu Hamburg und Altona, Hamburg 1886 [Teil 1], 1887 [Teil 2]. - Geschichte unseres Hauses, Privatdruck 1905. - Berend Goos, Erinnerungen aus meiner Jugend, Hamburg 1896. - Emma Dina Hertz, Die Urgroßeltern Beets, Hamburg 1899. - Robert Dollinger, Geschichte der Mennoniten in Schleswig-Holstein, Hamburg und Lübeck, Neumünster 1930. - Thomas Held, Carl Cornelius Wiebe und die Große Loge von Hamburg, in: Mennonitische Geschichtsblätter 1977, 73–84. - Ernst Schepansky, Mennoniten in Hamburg zur Zeit des Merkantilismus, in: Mennonitische Geschichtsblätter 1980, 54–73. - Hans-Dieter Loose (Hg.), Hamburg: Geschichte der Stadt und ihrer Bewohner, 2 Bde., Hamburg 1982. - Matthias H. Rauert und Annelie Kümpers-Greve, Van der Smissen. Eine mennonitische Familie vor dem Hintergrund der Geschichte Altonas und Schleswig-Holsteins. Texte und Dokumente, Hamburg 1992. - Joachim Whaley, Religiöse Toleranz und sozialer Wandel in Hamburg: 1529–1819, Hamburg 1992. - Michael Driedger, Gerrit Karsdorp (1729–1811): Mennonitenprediger und Förderer der Aufklärung in Hamburg. Die Bibliothek eines Hamburger Kaufmanns, in: Mennonitische Geschichtsblätter 1999, 35–53. - Matthias H. Rauert und Hajo Brandenburg (Hg.), 400 Jahre Mennoniten in Altona und Hamburg, Altonaer Museum in Hamburg und Norddeutsches Landesmuseum 2001. - Michael D. Driedger (mit einem Beitrag von Peter J. Foth), Zuflucht und Koexistenz. 400 Jahre Mennoniten in Hamburg und Altona, Bolanden-Weierhof 2001. - Ders., Obedient Heretics: Mennonite Identities in Lutheran Hamburg and Altona during the Confessional Age, Aldershot 2002. - Hans-Jürgen Goertz, Nonkonformisten an der Elbe: fromm, reich und ratlos. Vierhundert Jahre Mennoniten in Hamburg und Altona, in: Ders., Das schwierige Erbe der Mennoniten, Leipzig 2002, 151–166. - Peter J. Foth (Hg.), Festschrift zur 75-Jahr-Feier der Mennonitenkirche, Selbstverlag, Hamburg 1990. Bernhard Thiessen (Hg.) Hundert Jahre Mennonitenkirche 1915 – 2015, Hamburg 2015. - Hans-Jürgen Goertz, Umwege zwischen Kanzel und Katheder, Autobiographische Fragmente, Göttingen 2018, 58–85.

Michael Driedger und Bernhard Thiessen

 
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